L 4 AS 709/15

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 27 AS 2872/13
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 AS 709/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger und Berufungsführer (im Weiteren: Kläger) wendet sich im Berufungsverfahren gegen zwei vom Beklagten und Berufungsgegner (Beklagter) verhängte Sanktionen; zum einen geht es um eine Minderung um 10 % der Regelleistung im Zeitraum von Dezember 2013 bis Februar 2014 wegen unentschuldigtem Nichterscheinen zum Meldetermin und zum anderen um eine Kürzung der Regelleistung um 60 % wegen der wiederholten Verletzung von Pflichten aus einer Eingliederungsvereinbarung mittels Verwaltungsakt (EGVA) für denselben Zeitraum.

Der 1971 in W. geborene ledige Kläger ist vom Beruf Werkzeugmacher (sowie Vorrichter, Schweißer und CNF-Fachkraft). Er bezog ab Januar 2005 SGB II-Leistungen in Höhe der Regelleistung zuzüglich der tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH). Zwischen 2007 und 2011 stand der Kläger mehrfach in Beschäftigungsverhältnissen (als Maschinenführer, Arbeiter und Betriebshandwerker). Nach einer erneuten Arbeitsaufnahme im Juli 2011 erkrankte er länger, bezog Krankengeld und absolvierte im Januar 2012 eine Reha-Maßnahme des Rentenversicherungsträgers. Seit Juni 2007 schloss der Beklagte regelmäßig mit dem Kläger Eingliederungsvereinbarungen ab. Erstmalig im März 2010 kam eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande, weil der Kläger sich weigerte, den vom Beklagten vorgeschlagenen Vertragsentwurf zu unterschreiben. Daraufhin erließ der Beklagte am 12. April 2010 eine EGVA. Eine weitere EGVA folgte ab Juli 2012, abgelöst durch eine EGVA vom 6. November 2012.

Im Februar 2013 teilte der Kläger dem Beklagten mit, seine Anschrift habe sich "laut Namensänderung und Identitätsänderung" wie folgt geändert: U. R., FH zu ..., L. Straße ..., ... Z., bzw. abgekürzt "FH z ...". Seither schickte er Briefsendungen des Beklagten mit Angabe der bisherigen Personalien im Adressfenster, die er als unzutreffend adressiert ansah, an diesen zurück, indem der die Briefumschläge mit der handschriftlichen Aufschrift "Adresse unbekannt" und "neue Adresse: U. R. FH. z ..., Freistaat ..., ... Z. L. Straße ..." versah und in Briefkästen der Post einwarf. In der Jahresmeldebescheinigung zur Sozialversicherung ersetzte der Kläger die vorgedruckte Staatsangehörigkeit Bundesrepublik Deutschland durch "Freistaat ..." und fügte handschriftlich im unteren Seitenbereich ein: "seit 14.11.2012 verfassungsgemäß Freibürger oder auch FH z ..., einen Staat "Bundesrepublik Deutschland" gibt es nicht, da es an einer Verfassung mangelt!! – BRD GmbH + GG".

Bei einer Vorsprache des Klägers am 8. Juli 2013, bei der eine Eingliederungsvereinbarung nicht abgeschlossen werden konnte, erließ der Beklagte einen Bescheid über die Festlegung der Eingliederungsaktivitäten gemäß § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II (Streitgegenstand im Verfahren L ...), der vom 8. Juli 2013 bis zum 7. Januar 2014 gelten sollte und den Kläger u.a. verpflichtete, mindestens zu einem Arbeitgeber monatlich Kontakt aufzunehmen, bzw. sich zu bewerben. Am 8. Juli 2013 händigte der Beklagte dem Kläger zudem eine Einladung zum Meldetermin am 2. Oktober 2013 mit Rechtsfolgenbelehrung aus. Den Termin nahm der Kläger nicht wahr.

