L 16 AL 61/03*10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 52 AL 997/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 AL 61/03*10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. September 2003 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Klägerin wendet sich gegen die teilweise Aufhebung der Bewilligung von Unterhaltsgeld (Uhg) und eine entsprechende Rückforderung in Höhe von 3.370,86 Euro für die Zeit vom 28. Januar 2002 bis zum 30. November 2002.

Die 1965 geborene Klägerin bezog von der Beklagten seit dem 11. Juni 2001 Arbeitslosengeld (Alg) nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 450,00 DM in Höhe von 239,89 DM wöchentlich. Nach der Anspruchserschöpfung erhielt sie Anschluss-Arbeitslosenhilfe (Alhi), die sich seit dem 8. Dezember 2001 nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 450,00 DM und ab 1. Januar 2002 nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 230,00 Euro errechnete. Das Bemessungsentgelt ergab sich aus einer fiktiven Einstufung als Tresenkraft im Umfang von 30 Wochenstunden.

Ab dem 28. Januar 2002 befand sich die Klägerin in einer Vollzeit-Bildungsmaßnahme, für die ihr die Beklagte Uhg nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 555,00 Euro in Höhe von wöchentlich 223,30 Euro gewährte (Bewilligungsbescheide vom 28. Februar 2002 und 25. April 2002).

Mit Bescheid vom 19. Dezember 2002 nahm die Beklagte die Bewilligung von Uhg für die Zeit ab 28. Januar 2002 teilweise in Höhe von 76,86 Euro wöchentlich zurück. Durch einen Berechnungsfehler seien die der Leistung zu Grunde liegenden Berechnungsdaten nicht von DM-Beträgen in Euro-Beträge umgerechnet worden, so dass der Klägerin in fast doppelter Höhe Uhg bewilligt worden sei. Uhg habe rechtmäßig nur in Höhe von 146,44 Euro wöchentlich zugestanden. Die teilweise Rücknahme für die Vergangenheit sei gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) zulässig, weil die Klägerin mit einfachsten und ganz nahe liegenden Überlegungen habe erkennen können, dass ihr Uhg in dieser Höhe nicht zustehe. Dies sei als grobe Fahrlässigkeit zu werten. Das zu Unrecht in der Zeit vom 28. Januar 2002 bis zum 30. November 2002 gezahlte Uhg in Höhe von 3.370,86 Euro sei von der Klägerin zu erstatten. Deren Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 2003).

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat mit Urteil vom 11. September 2003 den Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2003 aufgehoben. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei begründet. Die angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig. Die Beklagte habe die Entscheidung über die Bewilligung von Uhg für die Zeit ab 28. Januar 2002 zu Unrecht teilweise zurückgenommen und die Erstattung des überzahlten Uhg gefordert. Die Voraussetzungen hierfür nach § 45 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (SGB III) würden nicht vorliegen. Zur Überzeugung der Kammer habe die Klägerin nicht infolge grober Fahrlässigkeit die Rechtwidrigkeit der Bewilligung von Uhg für die Zeit ab 28. Januar 2002 gekannt und habe daher auf die Rechtmäßigkeit der Bewilligung vertrauen dürfen. Eine Sorgfaltspflichtverletzung in ungewöhnlich hohem Ausmaß sei der Klägerin nicht anzulasten. Denn diese habe zuvor Alhi nach einem Bemessungsentgelt bezogen, das auf einer 30-Stundenwoche beruht habe. Ab 28. Januar 2002 habe sie an einer Vollzeitmaßnahme teilgenommen und habe deshalb nicht ohne Weiteres ersehen können, auf welcher Wochenstundenzahl die Beklagte das Bemessungsentgelt für das Uhg berechnet habe. Demgemäß könne ihr zwar der Vorwurf der Fahrlässigkeit, nicht jedoch der der groben Fahrlässigkeit gemacht werden.

Mit der Berufung wendet sich die Beklagte gegen dieses Urteil. Sie trägt vor: Die Klägerin habe gewusst, dass das Bemessungsentgelt der zuvor bezogenen Alhi auf einer 30-Stundenwoche beruhte und sich zuletzt auf 230,00 Euro belaufen habe. Sie hätte daher durch einfachste Überlegungen erkennen können, dass bei dem anschließend bewilligten Uhg nach einem Bemessungsentgelt in Höhe von 550,00 Euro eine Unkorrektheit vorliegen müsse. Denn sie habe nicht davon ausgehen können, dass sich das Uhg um mehr als das Doppelte erhöhen würde. Die Differenz sei so offensichtlich gewesen, dass die Klägerin bei der Beklagten hätte nachfragen müssen. Hinzu komme, dass im Merkblatt für die Förderung der beruflichen Weiterbildung, dessen Erhalt die Klägerin am 22. Januar 2002 bestätigt habe, ausdrücklich darauf hingewiesen werde, dass dem Uhg das Bemessungsentgelt zu Grunde gelegt werde, nach dem das Alg und die Alhi zuletzt bemessen worden seien.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. September 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen.

Die Leistungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.

II.

Der Senat hat gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufung durch Beschluss zurückweisen können, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Die Beteiligten sind hierzu vorher gehört worden (§ 153 Abs. 4 Satz 2 SGG).

Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

Die Beklagte war nicht berechtigt, die Bewilligung von Uhg für die Zeit ab 28. Januar 2002 (Bescheid vom 28. Februar 2002) bzw. für die Zeit ab 11. März 2002 (Bescheid vom 25. April 2002) mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit der Klägerin objektiv rechtswidrig höheres Uhg als wöchentlich 146,44 Euro bewilligt worden war. Der für die Zeit vom 28. Januar 2002 bis zum 30. November 2002 überzahlte Uhg-Betrag in Höhe von 3.370,86 Euro ist von der Klägerin gemäß § 50 Abs. 1 SGB X nicht zu erstatten.

Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen des § 45 Abs. 2 bis Abs. 4 SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 1 SGB X). Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit er u.a. die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2, Satz 3 Nr. 3 SGB X). Im letztgenannten Fall wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen (§ 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Gemäß § 330 Abs. 2 SGB III ist der Verwaltungsakt auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn die in § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes vorliegen. Diese Vorschrift entbindet die Beklagte bei der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes unter den Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X von der Verpflichtung, bei der Rücknahme ihr Ermessen auszuüben.

Die Rücknahmeentscheidung der Beklagten war schon deshalb rechtswidrig, weil ihr eine nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung der Klägerin nicht vorausgegangen war und die erforderliche Anhörung auch nicht im Sinne von § 41 Abs. 1 und Abs. 2 SGB X nachgeholt worden ist. Die Beklagte konnte auch nicht deshalb von einer Anhörung gemäß § 24 Abs. 2 Nr. 5 SGB X absehen, weil sie mit dem Bescheid über die teilweise Aufhebung der Bewilligung von Uhg eine einkommensabhängige Leistung im Sinne der vorgenannten Bestimmung den geänderten Verhältnissen angepasst hätte. Denn die Verhältnisse haben sich nach der Bewilligung des Uhg, die bereits anfänglich objektiv rechtswidrig war, gerade nicht geändert, sondern sind unverändert geblieben. Selbst wenn im Hinblick auf das Vorbringen der Beklagten im Widerspruchsbescheid und im sozialgerichtlichen Verfahren von einer wirksamen Nachholung der erforderlichen Anhörung auszugehen wäre, sind die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Uhg-Bewilligung bereits mit Wirkung vom 28. Januar 2002 vorliegend nicht erfüllt. Denn es ist nicht feststellbar, dass die Klägerin die (teilweise) Rechtswidrigkeit der Uhg-Bewilligung in dem in Rede stehenden Umfang kannte bzw. nur deshalb nicht kannte, weil sie die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Grob fahrlässige Unkenntnis liegt nach der Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Halbsatz 2 SGB X vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Dies ist dann der Fall, wenn der Betroffene schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt und deshalb dasjenige nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (vgl. BSG SozR 1300 § 48 Nr. 22). Dabei ist auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen des Begünstigten sowie die besonderen Umstände des Einzelfalles abzustellen.

Bereits auf Grund der vorliegend gegebenen besonderen Umstände kann nicht von einer zumindest grob fahrlässigen Unkenntnis der Klägerin von der teilweisen Rechtswidrigkeit der Uhg-Bewilligung ausgegangen werden, soweit diese auf einem höheren Bemessungsentgelt als 305,00 Euro bzw. einem höheren Leistungsbetrag als 146,44 Euro beruhte. Zwar hatte sich der wöchentliche Leistungssatz bei der Gewährung von Uhg im Vergleich zu der zuvor bezogenen Alhi mehr als verdoppelt. Das dem Bezug von Alg und Alhi zu Grunde liegende wöchentliche Bemessungsentgelt errechnete sich aber auf der Grundlage einer 30-Stundenwoche, wie auch der Klägerin bekannt war. Diese durfte daher ohne Weiteres davon ausgehen, dass sich das Bemessungsentgelt für das Uhg für die Vollzeitmaßnahme ab 28. Januar 2002 in nicht unerheblichem Maße erhöhen würde. Daran ändert auch nichts der Hinweis der Beklagten in dem der Klägerin ausgehändigten Merkblatt zur Förderung der beruflichen Weiterbildung, wonach dem Uhg das Bemessungsentgelt zu Grunde zu legen ist, nach dem die Alhi zuletzt bemessen worden war. Denn zur Berechnung des Uhg bei einem zuvor zu Grunde gelegten Teilzeit-Bemessungsentgelt finden sich in dem Merkblatt gerade keine Hinweise. Die nachvollziehbare Herleitung bestimmter Berechnungsgrundsätze in diesem Falle kann aber von einem durchschnittlich verständigen Versicherten und daher auch von der Klägerin nicht erwartet werden. Dies gilt um so mehr, als sich eine Bösgläubigkeit im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X gerade auf den zurückgenommenen Teil des Verwaltungsaktes erstrecken bzw. sich mit diesem decken muss. Dazu ist erforderlich, aber auch notwendig, dass der betreffende Versicherte hinsichtlich dieses bestimmten Teils des Verwaltungsaktes - hier des dem Uhg zu Grunde gelegten Bemessungsentgelts - bösgläubig war, weil sich die Rücknahmeentscheidung der Beklagten gerade und nur auf die Korrektur des Bemessungsentgelts und die daraus resultierende Überzahlung des Uhg beschränkt (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 27. Juli 2000 -B 7 AL 88/99 R = SozR 3-1300 § 45 Nr. 42). Tatsachen, aus denen sich eine derartige Bösgläubigkeit der Klägerin ergeben würden, sind mit der erforderlichen Sicherheit nicht feststellbar. Dass die Klägerin die Unrichtigkeit der Uhg-Bewilligung allein aus der deutlich zu hohen Leistung hätte erkennen müssen, rechtfertigt für sich alleine nur den Vorwurf der Fahrlässigkeit, aber noch nicht ohne Weiteres den der groben Fahrlässigkeit (vgl. BSG a.a.O.). Da sich vorliegend bereits aus den objektiven Umständen keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Klägerin die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hätte, bedarf es keiner persönlichen Anhörung der Klägerin durch den erkennenden Senat, wie sie die Beklagte angeregt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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