L 7 AS 1376/20 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AS 1015/20 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AS 1376/20 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Bei der Prüfung, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II einem Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II entgegensteht, hat der Leistungsträger die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit im Rahmen eines nachwirkenden Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU selbständig zu prüfen. Er ist insoweit nicht an die Entscheidung der Agentur für Arbeit gebunden, die lediglich die in § 138 Abs. 1 SGB III genannten Voraussetzungen für das Bestehen von Arbeitslosigkeit (Beschäftigungslosigkeit, Eigenbemühungen, Verfügbarkeit) zu bestätigen hat.
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Ulm vom 16. April 2020 abgeändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 3. April 2020 bis 30. Juni 2020 in bisheriger Höhe zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragsgegners hat in der Sache überwiegend keinen Erfolg.

Mit ihrem am 3. April 2020 beim Sozialgericht Ulm (SG) angebrachten einstweiligen Rechtsschutzgesuch haben die Antragsteller eine Weitergewährung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab dem 1. April 2020 begehrt. Der Antragsgegner hatte die Leistungen mit Bewilligungsbescheid vom 4. November 2019 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 23. November 2019, 16. Januar 2020 und 12. Februar 2020 für die Zeit vom 1. November 2019 bis 30. April 2020 vorläufig festgesetzt, insbesondere für den Monat April 2020 zuletzt in Höhe von insgesamt 1.633,94 EUR. Mit Schreiben vom 25. März 2020 hatte der Antragsgegner dem Antragsteller Ziff. 1 mitgeteilt, dass die Zahlung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 331 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) vorläufig ganz eingestellt werde, weil er eine außerordentliche Kündigung wegen des Verstoßes gegen Pflichten aus seinem Arbeitsvertrag und einer bereits erfolgten Abmahnung erhalten habe, weswegen nicht davon auszugehen sei, dass ihm von der Agentur für Arbeit die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit bescheinigt werde, die jedoch Voraussetzung für die Fortwirkung des Arbeitnehmerstatus sei. Damit habe er keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 14. April 2020 hat der Antragsgegner gegenüber dem Antragsteller Ziff. 1 die Aufhebung der Entscheidungen über die Bewilligung von Leistungen (Bescheide vom 4. November 2019, 23. November 2019, 16. Januar 2020 und 12. Februar 2020) ab 1. April 2020 erklärt. Den gegen den Bescheid vom 14. April 2020 eingelegten Widerspruch hat der Antragsgegner unter Hinweis darauf, dass der Antragsteller Ziff. 1 und die Mitglieder seiner Bedarfsgemeinschaft seit dem 6. Dezember 2019 keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hätten, weil sie gemäß § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b) SGB II vom Kreis der leistungsberechtigten Personen ausgeschlossen seien, zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 2020). Dagegen haben die Antragsteller Klage zum Sozialgericht U. (S 6 AS 1866/20) erhoben. Den wegen der Anrechnung von tatsächlich nicht bezogenem Arbeitsentgelt und Kindergeld eingelegten Widerspruch gegen den Änderungsbescheid vom 16. Januar 2020 hatte der Antragsgegner bereits mit Widerspruchsbescheid vom 30. März 2020 mit der gleichen Begründung zurückgewiesen. Klage haben die Antragsteller – entgegen ihrer Mitteilung – dagegen nicht erhoben. Die am 3. April 2020 zum SG erhobene Klage S 7 AS 1021/20 richtet sich vielmehr gegen die vorläufige Zahlungseinstellung ab 1. April 2020. Das SG hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 16. April 2020 verpflichtet, den Antragstellern die bis zum 30. April 2020 bewilligten Leistungen auszuzahlen und für die Zeit vom 1. Mai 2020 bis 30. Juni 2020 vorläufig weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bewilligen. Dagegen richtet sich die vom Antragsgegner am 30. April 2020 eingelegte Beschwerde. Für die Zeit ab 1. Juli 2020 bis Dezember 2020 hat der Antragsgegner den Antragstellern mit Bescheid vom 17. Juni 2020 Leistungen vorläufig in Höhe von insgesamt 1.630,27 EUR monatlich bewilligt, nachdem der Antragsteller Ziff. 1 seit 1. Juni 2020 wieder in einem Beschäftigungsverhältnis steht.

Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist in § 86b SGG geregelt, und zwar für Anfechtungssachen in Abs. 1, für Vornahmesachen in Abs. 2. Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache ferner, soweit nicht ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Nach § 86b Abs. 3 SGG sind die Anträge nach den Absätzen 1 und 2 schon vor Klageerhebung zulässig.

Das Begehren der Antragsteller ist nach Erlass des Bescheides vom 14. April 2020, mit welchem der Antragsgegner die Aufhebung der Bescheide vom 4. November 2019, 23. November 2019, 16. Januar 2020 und 12. Februar 2020, durch die Leistungen für die Zeit bis 30. April 2020 vorläufig bewilligt worden waren, erklärt hat, allein als Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung statthaft. In Bezug auf die von den Antragstellern ab dem Monat Mai 2020 begehrte Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts war eine Regelung zuvor ohnehin noch nicht getroffen worden. Aber auch für den Monat April 2020 kam eine Sicherungsanordnung mit der Folge einer Verpflichtung des Antragsgegners zur Auszahlung der vorläufig bewilligten Leistungen – entgegen der Entscheidung des SG – nicht mehr in Betracht. Mit dem Bescheid über die Aufhebung der Leistungsbewilligung ab April 2020 hat der Antragsgegner endgültig über einen Leistungsanspruch für die Zeit ab 1. April 2020 entschieden und diesen abgelehnt. Zwar hat der Antragsgegner im Bescheid vom 14. April 2020 nicht ausdrücklich eine endgültige Ablehnung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II geregelt. Grundsätzlich muss einem, nach einer vorläufigen Bewilligung erlassenen neuen Bescheid entnommen werden können, dass eine endgültige Entscheidung getroffen werden soll, weshalb eine teilweise "Aufhebung" eines vorläufigen Bewilligungsbescheides nicht dahin verstanden werden kann, dass für den fraglichen Zeitraum nunmehr endgültig Leistungen in bestimmter Höhe bewilligt worden sind (BSG, Urteil vom 29. April 2015 – B 14 AS 31/14 R – juris Rdnr. 28). Jedoch verbleibt im Fall der vollständigen "Aufhebung" der vorläufigen Bewilligung gerade kein Bewilligungssubstrat, dessen Endgültigkeit noch geregelt werden müsste, weshalb sich die "Aufhebung" regelmäßig als abschließende Entscheidung im Sinne des § 41a Abs. 3 Satz 1 SGB II darstellt (Urteil des Senats vom 6. Dezember 2018 – L 7 AS 3870/16 – juris Rdnr. 55 zu § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1a SGB II a.F. i.V.m. § 328 Abs. 3 Satz 2 SGB III a.F.). Die vorläufigen Bewilligungsbescheide entfalten danach keine Wirkung mehr, die durch eine aufschiebende Wirkung des endgültigen Bescheides vom 14. April 2020 (wieder-)hergestellt werden könnte. Denn die Bindungswirkung eines bestandskräftig gewordenen einstweiligen Verwaltungsaktes schafft zwischen den Beteiligten Rechtssicherheit nur für den begrenzten Zeitraum bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens durch Erlass des endgültigen Verwaltungsaktes. Einstweilige Verwaltungsakte sind von vornherein auf Ersetzung durch den endgültigen Verwaltungsakt angelegt; mit seinem Erlass erledigen sie sich im Sinne von § 39 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) (BSG, Urteil vom 16. November 1995 –4 Lw 4/94 – SozR 3 1300 § 31 Nr. 10, juris Rdnr. 29; BSG, Urteil vom 5. Juli 2017 – B 14 AS 36/16 R – SozR 4-1500 § 86 Nr. 3, juris Rdnr. 15).