Mit Bescheid vom 17. Juli 2013 senkte der Beklagte das Arbeitslosengeld II gemäß § 31a SGB II für die Monate August bis Oktober 2013 um 30 % des Regelbedarfs ab, da der Kläger seiner Verpflichtung aus der EGVA vom 6. November 2012, sich mindestens einmal monatlich zu bewerben, nicht nachgekommen sei (erster Pflichtverstoß gemäß § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II).

Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 2013, der am Folgetag zur Post gegeben wurde, wies der Beklagte den Widerspruch gegen die EGVA vom 8. Juli 2013 zurück. Die Briefsendung ging mit den bekannten Vermerken des Klägers am 5. August 2013 wieder beim Beklagten ein.

Am 6. September 2013 sprach der Kläger beim Beklagten vor und stellte einen Weiterbewilligungsantrag. Daraufhin bewilligte der Beklagte für die Zeit von September 2013 bis Februar 2014 monatliche Leistungen in Höhe von 650,11 EUR (Regelbedarf 382,00 EUR, Mehrbedarf Warmwasserbereitung 8,79 EUR, KdUH 259,32 EUR) und händigte den Bescheid dem Kläger sofort aus.

Der Folgeeinladung zum 6. November 2013, die zum Zweck der Anhörung erfolgte, kam der Kläger nach. Er gab an, er habe den Meldetermin vom 2. Oktober 2013 vergessen bzw. verwechselt. Dies erkannte der Beklagte nicht als wichtigen Grund an und senkte mit – hier streitigem – Bescheid vom 6. November 2013, den er mit Postzustellungsurkunde am selben Tag versandte, die Leistungen für die Monate Dezember 2013 bis Februar 2014 um 10 % des Regelbedarfs (38,20 EUR für Dezember 2013 und 39,10 EUR für Januar und Februar 2014) ab. Der Kläger habe den Meldetermin ohne wichtigen Grund nicht wahrgenommen. Zudem händigte der Beklagte dem Kläger den Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 2013 (wg. der EGVA vom 8. Juli 2013) aus.

Gegen den Minderungsbescheid vom 6. November 2013 legte der Kläger am 25. November 2013 Widerspruch ein und führte aus, dass er Sanktionen nicht anerkenne. Bereits im Urteil vom 9. Februar 2010 habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ausgeführt, dass Sanktionen verfassungswidrig seien.

Mit einem weiteren Anhörungsschreiben vom 6. November 2013, das dem Kläger am selben Tag ausgehändigt wurde, hörte der Beklagte ihn zu einer beabsichtigten Minderung der Regelleistung um 60 % wegen einer wiederholten Pflichtverletzung an. Ein Sanktionsbescheid über 30 % sei bereits am 18. Juli 2013 ergangen. Der Kläger habe sich geweigert, die in der EGVA festgelegten Pflichten zu erfüllen, insbesondere im ausreichenden Umfang Eigenbemühungen um Beschäftigungsverhältnisse nachzuweisen.

Dazu führte der Kläger unter dem 7. November 2013 aus, er habe seine Auffassung, dass Eingliederungsvereinbarungen rechtswidrig seien, bereits mehrfach mitgeteilt. Er akzeptiere keine Sanktionen und werde einbehaltene Beträge von handelnden Mitarbeitern privat zurückfordern. Eine EGVA sei ein einseitiger Zwangsvertrag.

Mit – ebenfalls streitigem – Bescheid vom 18. November 2013 senkte der Beklagte die Leistungen des Klägers um 60 % in der Zeit von Dezember 2013 bis Februar 2014 des Regelbedarfs ab (§ 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II). Es gehe um einen monatlichen Betrag von 234,60 EUR. Der Kläger habe die mit der EGVA geforderten Bewerbungen nicht belegt und auch im Anhörungsverfahren keine Nachweise nachgereicht. Die dazu vorgetragenen Gründe seien nicht als wichtig anzuerkennen.

