L 31 AS 727/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
31
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 65 AS 18127/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 31 AS 727/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Aus § 1629 BGB folgt für das SGB II nicht, dass beide Elternteile einen Antrag auf Leistungen beim Jobcenter für den Minderjährigen stellen müssen. Abzustellen ist auf § 38 SGB II und §§ 166, 278 BGB.
2. Der volljährig gewordene Minderjährige haftet mit seinem gesamten am 18. Geburtstag vorhandenen Vermögen. Pfändungsfreigrenzen sind bei der Beschränkung der Haftung auf das tatsächlich vorhandene Vermögen nicht zu berücksichtigen.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. März 2018 geändert. Der Bescheid des Beklagten vom 3. Februar 2014 in Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 4. August 2015 wird insoweit aufgehoben, als von dem Kläger ein Erstattungsbetrag in Höhe von mehr als 221,35 EUR verlangt wird. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten hat der Beklagte dem Kläger zu 1/2 zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit ist die Rücknahme der Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Mai 2013 und eine Erstattungsforderung in Höhe von insgesamt 1492,25 EUR.

Der Kläger ist 1998 geboren, war mithin im streitigen Zeitraum minderjährig.

Der 1972 geborene Vater des Klägers ist nach eigenen Angaben Haushandwer-ker/Maler und beantragte erstmalig im November 2010 bei dem Beklagten Leistun-gen nach dem SGB II für sich und die damals mit ihm in Bedarfsgemeinschaft leben-de Ehefrau und den Kläger. Mit Bescheid vom 10. November 2010 lehnte der Be-klagte eine Leistungsgewährung mangels Hilfebedürftigkeit ab.

Am 11. Januar 2013 beantragte der Vater des Klägers bei dem Beklagten erneut Leistungen nach dem SGB II und gab hierbei an, er beziehe von der Bundesagentur für Arbeit seit dem 2. Januar 2012 für die Anspruchsdauer von 360 Kalendertagen Arbeitslosengeld, die Eheleute würden seit dem 20. August 2012 getrennt leben und zu der Bedarfsgemeinschaft gehöre nur noch der Kläger. Dem Antrag war eine handschriftliche Erklärung des Vaters beigefügt. In dieser hat der Vater des Klägers erklärt, der Kläger lebe seit der Trennung in seiner Wohnung. Zu den Verwaltungsakten gelangte zudem eine weitere handschriftliche Erklärung ohne Datum. Diese hat folgenden Wortlaut: "Hiermit erkläre ich, das wir das Kinder-geld für unseren Sohn D B teilen, weil er 2 Wochen bei mir wohnt und 2 Wochen bei seiner Mutter wohnt." Diese Erklärung ist versehen mit einer Unterschrift des Vaters und einer vermeintlichen Unterschrift der Mutter des Klägers. In einer weiteren schriftlichen Erklärung ohne Datum hat der Vater des Klägers schließlich erklärt, die Ehefrau bewohne in derselben Etage desselben Wohnhauses eine Wohnung.

Mit Bescheid vom 1. Februar 2013 bewilligte daraufhin der Beklagte dem Vater des Klägers und dem Kläger monatliche Leistungen für den Zeitraum von Dezember 2012 bis 31. Mai 2013. Im Einzelnen bewilligte der Beklagte für den Monat Dezem-ber 2012 Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von insgesamt 272,59 EUR, wobei 183,06 EUR auf den Vater des Klägers und 89,53 EUR auf den Kläger entfielen. Für die Monate Januar bis April 2013 bewilligte der Beklagte monatlich insgesamt jeweils 948,79 EUR, die sich in kopfteilige Kosten der Unterkunft und Heizung (monatlich jeweils für den Vater 257,14 EUR und den Kläger 257,15 EUR) und Regelbedarf i.H.v. 382 EUR für den Vater und 52,50 EUR für den Kläger aufteilten. Für den Monat Mai 2013 bewilligte der Beklagte schließlich einen Betrag in Höhe von insgesamt 836,79 EUR, der sich aus kopfteiligen Kosten für Unterkunft und Heizung (Vater 201,14 EUR und Kläger 201,15 EUR) sowie Regelbedarfe (Vater 382 EUR und Kläger 52,50 EUR) zusammensetzte.