Der Bescheid vom 14. April 2020, mit dem Leistungen ab 1. April 2020 endgültig abgelehnt worden sind, entfaltet Wirkung und ersetzt die vorläufige Bewilligung gegenüber allen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft. Zwar war der Bescheid ausschließlich an den Antragsteller Ziff. 1 adressiert. Nach § 38 Abs. 1 SGB II wird jedoch vermutet, dass der die Leistungen beantragende Antragsteller Ziff. 1 als erwerbsfähiger Leistungsberechtigter bevollmächtigt ist, die Leistungen auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen. Diese Vermutensbevollmächtigung umfasst alle mit der Beantragung und Entgegennahme der Leistungen zusammenhängenden Verfahrenshandlungen, auch die Entgegennahme eines ablehnenden Bescheides (Schoch in Münder, SGB II, 6. Aufl. 2017, § 38 Rdnr. 14).

Der Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung ist ab Anbringung des einstweiligen Rechtsschutzgesuches am 3. April 2020 auch begründet. Die Begründetheit des Antrags hängt vom Vorliegen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund ab (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 – L 7 AS 2875/05 ER-B – FEVS 57, 72 und vom 17. August 2005 – L 7 SO 2117/05 ER-B – FEVS 57, 164). Eine einstweilige Anordnung darf nur erlassen werden, wenn beide Voraussetzungen gegeben sind. Dabei betrifft der Anordnungsanspruch die Frage der Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs, während der Anordnungsgrund nur bei Eilbedürftigkeit zu bejahen ist. Die Anordnungsvoraussetzungen, nämlich der prospektive Hauptsacheerfolg (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund), sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 a.a.O. und vom 17. August 2005 a.a.O.).

Die Anordnungsvoraussetzungen für das einstweilige Rechtsschutzgesuch sind auch im Beschwerdeverfahren gegeben. Der Antragsgegner war in der Sache zur vorläufigen Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 3. April 30. Juni 2020 verpflichtet. Denn der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht.

Nach der in dem vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung spricht sehr viel dafür, dass die Antragsteller zum Kreis der Leistungsberechtigten des § 7 SGB II gehören.

Nach 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben (§ 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II).

Der 1990 geborene Antragsteller Ziff. 1 hat das 15. Lebensjahr vollendet und die für ihn maßgebliche Altersgrenze von 67 Jahren (§ 7a SGB II) noch nicht erreicht. Er ist erwerbsfähig (§ 8 SGB II). Die Antragsteller Ziff. 2 bis 6 leben gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 3 lit. a) und Nr. 4 SGB II mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft. Auch spricht viel dafür, dass die Antragsteller hilfebedürftig sind, d.h. sie ihren Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern können und die erforderliche Hilfe nicht von anderen erhalten (§ 9 Abs. 1 SGB II). Weiterhin haben die Antragsteller auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Dies alles ist zwischen den Beteiligten nicht streitig und wird von dem Antragsgegner nicht in Abrede gestellt.

Nach summarischer Prüfung dürften die Antragsteller auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II aus dem Kreis der Leistungsberechtigten ausgeschlossen sein.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 sind von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen 1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, 2. Ausländerinnen und Ausländer, a) die kein Aufenthaltsrecht haben, b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten, und ihre Familienangehörigen, 3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 3 SGB II gilt § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen abweichend von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde. Die Frist nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde (§ 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II). Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet (§ 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II). Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt (§ 7 Abs. 1 Satz 7 SGB II).

Für die Zeit ab 1. Juni 2020 besteht ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II für den Antragsteller Ziff. 1 und die Antragsteller Ziff. 2 bis 6 als seine Familienangehörigen schon deshalb nicht, weil der Antragsteller Ziff. 1 aufgrund der ab 1. Juni 2020 wieder ausgeübten Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigt (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetzes/EU [FreizügG/EU]) ist.