Am 19. November 2013 legte der Kläger Widerspruch auch gegen diesen Sanktionsbescheid ein und forderte den Beklagten auf, die einbehaltenen Leistungen sowie eine Bearbeitungsgebühr von 30 EUR umgehend auszuzahlen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29. November 2013 wies der Beklagte den Widerspruch gegen die Minderung aufgrund des Meldeversäumnisses (10%) zurück. Die Voraussetzungen von § 32 SGB II lägen vor. Der vom Kläger genannte Grund der Verwechslung des Meldetermins sei kein wichtiger Grund für das Fernbleiben.

Mit weiterem Widerspruchsbescheid vom 29. November 2013 wies der Beklagte auch den Widerspruch gegen die Minderung wegen wiederholter Pflichtverletzung (60 %) zurück. Mit der EGVA sei der Kläger verpflichtet worden, monatlich eine Bewerbung zu fertigen. Er habe keine Eigenbemühungen nachgewiesen. Die ihm auferlegte Pflicht zu den Bewerbungsaktivitäten sei zumutbar. Es handele sich um eine wiederholte Pflichtverletzung, da ein gleichartiger Verstoß bereits im Zeitraum von August bis Oktober 2013 zu einer Minderung (30 %) geführt habe. Der Beginn des vorangegangenen Minderungszeitraums liege weniger als ein Jahr zurück.

Am 2. Dezember 2013 hat der Kläger bei der Rechtsantragstelle des SG vorgesprochen und zwei Klagen erhoben: Im hier streitigen Klageverfahren S 27 AS 2872/13 (jetzt: L 4 AS 709/15) ist der Antrag aufgenommen worden, den Bescheid des Beklagten vom 6. November 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 29. November 2013, der sich auf das Meldeversäumnis bezieht, aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm SGB II-Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren und "die Sanktionen für den Zeitraum 12/2013 bis 02/2014 aufzuheben." Der Klage hat er beide Widerspruchsbescheide vom 29. November 2013 wegen der Minderungen um 10 % und um 60 % beigefügt. (Die zweite Klage vom 2. Dezember 2013 hat die EGVA vom 8. Juli 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 18. Juli 2013 betroffen – S ..., jetzt L ...). Zur Begründung hat der Kläger ausgeführt, die Sanktionen seien nicht gerechtfertigt. Die Sanktionen würden damit begründet, dass er der Eingliedervereinbarung nicht nachgekommen sei, was widersinnig sei, da er jeweils die EGVA mit Widerspruch angegriffen habe.

Gegen den Minderungsbescheid vom 18. November 2013 (60 %) legte der Kläger am 13. Januar 2014 abermals Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 2014 als unzulässig – da nicht fristgerecht eingelegt – verwarf. Dagegen erhob der Kläger am 22. Januar 2014 beim SG eine weitere Klage, die unter dem Aktenzeichen S ... (dann L ...) geführt wurde.

Im hier gegenständlichen Klageverfahren hat der Beklagte erklärt, streitig sei (allein) der Bescheid vom 6. November 2013 wegen des Meldeversäumnisses vom 6. Oktober 2013 (10 %).

Nach einer Ladung von fünf anhängigen Klagen des Klägers zum Erörterungstermin des SG am 12. August 2015 hat der Kläger mit am 7. August 2015 beim SG eingegangenen Schreiben eine "Namens-Änderung und Adress-Änderung" angezeigt. Er sei nur noch unter seiner neuen Adresse mit der anerkannten Namensänderung erreichbar. Die Personalien (U. R. FH zu ..., c/o FH zu ..., L. Straße ..., Z./ ..., ...) würden seit dem 16. Juli 2015 gelten. Im Termin hat er bemängelt, die Ladung sei nicht ordnungsgemäß erfolgt. Er hat einen am 16. Juli 2015 ausgestellten und ein Jahr gültigen vorläufigen Reisepass der Stadt Z. vorgelegt – mit dem Eintrag des Ordens- oder Künstlernamens "FH zu ...". Weiter hat er eine Meldebestätigung vom 16. Juli 2015 vorgelegt, in der ebenfalls als Künstlername "FH zu ..." vermerkt ist. Daraufhin hat das SG den Erörterungstermin geschlossen und Termin zur mündlichen Verhandlung am 23. September 2015 bestimmt.

