L 9 AY 78/20 B ER

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Kiel (SHS)
Aktenzeichen
S 22 AY 14/20 ER (SG Kiel)
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AY 78/20 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Eine Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG ist bei teleologischer Auslegung nur zulässig, wenn die Rückkehr in den anderen Mitgliedsstaat der EU, der internationalen Schutz gewährt, zumutbar bzw. der Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland pflichtwidrig ist.
2. Ist eine Entscheidung im Asylverfahren noch nicht rechtskräftig, kann der leistungsberechtigten Person der Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland regelmäßig nicht mit der Folge einer Leistungskürzung vorgeworfen werden.
3. Der Verbleib im Bundesgebiet bis zur Rechtskraft der Entscheidung im Asylverfahren stellt keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung des Aufenthaltes im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG dar.
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 11. Mai 2020 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat den Antragstellern ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten. Der Antrag der Antragsteller auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung der Rechtsanwältin , , wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren über die Rechtmäßigkeit einer Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 4 Satz 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Die Antragsteller zu 1. und 2. sowie deren minderjährige Kinder, die Antragsteller zu 3. bis 7., sind afghanische Staatsangehörige. Sie reisten am 12. Februar 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurden mit Bescheid des Landesamtes für Ausländerangelegenheiten vom 9. April 2018 dem Antragsgegner zugewiesen. Auf am 26. Februar 2018 gestellten Antrag bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern mit Bescheid vom 20. April 2018 Leistungen nach dem AsylbLG.

Den Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Bescheid vom 15. März 2018 als unzulässig ab mit Hinweis darauf, dass ihnen bereits in Griechenland ein Schutzstatus zuerkannt worden war. Das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) wurde verneint. Die dagegen erhobene Klage ( A /18) wurde mit Urteil vom 16. April 2019 abgewiesen. Über die von den Antragstellern beantragte Zulassung der Berufung ( LA /19) liegt eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts noch nicht vor; einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ( B /18) wurde nach zunächst erfolgter Ablehnung stattgegeben.

Im Juni 2019 teilte die Zuwanderungsabteilung dem Antragsgegner mit, dass die Antragsteller bereits über eine Asylanerkennung in Griechenland verfügen und deshalb die Asylanträge als unzulässig abgelehnt worden seien. Nach Vortrag des Antragsgegners hörte er die Antragsteller mit Schreiben vom 26. Juni 2019 und vom 5. Februar 2020 zur beabsichtigten Kürzung der Leistungen nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG an, auf die die Antragsteller nicht reagierten.

Mit Bescheid vom 17. Februar 2020 wurde die weitere Kürzung der Leistungen nach § 1a AsylbLG ab 1. März 2020 mitgeteilt.

Hiergegen erhoben die Antragsteller am 26. Februar 2020 Widerspruch. Es bestehe Anspruch auf ungekürzte Leistungen nach § 2 AsylbLG. Ihr Aufenthalt sei nicht rechtsmissbräuchlich. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts liege ein Rechtsmissbrauch nur dann vor, wenn den Leistungsbeziehern ein pflichtwidriges Verhalten vorzuwerfen wäre, das im kausalen Zusammenhang mit dem Nichtvollzug der Aufenthaltsbeendigung stünde. Ein solches Verhalten könne ihnen – den Antragstellern – nicht vorgeworfen werden. Liege jedoch kein pflichtwidriges Verhalten vor, könne auch kein rechtsmissbräuchliches Verhalten unterstellt werden. Insbesondere in der Zeit der Corona-Pandemie komme eine Ausreise nach Griechenland nicht in Betracht, da dort ausweislich unzähliger Berichte eine Verletzung der grundlegenden Menschenrechte nicht nur möglich, sondern überwiegend wahrscheinlich sei.

Nach erfolglos gebliebenem Widerspruch haben die Antragsteller am 27. März 2020 gegen den Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2020 bei dem Sozialgericht Kiel Klage erhoben (S 22 AY 21/20).

Mit Bescheid vom 4. März 2020 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern zu 1. und 2. einmalige Hilfen für Schwangerschaftsbekleidung und Erstausstattung auf Antrag und Mitteilung einer voraussichtlichen Geburt am 25. Mai 2020.