Für die Zeit vom 1. April 2020 bis 31. Mai 2020 spricht einiges dafür, dass sich der Antragsteller Ziff. 1 auf ein nachwirkendes Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 3 FreizügG/EU berufen kann. Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU bleibt das durch eine Erwerbstätigkeit erworbene Aufenthaltsrecht im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU wirkt das durch eine Erwerbstätigkeit erworbene Aufenthaltsrecht im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU bei unfreiwilliger und durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung während der Dauer von sechs Monaten fort. Der Antragsteller war vom 14. Mai 2018 bis 31. Juli 2018, vom 25. April 2019 bis 31. Mai 2019 sowie zuletzt vom 1. August 2019 bis 5. Dezember 2019 bei der F. TBS Dienstleistungen versicherungspflichtig beschäftigt. Zwar kann sich der Antragsteller Ziff. 1 jedenfalls nicht auf die Fortwirkung des Aufenthaltsrechts als Arbeitnehmer wegen unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU berufen. Jedoch kommt eine Fortwirkung des Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU in Betracht.

Das Tatbestandsmerkmal des unfreiwilligen Arbeitsplatzverlustes ist dann gegeben, wenn der Arbeitnehmer die Gründe, die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt haben, nicht zu vertreten hat (Nr. 2.3.1.2 Allgemeine Ausführungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU [AVV-FreizügG/EU]). Sofern im Verhalten des Arbeitnehmers liegende Gründe zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt haben, besteht keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit (Tewocht in BeckOK AuslR, Stand 1. März 2020, FreizügG/EU § 2 Rdnr. 49).

Zwar spricht der Inhalt des Kündigungsschreibens der F. TBS D. vom 5. Dezember 2019 dafür, dass der Antragsteller Ziff. 1 die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch sein Verhalten herbeigeführt hat. In dem Kündigungsschreiben ist ausgeführt, dass das Arbeitsverhältnis außerordentlich aus wichtigem Grund gekündigt werde, wozu sich der Arbeitgeber durch gravierende Pflichtverletzungen des Antragstellers Ziff. 1 gezwungen sehe. Nachdem der Antragsteller Ziff. 1 mehrmals abgemahnt und aufgefordert worden sei, zur Arbeit zu kommen, aber trotzdem nicht erschienen sei, sehe man sich zur Kündigung gezwungen. Der Antragsteller Ziff. 1 hat dagegen jedoch vorgetragen, dass er ständig entgegen der Vereinbarung mit dem Arbeitgeber nicht im Raum S., sondern ständig auf Montagetätigkeit eingeteilt worden sei, wobei er teilweise Lohn für 2 oder max. 5 Stunden erhalten habe, allerdings oft 2 Tage weg gewesen sei. Er habe trotz alledem seine sämtlichen Arbeitsstunden im Oktober und November geleistet und hierfür auch sein übliches Entgelt erhalten. Darüber hinaus hat er geltend gemacht, dass schon zuvor ein Arbeitsverhältnis mit Zustimmung und Einverständnis des Antragsgegners beendet worden sei, damit der Antragsteller Ziff. 1 einen Integrationskurs durchführen könne, wie in einer Eingliederungsvereinbarung vorgesehen war. Schließlich spricht der Umstand, dass die F. TBS D: den Antragsteller Ziff. 1 ab 1. Juni 2020 wieder eingestellt hat, gegen das Vorliegen schwerwiegender, eine fristlose Kündigung rechtfertigende Verstöße des Antragstellers Ziff. 1 gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten. Die Klärung, ob der Antragsteller Ziff. 1 hiernach letztendlich den Eintritt der Arbeitslosigkeit zu vertreten hat, kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht erfolgen und muss der Hauptsache vorbehalten bleiben.