In der mündlichen Verhandlung hat das SG darauf hingewiesen, streitgegenständlich sei im Rechtstreit (nur) die Kürzung der Regelleistung um 10 % im Zeitraum von Dezember 2013 bis Februar 2014 wegen des Meldeversäumnisses. Die Sanktion mit der Minderung um 60 % sei Gegenstand des Verfahrens S ...

Mit Urteil vom 23. September 2015 hat das SG die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Minderung um 10 % des maßgeblichen Regelbedarfs sei zu Recht erfolgt, denn der Kläger habe den Termin am 2. Oktober 2013, zu dem er ordnungsgemäß geladen gewesen sei, nicht wahrgenommen. Einen wichtigen Grund für dieses Verhalten habe er nicht nachgewiesen. Die Verwechslung des Termins stelle keinen wichtigen Grund dar.

Gegen das Urteil hat der Kläger am 20. Oktober 2015 Berufung eingelegt. Zu einem ebenfalls formulierten Antrag auf Zulassung der Sprungrevision hat die Vorsitzende des SG ausgeführt, dies sei nur möglich, wenn die Zustimmung des Beklagten beigefügt wäre (§ 161 Abs. 1 Satz 3 SGG). Da das nicht der Fall sei, würden die Schreiben des Klägers als Berufungen gewertet und an das LSG weitergeleitet. Dagegen hat der Kläger keine Einwände erhoben.

Zur Begründung der Berufung hat der Kläger geltend gemacht, die Sanktionsvorschriften des SGB II seien verfassungswidrig. Er strebe an, dies vom BVerfG klären zu lassen. Der Beklagte erkenne seine Namensänderung nicht an und adressiere die Post weiterhin fehlerhaft. Durch die Sanktionen werde in sein Existenzminimum rechtswidrig eingegriffen und seine Existenz gefährdet. Dies sei eine schleichende Vernichtung, gegen die er sich berechtigt verteidige. Eingliederungsvereinbarungen seien Sklavenverträge, die er nicht anerkenne. Als freier Mensch benötige er keine Befehle des Beklagten, da er selber wisse, was er wolle. Die inhaltliche Ausgestaltung einer EGVA erfolge durch den Beklagten willkürlich. Seine Mitarbeiter herrschten mit einem Belohnungs- und Bestrafungssystem, das er nicht akzeptiere.

Im März 2016 hat die Berichterstatterin darauf hingewiesen, dass eine Absenkung des Regelbedarfs um 10 % keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegne, sodass eine Vorlage an das BVerfG nicht in Betracht komme. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 9. November 2010, Az.: B 4 AS 27/10 R, juris RN 34) seien Sanktionen mit Minderungen um 30 % des Regelbedarfs nicht zu beanstanden.

Dazu hat der Kläger im Mai 2016 ausgeführt, Sanktionen könnten nicht verfassungsgemäß sein, da es nur ein Grundgesetz gebe, aber keine Verfassung. Die Sanktionierungen – auch die zehnprozentigen – seien "schadvoll" und menschenunwürdig. Sie zeugten von Machtmissbrauch. Richterliche Entscheidungen ergingen im Namen des Volkes, ohne dass dieses gefragt werde. Das sei der Betrug der Richter am Volk.

Im Erörterungstermin am 27. Februar 2020 hat die Berichterstatterin darauf hingewiesen, dass im Verfahren L 4 AS 709/15 zwei Klagen streitgegenständlich seien, von denen das SG nur diejenige gegen die 10%-Sanktion aufgrund des Meldeversäumnisses im Urteil beschieden habe. Aus der Vorlage beider Widerspruchsbescheide bei Klageerhebung und der Formulierung des beabsichtigten Antrags ergebe sich, dass der Kläger auch gegen die 60 %-Sanktion habe vorgehen wollen. Der Beklagte hat dem zugestimmt und angekündigt, diesen Sanktionsbescheid aufzuheben und den Minderungsbetrag (insgesamt 698,40 EUR) an den Kläger auszuzahlen. Dazu hat der Kläger erklärt, damit sei er nicht einverstanden, da dies bedeute, dass das Verfahren ohne Urteil abgeschlossen werde. Er bestehe auf eine gerichtliche Entscheidung.