Bereits vor dem Bewilligungsbescheid des Beklagten vom 1. Februar 2013 bewilligte die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg mit Bescheid vom 3. Januar 2013 dem Vater des Klägers Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für den Zeit-raum vom 2. Januar 2013 bis voraussichtlich 21. Juni 2013 und mit Bescheid vom 28. Januar 2013 Übergangsgeld ab dem 2. Januar 2013 kalendertäglich i.H.v. 44,05 EUR, für die Zeit vom 2. Januar 2013 bis 31. Januar 2013 allein einen Gesamtbetrag i.H.v. 1277,45 EUR. Beide Bewilligungen der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg teilte der Vater des Klägers dem Beklagten nicht mit.

Die Bewilligung und Gewährung von Übergangsgeld teilte schließlich erst die Renten-versicherung dem Beklagten mit Schreiben vom 16. Juli 2013 mit. Der Beklagte hörte daraufhin mit Schreiben vom 25. Juli 2013 den Vater des Klägers zu einer Leis-tungsaufhebung nach § 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) und Er-stattung von Leistungen in Höhe von insgesamt 5424,65 EUR an, worauf der Vater des Klägers nicht reagierte. Mit Bescheid vom 3. Februar 2014 hob der Beklagte schließ-lich entsprechend die Leistungen für den Zeitraum ab 1. Januar 2013 bis zum 31. Mai 2013 auf und verlangte die Erstattung des Betrages von insgesamt 5424,65 EUR, von diesem Betrag entfielen 1492,25 EUR auf den Kläger.

Gegen diesen Bescheid erhob der Prozessbevollmächtigte des Klägers in dessen Namen mit Schreiben vom 10. April 2015, bei dem Beklagten eingegangen am 13. April 2015, Widerspruch und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Der (damals minderjährige) Kläger werde durch seine Mutter vertreten. Beide (Mutter und Kläger) hätten von dieser Angelegenheit erst durch ein Schreiben der Bunde-sagentur für Arbeit vom 12. März 2015 an den Kläger erfahren und zuvor weder et-was von dem Leistungsbezug, der Leistungsbewilligung und auch nicht dem Aufhe-bungs- und Erstattungsbescheid vom 3. Februar 2014 gewusst. Erst nach dem Zu-gang des oben genannten Schreibens der Bundesagentur für Arbeit habe der Vater des Klägers nach Aufforderung des Prozessbevollmächtigten den Erstattungsbe-scheid vom 3. Februar 2014 in Kopie vorgelegt. Der Durchführung des Wider-spruchsverfahrens stimmte der Vater des Klägers mit Erklärung vom 8. Juni 2015 zu. Mit weiterem Schriftsatz vom 21. Juli 2015 erklärte der Prozessbevollmächtigte des Klägers die vermeintliche Unterschrift der Mutter auf dem Schriftstück Blatt 154 der Verwaltungsakte stamme nicht von ihr; es liege eine gefälschte Unterschrift vor, was auch die tatsächliche Unterschrift der Mutter des Klägers auf Blatt 156 der Verwal-tungsakte verdeutliche. Tatsächlich hätten die Eheleute im Januar 2013 nicht ge-trennt in der Wohnung des Vaters gelebt. Erst im Mai 2013 sei eine Trennung er-folgt, jedoch zunächst erst von "Tisch und Bett". Da die Wohnung der Ehefrau zu diesem Zeitpunkt untervermietet gewesen sei, sei ein Auszug aus der Wohnung des Vaters erst rund ein Jahr später erfolgt. Zum 3. März 2014 seien dann Mutter und Kläger in die neue Wohnung umgezogen.

Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 4. August 2015 zurück. Die Rücknahme der Leistungsbewilligung erfolge nach § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 und 3 SGB X. Der Bescheid vom 1. Februar 2013 sei von Anfang an rechtswidrig gewesen, da das seit Januar 2013 gewährte Einkommen des Vaters (Übergangs-geld) nicht angegeben, deshalb nicht berücksichtigt wurde und mangels Hilfebedürf-tigkeit zum vollständigen Wegfall der Leistungsansprüche geführt habe. Der Vater des Klägers habe das bezogene Einkommen zumindest grob fahrlässig nicht ange-geben, sei ebenso zumindest grob fahrlässig in Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit des Bescheides gewesen und dieses Wissen seines gesetzlichen Vertreters müsse sich der damals minderjährige Kläger zurechnen lassen.