Aufgrund der Weisungslage im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gewährt der Antragsgegner allen Antragstellern Leistungen nach § 3 AsylbLG (Bescheid vom 3. April 2020).

Dem am 20. April 2020 beim Sozialgericht Kiel gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf Analogieleistungen nach § 2 AsylbLG, hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 18. März 2020 für eine begrenzte Anordnungsdauer stattgegeben. Die unstrittig bei den Antragstellern in der Bundesrepublik Deutschland bestehende Mindestaufenthaltsdauer von 18 Monaten sei nicht rechtsmissbräuchlich von den Antragstellern beeinflusst worden. Jedenfalls stelle die zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung einer Rechtsposition, sei es durch die Antragstellung oder Einlegung eines Rechtsmittels, keine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthaltes dar. Zwar sei der Asylantrag abgelehnt worden, indessen noch nicht rechtskräftig, so dass noch nicht geklärt sei, ob die Voraussetzungen von § 1a Abs. 4 AsylbLG vorliegen. Indessen sei die Leistungsgewährung lediglich für einen relativ kurzen Zeitraum anzuordnen. Durch eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über die beantragte Zulassung der Berufung könne absehbar eine wesentliche Änderung der Rechtslage eintreten. Zudem sei bezogen auf das aufgrund der Corona-Pandemie bestehende Ausreisehindernis nicht absehbar, wie sich die Einschränkungen in nächster Zeit entwickeln.

Gegen den ihm am 13. Mai 2020 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 27. Mai 2020 Beschwerde beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht erhoben. Zur Begründung macht er im Wesentlichen geltend, hinsichtlich der Regelung des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG komme es allein auf den dort genannten Personenkreis an, nicht aber, ob der ablehnende Bescheid des BAMF bestandskräftig ist. Der Gesetzgeber habe mit dieser Regelung die Minderung von Sekundärmigration erreichen wollen. Daraus folge, dass die Antragsteller keinen Anspruch auf Gewährungen von Leistungen nach § 2 AsylbLG haben, wenn ein Aufenthaltsrecht in einem Drittstaat bestehe und auch fortbestehe. Die Dauer des Aufenthaltes in Fällen einer Sekundärmigration sei bereits durch die Einreise in das Bundesgebiet und die Stellung des Asylantrages rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Entscheidend seien insoweit die Verhältnisse bei der Einreise. Ob aktuell aufgrund der Corona-Pandemie eine Ausreise nicht möglich ist, sei unbeachtlich.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 11. Mai 2020 abzuändern und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Die Antragsteller beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Antragsteller halten die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Dem Senat haben die Leistungsakten es Antragsgegners vorgelegen. Auf diese Akten und auf die Gerichtsakte wird wegen des der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalts ergänzend Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde des Antragsgegners bleibt ohne Erfolg.

Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht erhoben worden (§ 173 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Sie ist statthaft, weil die Berufung in der Hauptsache nicht der Zulassung bedürfte (§§ 172 Abs. 3 Nr. 1, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Ausgehend von der monatlichen Differenz zwischen den gewährten monatlichen Leistungen und den begehrten Analogieleistungen bezogen auf den Zeitraum ab Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz bis 31. Juli 2020 ist die Wertgrenze von 750,00 EUR deutlich überschritten.

Die Beschwerde ist nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in tenoriertem Umfang stattgegeben. Die Vor-aussetzungen des § 86b Abs. 2 SGG, die das Sozialgericht im Einzelnen zutreffend definiert hat – der Senat nimmt darauf gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG Bezug –, liegen vor.

Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch auf Leistungen nach dem § 2 AsylbLG i.V.m. dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) glaubhaft gemacht. Sie verfügen über Aufenthaltsgestattungen und sind somit leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG.

In Ergänzung zu den zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Kiel, insbesondere zu der im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG fehlenden rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, liegen entgegen der Auffassung des Antragsgegners die Voraussetzungen für Leistungseinschränkungen nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG nicht vor.