Mit Schreiben vom 9. März 2020 hat die Berichterstatterin ergänzend darauf verwiesen, der Senat sei nicht gehindert, im Berufungsverfahren über beide Sanktionen zu entscheiden, da das SG bewusst, aber verfahrensfehlerhaft über einen Teil des Prozessstoffs (60 %-Sanktion) nicht entschieden habe. Daher habe der Kläger die Möglichkeit, die fehlerhafte Auslegung seines Begehrens (§ 123 SGG) im Berufungsverfahren zur Überprüfung zu stellen. Es handle sich nicht um einen sog. Prozessrest, den das SG übersehen habe. Das SG habe rechtlich fehlerhaft die Klage gegen die 60 %-Sanktion allein im Verfahren S ... (dann L ...) behandelt. Die vermeintliche Unvollständigkeit des Urteils des SG beruhe auf der konsequenten Umsetzung dieser Auffassung.

Mit Bescheid vom 31. März 2020 hat der Beklagte den Sanktionsbescheid vom 18. November 2013 mit der Minderung um 60 % wegen der Verletzung der Pflichten aus der EGVA vom 8. Juli 2013 gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) aufgehoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, infolge der Rücknahme der dem Sanktionsbescheid zugrundeliegenden EGVA sei die Rechtsgrundlage für die Sanktionierung entfallen. Er sei bereit, die sanktionierten Beträge auszuzahlen.

Dazu hat der Kläger mit Schriftsatz vom 10. Mai 2020 erklärt, für ihn sei das Verfahren nicht erledigt, er werde das Geld nicht annehmen, nehme die Klagen nicht zurück und bestehe auf Urteilen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 23. September 2015 sowie den Bescheid des Beklagten vom 6. November 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. November 2013 aufzuheben sowie festzustellen, dass der Bescheid vom 18. November 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. November 2013 (Minderung 60 %) rechtswidrig gewesen ist.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hat ausgeführt, er sehe keinen Grund für eine Aufhebung des Bescheids mit der Minderung um 10 %, denn diese sei rechtmäßig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten des Beklagten ergänzend Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 SGG). Der Senat ist an die Zulassung der Berufung durch das SG gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).

Streitgegenständlich sind im Wege der Klagehäufung zwei Anfechtungsklagen gegen Sanktionsbescheide des Beklagten gewesen: Zum einen ging es um eine Minderung um 10 % des Regelbedarfs wegen des Meldeverstoßes (Bescheid vom 6. November 2013 und Widerspruchsbescheid vom 29. November 2013). Zum anderen war eine Absenkung des Regelbedarfs um 60 % wegen des wiederholten Pflichtverstoßes gegen Pflichten aus der EGVA angegriffen (Bescheid vom 18. November 2013 und Widerspruchsbescheid vom 29. November 2013). Dies ergibt sich bei verständiger Würdigung der von der Rechtsantragstelle des SG aufgenommenen Angaben des Klägers bei Klageerhebung am 2. Dezember 2013. Zwar ist im Antrag zu 1 nur der Bescheid des Beklagten vom 6. November 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheids ausgeführt (Meldeverstoß). Gleichzeitig enthält jedoch der Klageantrag zu 2 einen Leistungsantrag, mit dem der Kläger begehrt, dass "die Sanktionen" für den Zeitraum von Dezember 2013 bis Februar 2014 aufgehoben werden. Für diesen Zeitraum gab es die genannten zwei Sanktionen mit Minderungen von 60 % und 10% des Regelbedarfs. Zudem hat der Kläger bei der Klageerhebung beide Widerspruchsbescheide des Beklagten vom 29. November 2013 zu den Sanktionsbescheiden vorgelegt und der Klageschrift beifügen lassen. Die fehlende Bezeichnung des zweiten Sanktionsbescheids im Anfechtungsantrag dürfte auf einem Versehen beruhen. Nur die Auslegung, dass die Klage gegen beide Sanktionsbescheide gerichtet war, entspricht – unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes – seinem Rechtsschutzinteresse (§ 123 SGG). Dies hat auch das SG erkannt, wie sich aus der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 23. September 2015 zum Verfahren S ... (dann: L ...) ergibt, die den Hinweis der Vorsitzenden auf die Vorlage des Widerspruchsbescheids zur Sanktionsentscheidung (60 %) bereits bei der Klageerhebung am 2. Dezember 2013 enthält. Das SG hat daraus geschlossen, dass der Widerspruch des Klägers gegen diesen Sanktionsbescheid nicht verfristet gewesen sei und auf die (zweite) Klage in der Sache zu entscheiden sei. Konsequent hat es über diesen Bescheid umfassend im Verfahren S ... entschieden.