Gegen diese Entscheidung hat der anwaltlich vertretene Kläger am 3. September 2015 Klage bei dem Sozialgericht Berlin erhoben. Sowohl Antragsteller als auch Empfänger des Bewilligungsbescheides sei allein der Vater des Klägers gewesen. Die von dem Vater vorgenommenen Angaben seien falsch und dieser habe daher die Beklagte getäuscht. Tatsächlich seien die Eheleute bis Mai 2013 nicht getrennt ge-wesen und erst rund ein Jahr später (Ende Februar 2014) sei die Mutter mit dem Kläger aus der vorher gemeinsam bewohnten Wohnung ausgezogen. Von den wahr-heitswidrigen Angaben hätten allerdings weder der Kläger noch seine Mutter Kennt-nis gehabt. Erst durch das Rückforderungsschreiben der Bundesagentur für Arbeit- Inkassoservice- vom 12. März 2015 hätten sie Kenntnis von dem Vorgang erlangt. Aus einer teleologischen Reduktion der §§ 1629a BGB und 34a SGB II folge, dass sich der minderjährige Kläger das Verhalten seines gesetzlichen Vertreters nicht an-rechnen lassen müsse. Bei strafrechtlich relevantem Verhalten könnten nur der Täter und die Tatbeteiligten zur Rechenschaft gezogen werden; eine Haftung Dritter sei ausgeschlossen. Nach § 1629a Abs. 1 BGB sei die Haftung des Kindes selbst bei im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht vorgenommenen Handlungen der El-tern auf das bei Eintritt der Volljährigkeit vorhandene Vermögen des Kindes be-schränkt; dies gelte erst recht bei unrechtmäßigen Handlungen der Eltern. Und schließlich sei es Sinn und Zweck des § 34a SGB II denjenigen haftbar zu machen, der die Gewährung vorsätzlich herbeigeführt hat – mithin der Vater des Klägers und nicht er selbst. Anders als der Vater des Klägers, genieße daher der Kläger Vertrau-ensschutz nach § 45 SGB X. Auch dem Klageverfahren des damals minderjährigen Klägers hat der Vater zugestimmt.

Außerdem hat der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 4. Mai 2017 Kontoauszüge des Klägers für den Zeitpunkt des 18. Geburtstags (28. November 2016) mit einem Guthabenstand von damals 947,47 EUR vorgelegt, die jedoch überwiegend seiner Mut-ter wirtschaftlich zugestanden hätten; denn auf dem Konto des Klägers ging auch der Lohn der Mutter ein. Schließlich reichte der Kläger eine handschriftlich erstellte Vermögensaufstellung zu seinem 18. Geburtstag (29. November 2016) ein, in der er ein Bankguthaben i.H.v. 101,24 EUR, ein weiteres Bankguthaben i.H.v. 0,11 EUR und Bargeld i.H.v. 120 EUR, mithin ein Gesamtvermögen von 221,35 EUR sowie einige ältere elektronische Geräte angab.

Der Beklagte hat daraufhin mit Schriftsatz vom 13. Juni 2017 ein Vergleichsangebot unterbreitet, mit Blick auf § 1629a BGB und in Anwendung des § 44 SGB II könne der Rechtsstreit damit beendet werden, dass die Erstattungsforderung auf das Bar-vermögen (221,35 EUR) beschränkt und die Klage ansonsten zurückgenommen würde. Diesen Vorschlag hat der Kläger abgelehnt.

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 3. Februar 2014 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 4. August 2015 den Kläger betreffend aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist der Ansicht, dass der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 3. Februar 2014 dem Vater des Klägers als gesetzlichen Vertreter wirksam bekannt gegeben worden ist. Da der Vater des Klägers den Verwaltungsakt nicht angegriffen habe, sei dieser bestandskräftig geworden. Eine Änderung sei mithin nur noch nach § 44 SGB II möglich.