Dem Bestehen eines fortwirkenden Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU steht jedenfalls nicht bereits entgegen, dass die Bundesagentur für Arbeit mit Schreiben vom 25. März 2020 mitgeteilt hat, dass eine unfreiwillige Arbeitslosigkeit im Sinne der Vorschrift nicht bestätigt werden könne. Zwar wird in der Literatur vertreten, dass die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit von der Agentur für Arbeit zu bestätigen sei (so Brinkmann in Huber, AufenthG, 2. Aufl. 2016, FreizügG/EU § 2 Rdnr. 48; Tewocht a.a.O., Rdnr. 51). Auch nach den Ausführungen des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 13. Juli 2017 – B 4 AS 17/16 R – SozR 4-4200 § 7 Nr. 54, juris Rdnr. 34) soll die Bestätigung über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit Voraussetzung für das Fortbestehen des Freizügigkeitsrechts im Sinne einer konstitutiven Bedingung sein. Dieser Auslegung der Vorschrift steht jedoch schon deren ausdrücklicher Wortlaut entgegen, wonach eine unfreiwillige, durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit erforderlich ist, sich die Bestätigung demnach ausschließlich auf die Arbeitslosigkeit und nicht auf deren Unfreiwilligkeit zu beziehen hat. Auch die (AVV FreizügG/EU, auf die in der Literatur (auf die auch das BSG verweist) regelmäßig Bezug genommen wird, spricht dafür, dass lediglich die Arbeitslosigkeit und nicht die Unfreiwilligkeit im Sinne der oben dargestellten Definition von der Agentur für Arbeit zu bestätigen ist. Nach Artikel 1 Ziff. 2.3.1.2 AVV FreizügG/EU soll zwar die Bestätigung der Agentur für Arbeit über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit Voraussetzung für das Fortbestehen des Freizügigkeitsrechts sein. Allerdings heißt es dort weiter, dass die Bestätigung erfolge, "wenn der Arbeitnehmer sich arbeitslos meldet, den Vermittlungsbemühungen der zuständigen Arbeitsagentur zur Verfügung steht und sich selbst bemüht, seine Arbeitslosigkeit zu beenden (§ 138 SGB III)". Danach betrifft die Bestätigung wiederum ausschließlich die für das Bestehen von Arbeitslosigkeit in § 138 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) genannten Voraussetzungen (Beschäftigungslosigkeit, Eigenbemühungen, Verfügbarkeit). Das Bestehen von Arbeitslosigkeit einschließlich der Bereitschaft zur Beendigung der Arbeitslosigkeit wurde von der Bundesagentur für Arbeit unter dem 25. März 2020 gerade bestätigt. Es ist auch nicht ersichtlich, auf welcher Grundlage durch die Bundesagentur für Arbeit ein eigenes Verschulden bezüglich des Eintritts der Arbeitslosigkeit bescheinigt hat. Die Annahme einer Tatbestandswirkung der Bestätigung, ohne eine Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Bescheinigung der Agentur für Arbeit wäre mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar. Vielmehr dürfte davon auszugehen sein, dass – jedenfalls solange keine Entscheidung der Ausländerbehörde ergangen ist – im Zusammenhang mit der Prüfung eines Anspruchs auf Leistungen nach dem SGB II der Leistungsträger zur Prüfung der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit im Sinne des unfreiwilligen Arbeitsplatzverlustes im Rahmen des Leistungsanspruchs verpflichtet und diese Entscheidung gerichtlich überprüfbar ist (vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2. Februar 2018 – L 7 AS 2309/17 B – juris Rdnr. 20).

Das SG hat zutreffend einen Anordnungsgrund bejaht, weil die Antragsteller lediglich über Kindergeld und somit über keine ausreichenden finanziellen Mittel, um ihren notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des Existenzminimums zu sichern, verfügten. Für die Zeit vor der Anbringung des einstweiligen Rechtsschutzgesuches beim SG ist allerdings ein Anordnungsgrund nicht gegeben. Durch eine einstweilige Anordnung sollen nur diejenigen Mittel zur Verfügung gestellt werden, die zur Behebung einer aktuellen, d.h. gegenwärtig noch bestehenden Notlage erforderlich sind. Für die Gewährung von Leistungen für die Vergangenheit besteht demgegenüber regelmäßig kein Anordnungsgrund (Beschluss des Senats vom 30. Juli 2019 – L 7 SO 2356/19 ER-B – juris Rdnr. 11 m.w.N.). Einen ausnahmsweise wegen eines Nachholbedarfs bestehenden Anordnungsgrund haben die Antragsteller nicht geltend bzw. nicht glaubhaft gemacht.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 und 4 SGG. Angesichts der Geringfügigkeit des Unterliegens der Antragsteller erachtet der Senat eine Tragung deren außergerichtlicher Kosten durch den Antragsgegner in vollem Umfang für angemessen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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