Nach Auffassung des Senats ist § 1a AsylbLG neben § 2 Abs. 1 AsylbLG grundsätzlich anwendbar mit der Folge, dass Analogieleistungsberechtigte nach § 1a AsylbLG sanktioniert werden können. Hierfür spricht der Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG, nach dem insbesondere das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) "abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7" entsprechend Anwendung findet. Dass die Anwendung auch in Abweichung von § 1a AsylbLG erfolgen soll, kann dem Wortlaut nicht entnommen werden. Zudem deutet der Wortlaut des § 1a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG in der ab dem 1. September 2019 geltenden Fassung ebenfalls darauf hin, dass § 1a AsylbLG auch auf Analogieleistungsberechtigte Anwendung findet. Denn Abs. 1 ordnet als Rechtsfolge bei Erfüllung eines Sanktionstatbestandes an, dass kein "Anspruch auf Leistungen nach den § 2, " besteht (vgl. hierzu umfänglich Oppermann/Filges in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 2 AsylbLG Rn. 152), der aus Sicht des Senats zutreffend darauf hinweist, dass sich die Frage einer Anwendung des § 1a AsylbLG auf Analogieleistungsberechtigte nicht mehr stellt, wenn dem Betreffenden gem. § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ohnehin die Analogleistungen verwehrt werden, wenn die einen Sanktionstatbestand nach § 1a AsylbLG begründenden Umstände zugleich bedeuten, dass der Analogleistungsberechtigte die Dauer des Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat.

Nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG gilt die Leistungseinschränkung gemäß § 1a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG für alle Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 Nummern 1 und 1a AsylbLG, denen bereits von einem anderen EU-Mitgliedstaat oder von einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat im Sinne des Satzes 1 der Vorschrift entweder internationaler Schutz (Nummer 1) oder aber aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht gewährt worden ist (Nummer 2) und dieser fortbesteht. Der Zweck der Regelung besteht in der Begrenzung der Sekundärmigration insbesondere aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach Deutschland in Ergänzung zu § 1a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG, wonach eine Anspruchseinschränkung für Fälle vorgesehen ist, in denen ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.

Nach dem Wortlaut kommt es allein darauf an, dass in einem anderen EU-Mitglieds-staat oder in einem am Verteilmechanismus der Europäischen Union teilnehmenden Drittstaat, andernorts als in Deutschland, internationaler Schutz bzw. Aufenthaltsrecht gewährt worden ist und dieser Status fortdauert. Da Griechenland den Antragstellern bereits einen entsprechenden Schutzstatus gewährt, käme es nach dem Wortlaut des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG ab erfolgter Einreise für die Kürzung von Leistungen ohne weitere Bedarfsprüfung auf weitere Voraussetzungen nicht an.

Indessen fordert die Rechtsprechung für eine solche Einschränkung des Anspruchs im Wege einer normerhaltenden, teleologischen Reduktion, dass dem Leistungsberechtigten ein pflichtwidriges Verhalten vorzuwerfen ist (z.B. LSG Bayern, Beschluss v. 17. September 2018, L 8 AY 13/18 B ER, juris, Rn. 27 ff.), bzw., dass dem Betroffenen die Rückkehr in das schutzgewährende Land aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen möglich und zumutbar ist (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 19. November 2019, L 8 AY 26/19 B ER, juris Rn. 17).

Auch der Senat hält eine teleologische Reduktion des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG aus verfassungsrechtlichen Gründen für geboten. Würde eine Leistungskürzung unter Berücksichtigung des Wortlautes allein davon abhängig gemacht, dass der Leistungsberechtigte einem europäischen Asylregime unterworfen ist, ohne dass explizit an ein konkretes Fehlverhalten angeknüpft wird, widerspräche dies dem bisherigen Sanktionssystem im AsylbLG, in der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)) sowie bei der Sozialhilfe (Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII)), bei dem der Leistungsberechtigte es in der Hand hat, eine Leistungskürzung zu vermeiden oder zu beenden. So hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) bezogen auf die Verfassungswidrigkeit der Höhe der Geldleistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2, 3 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG a.F. bereits mit deutlichen Worten ausgeführt, dass migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Denn "die in Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) garantierte Menschenwürde ist migrationstechnisch nicht zu relativieren" (BVerfG, Urteil v. 18. Juli 2012, a.a.O., juris Rn. 95; so auch das BSG, Urteil v. 12. Mai 2017, B 7 AY 1/16, juris Rn. 29/32).