Mit Urteil vom 5. März 2018 hat das Sozialgericht Berlin den Bescheid vom 3. Febru-ar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2015 den Kläger be-treffend aufgehoben. Die Überschreitung der Widerspruchsfrist des § 84 Abs. 1 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sei unbeachtlich, da der Beklagte im Wider-spruchsbescheid vom 4. August 2015 in der Sache entschieden habe. Die Voraus-setzungen für die Aufhebungsentscheidung nach § 40 Abs. 1 S. 1 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III und § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 und 3 SGB X lägen nicht vor. Zwar sei die Leistungsbewilligung mit dem angegriffenen Bescheid von Anfang an rechtswidrig, da das bezogene Übergangsgeld entgegen § 11 SGB II nicht ange-rechnet worden sei. Der rechtswidrige Bescheid beruhe aber nicht auf unrichtigen oder unvollständigen Angaben des zum damaligen Zeitpunkt minderjährigen Klägers. Dementsprechend fehle es auch an einer Kenntnis des Klägers bzw. grob fahrlässi-gen Unkenntnis im Sinne von § 45 SGB X. Auch eine Zurechnung der Handlungen des Vaters entsprechend § 38 SGB II käme nicht in Betracht, weil dieser nicht allein gesetzlicher Vertreter des Klägers war und nur bei einer gemeinschaftlichen Vertre-tung der Eltern im Sinne von § 1629 Absatz 1 S. 2 BGB eine Zurechnung möglich sei. Die Mutter des Klägers sei zur Überzeugung des Gerichts jedoch am gesamten Geschehen nicht beteiligt gewesen; insbesondere stamme die Unterschrift in dem vorgelegten Schreiben zur Erklärung über den Aufenthalt des Klägers offenkundig nicht von ihr. Auch eine Zurechnung über § 38 SGB II käme nicht in Betracht.

Gegen das dem Beklagten am 13. März 2018 zugestellte Urteil hat er am 23. April 2018 Berufung eingelegt. Das Sozialgericht habe zu Unrecht die Kenntnis des Vaters dem Kläger nicht zugerechnet. Eine solche Zurechnung erfolge nach § 278 BGB und hierfür reiche das Verschulden eines Vertreters aus.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. März 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die rechtliche Würdigung durch das Sozialgericht für zutreffend. § 278 BGB sei vorliegend mangels bestehendem Schuldverhältnis im Sinne dieser Regelung nicht anwendbar. Ein Schuldverhältnis sei durch den Kläger mit dem Beklagten gera-de nicht begründet worden, sondern allein durch den Vater des Klägers. Im Übrigen stehe der Anwendung der Regelung des § 278 BGB auch der Schutz der Minderjäh-rigen aus der Regelung des § 1629 BGB entgegen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Ge-richtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten (944A155414), die Gegenstand der Beratung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Sie ist ohne weitere Zu-lassung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 Euro, § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG übersteigt; im Streit ist eine Erstattungsforderung über rund 1500 EUR.

Die zulässige Berufung ist nur zum Teil begründet. Das Sozialgericht Berlin hat zu Unrecht mit Urteil vom 5. März 2018 die angegriffenen Bescheide insgesamt aufge-hoben.

Zunächst ist festzustellen, dass die Klage nicht bereits aufgrund eines bestandskräf-tigen Rücknahme- und Erstattungsbescheides unzulässig war. Zwar erfolgte gegenüber dem Vater des damals noch minderjährigen Klägers wirk-sam eine Anhörung nach § 24 SGB X und eine Bekanntgabe des Rücknahme- und Erstattungsbescheides vom 3. Februar 2014. Denn bei minderjährigen Leistungs-empfängern mit einer gesetzlichen Vertretung durch die Eltern ist es sowohl bei einer Anhörung als auch bei der Bekanntgabe der anschließenden Entscheidung ausrei-chend, dass beides gegenüber einem gesetzlichen Vertreter erfolgt ist (vergleiche Bundessozialgericht, Urteil vom 7. Juli 2011, B 14 AS 153/10 R, Rn. 22 und 25, mit weiteren Nachweisen, zitiert nach Juris). Daraus, dass der Vater diesen Bescheid nicht angegriffen hat, folgt jedoch nicht dessen Bestandskraft auch gegenüber dem Kläger. Denn zum einen ist jeder Leistungsempfänger, mithin auch der Kläger, ge-sondert klageberechtigt gegen belastende Entscheidungen. Zum anderen hat der Beklagte im Widerspruchsbescheid nicht den Widerspruch aufgrund eines vermeint-lich bestandskräftigen Bescheides als unzulässig verworfen, sondern in Ausübung der mit § 78 SGG eingeräumten Befugnis in der Sache entschieden und damit den Mangel im Verhältnis zum Kläger geheilt (siehe Schmidt in Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer/ Schmidt, SGG, 13. Aufl., 2020, § 85 Rn. 4 mit weiteren Nachweisen).

Der Bescheid vom 3. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 2015 ist jedoch nur teilweise rechtmäßig.

