S 43 VG 170/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Dortmund (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
43
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 43 VG 170/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das beklagte Land wird unter Aufhebung des Bescheides vom 02.12.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.03.2004 verurteilt, dem Kläger Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes zu bewilligen. Das beklagte Land hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Bewilligung von Opferentschädigung.

Der Kläger stellte im Februar 2003 bei dem beklagten Land einen Antrag auf Bewilligung von Opferentschädigung. Er verwies darauf, dass sein Sohn gewaltsam zu Tode gekommen sei und er – der Kläger – durch die Todesnachricht eine psychische Belastung erlitten habe. Der Sohn des Klägers war im November 2002 von einem Mitbewohner massiv verprügelt worden und infolge der Gewalteinwirkungen gestorben.

Das beklagte Land zog die strafrechtlichen Ermittlungsergebnisse bei, holte einen Bericht von dem den Kläger behandelnden Psychotherapeuten T ein und beauftragte sodann die Neurologin und Psychiaterin Dr. X aus X mit der Fertigung eines medizinischen Sachverständigengutachtens nach körperlicher Untersuchung des Klägers. Frau Dr. X gelangte zu dem Ergebnis, dass der Kläger durch das traumatische Ereignis eine psychoreaktive Störung im Sinne einer reaktiven Depression mit Akzentuierung vorhandener Beschwerden, vornehmlich von Seiten des Bewegungsapparates, erlitten habe und diese Beeinträchtigung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. zu bewerten sei. Das beklagte Land holte noch eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. X2 ein und lehnte sodann den Antrag des Klägers durch Bescheid vom 02.12.2003 ab. Zur Begründung ist ausgeführt, der Kläger sei nicht Opfer eines sogenannten Schockschadens geworden. Er habe keine abnormale Trauerreaktion gezeigt.

Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein, welchen er damit begründete, dass der gewaltsame Tod seines Sohnes zu psychotraumatischen Belastungsstörungen bei ihm geführt habe. Er fühle sich seitdem krank und ohne Möglichkeiten, den Tod seines Sohnes zu verarbeiten. Sein Lebensmuster sei vollkommen verändert worden. Er frage sich, was Schlimmeres als das, was ihm widerfahren sei, hätte passieren müsssen, um einen Anspruch auszulösen.

Das beklagte Land wies den Widerspruch durch Bescheid vom 18.03.2004 als unbegründet zurück. Es begründete seine Entscheidung damit, dass keine Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung hätten festgestellt werden können. Es sei nachvollziehbar, dass der Kläger durch den Tod seines Sohnes stark erschüttert worden sei. Die von ihm gezeigte Trauerreaktion sei indessen als angemessen anzusehen.

Hiergegen richtet sich die am 31.03.2004 erhobene Klage.

Der Kläger trägt vor, er sei Sekundäropfer und als solches schwer belastet. Dies äußere sich in Depressionen, Rückzug bis zur Teilnahmslosigkeit, Vergesslichkeit, Übererregbarkeit, Angst, Alpträumen und Gedankenterror.

Der Kläger beantragt,

das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheides vom 02.12.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.03.2004 zu verurteilen, ihm Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes zu bewilligen.

Das beklagte Land beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das beklagte Land hält seine Entscheidung für rechtmäßig.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten und der beigezogenen Verwaltungsakten des beklagten Landes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der angefochtene Bescheid des beklagten Landes vom 02.12.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.03.2004 ist mit der Rechtslage nicht zu vereinbaren. Er war daher aufzuheben. Das beklagte Land hat dem Kläger Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes zu bewilligen. § 1 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) bestimmt, dass derjenige, der im Geltungsbereich des Gesetzes ... infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person ... eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag auf Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes erhält. Der Angriff muss nach dem zitierten unmissverständlichen Wortlaut des Gesetzes nicht gegen die Person des Antragstellers selbst erfolgt sein. Es reicht dem Grunde nach für einen Versorgungsanspruch aus, wenn, wie hier, der Angriff gegen eine andere Person gerichtet worden ist. Der Kläger hat infolge des gegen seinen Sohn gerichteten Angriffs zur Überzeugung der Kammer eine gesundheitliche Schädigung erlitten. Die Kammer schließt sich der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Entscheidung vom 12.06.2003, Az.: B 9 VG 1/02 R) an, wonach die erforderliche Kausalität zwischen Angriff und Schädigung immer dann gegeben ist, wenn die psychischen Auswirkungen einer Gewalttat beim Sekundäropfer eng mit der Gewalttat verbunden sind. Es muss ausgeschlossen werden können, dass nicht andere wesentlich mitwirkende Bedingungen, etwa eine bereits vorbestehende Anlage von Krankheitswert, für die Ausbildung der gesundheitlichen Schädigung verantwortlich sind. Dabei hat zur Überzeugung der Kammer die Stellung des Sekundäropfers zum Primäropfer indizielle Bedeutung.

Im vorliegenden Fall besteht nach dem Ergebnis des vom beklagten Land eingeholten Sachverständigengutachtens der Neurologin und Psychiaterin Dr. X aus X kein vernünftiger Restzweifel daran, dass der Kläger als Vater des gewaltsam zu Tode gekommenen Primäropfers C eine psychoreaktive Störung im Sinne einer reaktiven Depression erlitten hat, wobei vorhandene Körperbeschwerden, vornehmlich von Seiten des Bewegungsapparates, sich akzentuiert darstellen. Frau Dr. X ist zu diesem Ergebnis gelangt nach ausführlicher Exploration des Klägers und Sichtung der Akten. Die gutachterliche Aussage der Sachverständigen ist zur Überzeugung der Kammer eindeutig. Die Gutachterin hält den Kläger sogar infolge der Schädigung für um 20 v.H. gemindert in dessen Erwerbsfähigkeit.

Nicht erklärlich und ohne Anhalt in den gesetzlichen Vorschriften und juristischen Denkgesetzen erscheint die Einlassung des beklagten Landes, ungeachtet der gutachterlichen Aussage sei Versorgung zu versagen, da der Kläger keine unangemessene Trauerreaktion gezeitigt habe. Der Gesetzgeber unterscheidet weder hinsichtlich des Sekundäropfers noch hinsichtlich des Primäropfers und weder bezogen auf psychische Schädigungen noch bezogen auf körperliche Schädigungen zwischen angemessenen und unangemessenen Reaktionen. Wenn etwa ein Opfer eines Angriffs mit einem Messer eine Stichverletzung erleidet, so spielt es rechtlich keine Rolle, ob dieses Opfer "nur" aus der Wunde blutet, diese vernäht werden muss und die Verletzung folgenlos ausheilt oder ob es Komplikationen gibt, die Wunde sich entzündet, die Wundheilung mithin "unangemessen" vonstatten geht. Auch im erstgenannten Falle hat das Opfer Anspruch auf Opferentschädigung gegen den zuständigen Versorgungsträger, auch wenn diese Entschädigung sich nur in der Übernahme vergleichsweise geringfügiger Heilbehandlungskosten erschöpfen mag. Transportiert auf den vorliegenden Fall bedeuten diese Überlegungen, dass der Kläger jedenfalls als Opfer im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG anzuerkennen ist. Ob der Kläger "angemessen" oder "unangemessen" getrauert hat, mag das beklagte Land klären, sollte der Kläger über die Übernahme der entstandenen Heilbehandlungskosten hinaus weitere Leistungen, etwa eine Versorgungsrente begehren.

Der Klage war im Ergebnis stattzugeben, wobei sich die Kostenentscheidung aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes ergibt.
Rechtskraft
Aus
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