Damit hat das SG bewusst, aber rechtsfehlerhaft über einen Teil der seit 2. Dezember 2013 rechtshängigen Klage nicht entschieden mit der Folge, dass es dem Kläger möglich ist, den gesamten Prozessstoff des Klageverfahrens im Berufungsverfahren überprüfen zu lassen. Daher ist es dem Senat nicht verwehrt, im Berufungsverfahren über beide Sanktionsbescheide zu entscheiden. Denn es handelt sich nicht um einen Anwendungsfall von § 140 SGG, der eingreift, wenn das Gericht über den Rechtsstreit im vollen Umfang entscheiden wollte, versehentlich aber nicht erschöpfend entschieden hat (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 140 RN 2c; ebenso: Schreiber in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 143 RN 20; Willersinn, NZS 2019,481 [484]). Das Übergehen eines Teils des Streitgegenstands in Form der bewussten Nichtentscheidung (über die 60 %-Sanktion) führt dazu, dass der Rechtsstreit im vollen Umfang in der Rechtsmittelinstanz anfällt. Es ist kein Teil des Streitgegenstands in der Vorinstanz verblieben; für ein sog. Heraufholen von Prozesresten besteht keine Veranlassung.

Aufgrund der Rücknahme des angegriffenen Sanktionsbescheids vom 18. November 2013 (60 %) durch den Beklagten mit dem Bescheid vom 31. März 2020 hat sich jedoch im Verlauf des Berufungsverfahrens das vom Kläger zulässigerweise im Weg der Anfechtungsklage verfolgte Rechtsschutzziel der Aufhebung dieses Sanktionsbescheids erledigt im Sinne von § 39 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Aufgrund des Wegfalls dieses Bescheids besteht kein Rechtsschutzbedürfnis mehr für eine Fortführung der Anfechtungsklage. Das vom Kläger bekundete Begehren, den Prozess mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Bescheids feststellen zu lassen, wäre nur im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage möglich. Diese ist jedoch unzulässig, da der Kläger kein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Sanktionsbescheids hat.

Gemäß § 131 Abs. 1 Satz 3 SGG kann mit der Klage die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines zurückgenommenen oder auf andere Weise erledigten Verwaltungsakts begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat. Ein solches Fortsetzungsfeststellungsinteresse kann unter dem Gesichtspunkt der Präjudizialität und der Wiederholungsgefahr bestehen. Vorgreiflichkeit kommt hier nicht in Betracht. Auch eine Wiederholungsgefahr besteht nicht. Letztere ist anzunehmen, wenn die hinreichend bestimmte (konkrete) Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung ergeht.