Nach § 45 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden (Abs. 1). Er darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (Abs. 2 Satz 1). Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leis-tungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs. 2 Satz 2). Auf Vertrauen kann der Begünstigte sich nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentli-cher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Abs. 2 Satz 3 Nr. 2). Glei-ches gilt, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 1. Halbsatz). Liegen die in § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes vor, ist dieser nach § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III auch mit Wirkung für die Vergangenheit zu-rückzunehmen. Maßgebend hierfür ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes, der zurückgenommen werden soll. Vorliegend kommt § 45 SGB X zur Anwendung, weil die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II aufgrund der nicht angegebenen und deshalb unberücksichtigten Einkünfte des Vaters (Übergangsgeld) ab dem 2. Januar 2013 und damit schon im Zeitpunkt der Bewilligung mit Datum vom 1. Februar 2013 rechtswidrig im Sinne der Vorschrift war, weil aufgrund der Einkünfte eine Hilfebedürftigkeit im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und § 9 SGB II und damit ein Leistungsanspruch nach § 7 SGB II nicht vorlag. Das gewährte Übergangsgeld i.H.v. 44,05 EUR führte zu monatlichen Einkünften im Sinne von § 11 SGB II i.H.v. (44,05 EUR × 30 Tage =) 1321,50 EUR und damit einem Betrag, der weit über dem ermittelten monatlichen Gesamtbedarf im streitigen Zeitraum (monatlich insgesamt rund 950 EUR bzw. rund 840 EUR) lag. Diese Einkünfte des Vaters sind gemäß § 9 Abs. 2 S. 2 SGB II auch bei dem Kläger anzu-rechnen. Insgesamt bleibt damit festzustellen, dass dem Kläger mangels Hilfebedürftigkeit für den gesamten streitigen Zeitraum (vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Mai 2013) ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II nicht zustand.

Die Beklagte ist deshalb zu Recht von einer unrechtmäßigen Leistungsbewilligung von Anfang an ausgegangen, sodass der Anwendungsbereich des § 45 SGB X er-öffnet ist.

Der Kläger kann sich auch nicht auf Vertrauensschutz im Sinne des § 45 Abs. 2 SGB X berufen, da die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für den streitbefange-nen Zeitraum auf Angaben beruhte, die zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht wurden (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X) und außerdem aufgrund der fehlerhaften Angaben auch nach § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X eine Kenntnis oder zumindest grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes vorlag.

Zwar ist dem Kläger zuzugestehen, dass die fehlerhaften Angaben nicht durch ihn selbst, sondern durch seinen Vater erfolgt sind. Die Kenntnisse des Vaters sind je-doch dem Kläger zuzurechnen.

Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts kann dahinstehen, ob die Antragstellung am 11. Januar 2013 "gemeinschaftlich", also durch beide gesetzlichen Vertreter (Vater und Mutter des Klägers), erfolgte oder allein durch den Vater. Denn die Regelung des § 1629 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) regelt zwar die Vertretungsmacht und damit das wirksame Eingehen eines Schuldverhältnisses. Für die Zurechnung einer Kenntnis oder eines Kennenmüssen und damit einer Wissenszurechnung ist allerdings auch im Zivilrecht nach § 166 Abs. 1 BGB im Rahmen einer Vertretung auf die Kenntnis des Vertreters abzustellen. Und nach § 278 S. 1 BGB hat ein Schuldner ein Verschulden seines gesetzlichen Vertreters und der Personen, deren er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit bedient, im gleichen Umfang zu vertreten wie eigenes Verschulden. Dem entsprechend ist auch im Sozialrecht Minderjährigen das schuld-hafte Verhalten ihres gesetzlichen Vertreters analog § 278 BGB grundsätzlich zuzu-rechnen (vergleiche Merten in Hauck/ Noftz, SGB X,IV/18, § 45 SGB X, Rn. 79, mit weiteren Nachweisen).