In diesem Zusammenhang schließt sich der Senat dem zutreffenden Hinweis des Bayerischen Landessozialgerichts (Beschluss v. 17. September 2018, L 8 AY 13/18 B ER, juris Rn. 32 m.w.H.) an, wonach Leistungen nach den §§ 3 ff. AsylbLG im Vergleich zu Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII ohnehin bereits reduziert sind, so dass jede weitere Leistungseinschränkung eine nochmalige Absenkung des Leistungsniveaus zur Folge hat und bei einer großzügigen Handhabung des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG die Gefahr einer unzulässigen Unterschreitung des von Verfassung wegen stets zu gewährleistenden menschenwürdigen Existenzminimums der Leistungsberechtigten und ihrer Familienangehörigen besteht.

Zudem bestehen erhebliche Zweifel, ob die Regelung des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG gerecht wird, wenn den von Anspruchseinschränkungen Betroffenen in § 1a Abs. 1 – 3 AsylbLG ein konkretes, selbst zu vertretendes ausländerrechtliches Fehlverhalten vorgeworfen wird und als Folge dessen eine Leistungseinschränkung greift, § 1a Abs. 4 AsylbLG ein solches aber dem Wortlaut nach nicht regelt. Und schließlich bleibt unberücksichtigt, aus welchen Gründen die Sekundärmigration erfolgt. So ist mit Blick auf die Menschenrechtskonvention eine Abschiebung in einen anderen EU-Staat ausgeschlossen, wenn z.B. für minderjährige Kinder keine Garantieerklärung abgegeben wurde (vgl. hierzu ausführlich Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1a AsylbLG Rn. 129 m.w.N.).

Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen und insbesondere der Notwendigkeit einer auf diese Weise normerhaltenden Reduktion des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG bewertet der Senat nicht bereits die Einreise der Antragsteller nach Deutschland als pflichtwidriges Fehlverhalten.

Ungeachtet der derzeitigen Ein- und Ausreisebeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie sowie des Umstands, dass auch der Antragsgegner kein konkretes Fehlverhalten der Antragsteller benennt, sondern vielmehr auf die Verhältnisse bei Einreise abstellt, führt die oben beschriebene verfassungskonforme Auslegung der Regelung in § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG jedenfalls im Hinblick auf den noch nicht abschließend geklärten aufenthaltsrechtlichen Status zu einer Nichtanwendung dieser Leistungskürzung (so im vergleichbaren Fall auch SG Hamburg, Beschluss v. 8. Juli 2019, S 28 AY 48/19 ER, juris Rn. 8).

Zwar bestimmt § 29 Abs. 1 Nr. 2 Asylgesetz (AsylG), dass ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Indessen haben die Antragsteller in zulässiger Weise den Rechtsweg beschritten, aktuell im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde, weshalb bei auch bestehender Aufenthaltsgestattung eine Abschiebung in den Staat, der bereits internationalen Schutz gewährt, faktisch nicht vorgenommen wird. Dies gilt nach Auffassung des Senats erst recht angesichts des Umstands, dass dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach zunächst erfolgter Ablehnung stattgegeben wurde und sich die Antragsteller mit einer Aufenthaltsgestattung in Deutschland erlaubt aufhalten.

In Ansehung dessen kommt es auf die weitere Frage, ob bei den Antragstellern individuelle, besondere Gründe vorliegen, die eine Zuordnung zur Gruppe der besonders verletzlichen Personen erfordern und aktuell eine Überstellung nach Griechenland als menschenrechtswidrig erscheinen lassen (vgl. EGMR, Urteil v. 4. November 2013, 29217/12 – Tarakhel./. Schweiz, juris), weil zu der Familie der Antragsteller nicht nur Kleinkinder gehören, sondern möglicherweise auch ein Neugeborenes oder in Kürze Neugeborenes, nicht entscheidend an.

Es besteht auch ein Anordnungsgrund, da ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung das Existenzminimum nicht sichergestellt erscheint; einem Leistungsberechtigten kann unter dem Aspekt der Menschenwürde (Art. 1 GG) regelmäßig nicht zugemutet werden, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, wenn - wie vorliegend - ein Anspruch auf existenzsichernde Leistungen glaubhaft dargelegt ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist nicht geboten, da den Antragstellern ohnehin die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens von dem Antragsgegner erstattet werden (Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss v. 18. Juni 2010, L 5 KR 95/10 B ER, juris Rn. 22 - 23).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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