Nach der Entscheidung des BVerfG vom 5. November 2019 (Az.: 1 BvL7/16, juris) ist auszuschließen, das erneut gegen den Kläger ein Sanktionsbescheid mit einer Minderung des maßgeblichen Regelbedarfs um 60 % erlassen werden könnte. Denn das BVerfG hat die im Fall einer ersten wiederholten Verletzung einer Mitwirkungspflicht nach § 31 Abs. 1 SGB II vorgegebene Minderung mit einer Höhe von 60 % (§ 31 Abs. 1 Satz 3 SGB II) in der derzeitigen Ausgestaltung für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt (Orientierungssatz 3.d.bb und RN 189ff.) und dem Gesetzgeber aufgegeben, neu zu regeln, ob und wie (zukünftig) Pflichtverletzungen nach § 31 Abs. 1 SGB II sanktioniert werden (Orientierungssatz 4). Eine Minderung der Leistungen des maßgebenden Regelbedarfs um 30 % hat das Bundesverfassungsgericht der Höhe nach verfassungsrechtlich nicht beanstandet (Orientierungssatz 3.d). Damit dürfen die Regelungen des §§ 31 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II soweit die Minderung wegen einer ersten wiederholten und einer weiteren wiederholten Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt, nicht mehr angewendet werden. Dem Beklagten als zuständigem SGB II-Leistungsträger ist es daher versagt, Sanktionen zu verhängen, die über 30 %ige Minderungen hinausgehen. Eine Wiederholungsgefahr besteht daher nicht.

Auch ein Rehabilitationsinteresse besteht im Ergebnis nicht. Ein Feststellungsinteresse zur Rehabilitierung wird angenommen, wenn z.B. der Betroffene durch die Begründung des Verwaltungsakts oder die Umstände seines Zustandekommens in seinen Grundrechten, insbesondere in seiner Menschenwürde oder seinen Persönlichkeitsrechten, beeinträchtigt wird. Erforderlich ist eine Stigmatisierung des Betroffenen, die geeignet ist, dessen Ansehen in der Öffentlichkeit oder im sozialen Umfeld herabzusetzen, was den konkreten personenbezogenen Vorwurf eines schuldhaften – kriminellen – Verhaltens erfordert (vgl. Keller, a.a.O., § 131 RN 10a). Dabei ist zu beachten, dass im Einzelfall ein Rehabilitierungsinteresse durch das ausdrückliche oder unmissverständliche Anerkenntnis der Rechtswidrigkeit und durch die Rückabwicklung kritisierender Folgeentscheidungen beseitigt worden sein kann.

Letzteres ist hier der Fall, denn der Beklagte hat mit der Rücknahme des Sanktionsbescheids über 60 % wegen Verletzung der Pflichten aus der EGVA zu erkennen gegeben, dass diese rechtswidrig war, und er hat angekündigt, die von der Sanktion betroffenen Leistungsbeträge nachzuzahlen. Zudem kann eine stigmatisierende Wirkung des ursprünglich angefochtenen Sanktionsbescheids nicht festgestellt werden, da dieser im Sozialrechtsverhältnis der Beteiligten ergangene Bescheid – soweit ersichtlich – keine Öffentlichkeitswirkung hatte. Der Kläger hat eine solche oder eine Herabsetzung durch Dritte im sozialen Umfeld, die über seine eigene Ansicht und Betroffenheit hinausgeht, nicht vorgetragen.

Da ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse des Klägers nicht besteht, hat die Berufung daher – in Ansehung des früheren Sanktionsbescheids mit der Minderung um 60 % keinen Erfolg.

Die Berufung ist zudem unbegründet, soweit sich der Kläger gegen die Minderung um 10 % des maßgeblichen Regelbedarfs wegen eines Meldeverstoßes mit Bescheid vom 06. November 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 29. November 2013 wendet. Denn dieser Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Statthaft ist insoweit die Anfechtungsklage auf Aufhebung der Sanktion nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 2016, Az.: B 14 AS 30/15 R, juris RN 10).

Rechtsgrundlage für den Erlass dieses Minderungsbescheids über 10 % ist § 32 SGB II. Danach mindern sich die SGB II-Leistungen um jeweils 10 % des für den Leistungsberechtigten maßgeblichen Regelbedarfs nach § 20 SGB II, wenn er trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis einer Aufforderung des zuständigen Trägers, sich bei ihm zu melden, nicht nachkommt. Dies gilt nicht, wenn der Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für sein Verhalten darlegen und nachweisen kann.