Darüber hinaus ist in § 38 SGB II auch für das hier entscheidende Rechtsgebiet von Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende speziell geregelt, dass Leistun-gen an Kinder im Rahmen der Ausübung des Umgangsrechts die umgangsberechtig-te Person zu beantragen und entgegenzunehmen hat, soweit das Kind dem Haushalt angehört (§ 38 Abs. 2 SGB II) und im Übrigen die Vermutung gilt, dass der erwerbs-tätige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach diesem Buch auch für die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entge-genzunehmen. Nach dieser speziellen Regelung im Sozialrecht ist mithin nicht eine "gemeinschaftliche" Beantragung durch beide Elternteile notwendig; vertretungsbe-rechtigt ist vielmehr grundsätzlich jeder einzelne Elternteil. Ist aber auch ein einzelner Elternteil antragsberechtigt für den Minderjährigen, so ist dem Umkehrschluss auch eine Kenntnis und das Verhalten dieses einzelnen Elternteiles im Sinn von §§ 45, 48 SGB X und dessen Zurechnung als ausreichend anzusehen, weil ansonsten diese Regelungen regelmäßig ins Leere liefen.

Vorliegend ist daher dem Kläger zumindest das Verhalten seines Vaters zuzurech-nen, der auch zumindest grobfahrlässig gehandelt hat, als er insbesondere das Übergangsgeld gegenüber der Beklagten nicht angegeben hat. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in be-sonders schwerem Maße verletzt (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 zweiter Halbsatz SGB X). Grobe Fahrlässigkeit setzt also eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes, das heißt eine besonders grobe und auch subjektiv unentschuldbare Pflichtverletzung voraus, die das gewöhnliche Maß der Fahrlässigkeit erheblich über-steigt. Anzulegen ist bei der Prüfung des Vorliegens der groben Fahrlässigkeit nicht ein objektiver, sondern ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab (BSG - Urteil vom 24. April 1997 - 11 RAr 89/96 m. w. N., in Arbeit und Beruf - AuB 1997, 282). Subjektiv un-entschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz nahe liegende Überle-gungen nicht angestellt werden, wenn nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Hierbei sind auch die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit und das Einsichtsvermögen des Betroffenen zu berücksichtigen.

Unter Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten hat der Vater des Klägers zumindest grob fahrlässig gehandelt; denn er hat bei seiner Antragstellung am 11. Januar 2013 und vor der Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 1. Februar 2013 das bereits bewilligte seit dem 2. Januar 2013 gewährte Übergangsgeld nicht ange-geben, obwohl ihm schon allein aufgrund der Fragen im Antragsformular und auf-grund der bereits im Jahre 2010 zuvor erfolgten Antragstellung die Notwendigkeit hierzu zur Prüfung der Hilfebedürftigkeit als Anspruchsvoraussetzung bekannt gewe-sen sein muss.

Insgesamt bleibt damit festzuhalten, dass der Vater des Klägers in jedem Fall zu-mindest grob fahrlässig die objektiv unwahren Angaben gemacht hat und auch zu-mindest grobfahrlässig in Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbe-scheides für Leistungen nach dem SGB II aufgrund des bezogenen Übergangsgel-des gewesen ist.

Damit liegen grundsätzlich sämtliche Voraussetzungen für eine Rücknahme der Leis-tung nach § 45 SGB X und einer Erstattung nach § 50 SGB X vor.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) mit dem oben bereits genannten Urteil vom 7. Juli 2011 (B 14 AS 153/10 R) sind allerdings im Rahmen der Erstattung die Vorschriften im BGB über die Beschränkung der Minderjährigenhaf-tung entsprechend anzuwenden. Das Bundessozialgericht hat hierzu im wesentlichen ausgeführt, es sei nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Mai 1986 (1 BvR 1542/84, NJW 1986,1859) im Hinblick auf das allgemeine Persönlich-keitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und dem hierin enthaltenen Recht auf Selbstbestimmung verfassungsrechtlich eine Haftung des ehemals Minder-jährigen für Handlungen seiner Eltern im Rahmen der ihnen zustehenden Vertre-tungsmacht noch hinnehmbar, wenn sich die Haftung des Minderjährigen auf das erworbene Vermögen beschränke. Nichts anderes könne für die finanziellen Folgen gelten, die Minderjährigen als Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft über die Vertre-tungsregelung für Bedarfsgemeinschaften nach § 38 SGB II aufgebürdet werden (BSG, a.a.O., Rn. 42). Der Gesetzgeber habe nach dem oben genannten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts die Regelung des § 1629a BGB geschaffen und da-nach sei die Haftung des ehemaligen Minderjährigen und nun volljährig gewordenen für Verbindlichkeiten, die Personen im Rahmen ihrer Vertretungsmacht mit Wirkung für den Minderjährigen begründet haben, beschränkt auf den Bestand des Vermö-gens des Minderjährigen bei Eintritt der Volljährigkeit. Diese in Ausführung der ver-fassungsrechtlichen Vorgaben erfolgte gesetzgeberische Entscheidung gelte man-gels anderer Anhaltspunkte für die Minderjährigenhaftung im SGB II entsprechend.