Mit der Aufforderung vom 8. Juli 2013, die dem Kläger am selben Tag ausgehändigt wurde, lud der Beklagte ihn zur Vorsprache am 2. Oktober 2013 ein mit dem im Schreiben genannten Zweck, die aktuelle Situation des Klägers zu besprechen, und verbunden mit der Bitte, Nachweise über die Bemühungen um Arbeit mitzubringen. Das Schreiben enthielt eine ordnungsgemäße Rechtsfolgenbelehrung, die erläuterte, dass der Kläger gemäß § 59 SGB II in Verbindung mit § 309 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung (SGB III) der Meldepflicht unterliege und daher verpflichtet sei, sich bei der in der Einladung genannten Stelle persönlich zu melden. Komme er dieser Aufforderung ohne wichtigen Grund nicht nach, werde sein Arbeitslosengeld II um 10 % des für ihn nach § 20 SGB II maßgeblichen Regelbedarfs gemindert. Wichtige Gründe für ein Nichterscheinen seien darzulegen und nachzuweisen.

Diese Meldeaufforderung, die dem Kläger wirksam bekannt gegeben worden war, ist hinreichend bestimmt. Für den Kläger war es möglich, das von ihm verlangte Verhalten zu erkennen. Ein Meldeversäumnis liegt vor, denn der Kläger hat den Meldetermin ohne Angabe von Gründen nicht wahrgenommen. Der Verstoß gegen die Meldeaufforderung ist dem Kläger auch subjektiv vorwerfbar (vgl. BSG, Urteil vom 9. November 2010, Az.: B 4 AS 27/10 R, juris).

Nach dem Vermerk des Sachbearbeiters vom 21. November 2013 hat der Kläger bei der Anhörung zum Meldeversäumnis erklärt, er habe den Meldetermin am 2. Oktober 2013 aufgrund einer Terminsverwechslung nicht wahrgenommen, bzw. diesen vergessen. Der Irrtum über das Datum des Meldetermins stellt keinen wichtigen Grund für das Nichterscheinen dar. Es handelt sich um ein Versäumnis in der Sphäre des Klägers, um eine Nachlässigkeit, die ihm vorzuwerfen ist. Im Übrigen wird auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Urteil des SG und im Widerspruchsbescheid des Beklagten ergänzend Bezug genommen und von einer erneuten Darstellung abgesehen.

Die streitige Minderung ist auch nicht wegen der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu Sanktionen herabzusetzen oder zu verkürzen. Zum einen sind Härtefall und Wohlverhalten auch bei nicht bestandskräftigen Sanktionsbescheiden nicht zu prüfen, wenn der Sanktionszeitraum vor dem 5. November 2019 abgelaufen ist (ebenso: Schiffendecker und Brehm, NZS 2020, Seiten 1 ff, 5; Greiser und Susnjar, NJW 2019, Seiten 3683 ff, 3685). Zudem hat das BVerfG im Urteil vom 5. November 2019 (a.a.O.) nur entschieden, dass § 31 Abs. 1 SGB II mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, soweit die Höhe der Leistungsminderung 30 % des maßgeblichen Regelbedarfs übersteigt (Deckelung auf 30 %). Hier geht es jedoch um ein Meldeversäumnis mit einer Leistungsminderung um nur 10 % des Regelbedarfs, dessen Rechtsgrundlage § 32 Abs. 1 SGB II ist. Über diese Vorschrift hat das BVerfG nicht entschieden. Da der Beklagte die für den selben Zeitraum (Dezember 2013 bis Februar 2014) verhängte Sanktion mit einer Minderung von 60% aufgehoben hat, hat die Entscheidung zu den Sanktionsregelungen keine Auswirkung auf die Entscheidung über den Meldeverstoß. Entgegen der Auffassung des Klägers hat das BVerfG nicht alle Sanktionsvorschriften des SGB II für mit dem Grundgesetz unvereinbar angesehen. Dem folgt der Senat.

Im Ergebnis ist daher das klageabweisende Urteil des SG nicht zu beanstanden. Die Berufung war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage.
Rechtskraft
Aus
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