Nach dieser Rechtsprechung, der der Senat nach eigener Prüfung folgt, ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung des § 1629a BGB eine Begrenzung der Haf-tung und damit der möglichen Erstattungsforderung auf den Bestand des bei Eintritt der Volljährigkeit vorhandenen Vermögens des Kindes.

Vorliegend bestand nach den eigenen Angaben des Klägers entsprechend seiner handschriftlichen Erklärungen vom 9. Mai 2017 am Tage seines 18. Geburtstages (29. November 2016) ein Vermögen i.H.v. 221,35 EUR, welches sich aus Bankguthaben i.H.v. 101,24 EUR und 0,11 EUR sowie einem Barvermögen i.H.v. 120 EUR zusammensetzte. Aufgrund dieser Angaben hat Beklagte in seinem Vergleichsvorschlag vom 13. Juni 2017 einen auf 221,35 EUR beschränkten Erstattungsbetrag vorgeschlagen. Auch der erkennende Senat sieht keinen Anlass, an diesen Angaben des Klägers zu zweifeln und von einem höheren Vermögen auszugehen. Insbesondere erscheint dem Senat eine Erhöhung dieses Betrages um den (Zeit-) Wert der von dem Kläger ebenfalls angegebenen elektronischen Geräte nicht gerechtfertigt. Einen Zeitwert konnte der Kläger nicht angeben, sondern lediglich die Kaufpreise der teilweise schon einige Jahre alten Geräte. Auch der Senat sah sich nicht imstande, für die angegebenen Geräte einen validen Zeitwert mit Stichtag 29. November 2016 zu ermitteln, der ge-gebenenfalls dem Vermögen zuzurechnen wäre. Denn über den Zustand dieser Ge-räte und damit letztlich dem entscheidenden Faktor zur Bestimmung des Zeitwertes des jeweiligen Geräts liegen keine Erkenntnisse vor und Ermittlungen hierzu waren rund anderthalb Jahre nach dem maßgeblichen Stichtag schon zum Zeitpunkt des Berufungseingangs am 23. April 2018 nicht mehr möglich.

Pfändungsfreigrenzen waren bei der vorliegend zu treffenden Entscheidung auch vor dem Hintergrund, dass der Kläger nach den Ausführungen seines Bevollmächtigten im Termin eine Lehre als Gärtner mit entsprechend eher geringen Bezügen aufge-nommen hat, nicht zu beachten. Auch wenn das Bundessozialgericht (Urteil vom 7. Juli 2011, B 14 AS 153/10 R, Rn. 47, zitiert nach Juris) ausschließlich von pfändba-ren Vermögen am Tag des Eintritts der Volljährigkeit gesprochen hat und die Haf-tungsbeschränkung nicht erst im sozialrechtlichen Verwaltungsvollstreckung wirksam werden soll (anders als im Steuerfestsetzungsverfahren BFHE 203,5), hat der Senat sich nicht veranlasst gesehen, ohne konkreten Hinweis des Klägers, woraus sich die Unpfändbarkeit seines Vermögens ergeben soll, umfangreiche Ermittlungen zu den Voraussetzungen eines zivilrechtlichen Vollstreckungsschutzes anzustellen. Ob die Forderung vor dem Hintergrund der derzeitigen Einkommenslage als Gärtnerlehrling letztlich vollstreckbar ist, spielt erst recht keine Rolle.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie trägt dem Ergebnis Rechnung, dass der Erstattungsbescheid zum Zeitpunkt seines Erlasses grundsätzlich rechtmä-ßig war und der Kläger nur deshalb nicht den gesamten Überzahlungsbetrag zu er-statten hat, weil er während des Klageverfahrens seinen 18. Geburtstag vollendet und damit die Regelung des § 1629a BGB gegriffen hat. Andererseits war der Kläger aufgrund dieser Regelung letztlich weit überwiegend erfolgreich und dem hat der Be-klagte nicht unverzüglich durch ein entsprechendes Teilanerkenntnis Rechnung ge-tragen (vergleiche Rechtsgedanke aus § 93 Zivilprozessordnung- ZPO), sondern mit Schriftsatz vom 17. Juni 2017 lediglich ein Vergleichsangebot unterbreitet.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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