S 20 VS 272/00

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Dortmund (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
20
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 20 VS 272/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 08.02.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.06.2000 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, bei dem Kläger eine schizophrene Psychose als Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen und vom 01.01.1998 bis zum 31.10.1998 eine MdE i. H. v. 50 % festzustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Der Beklagte und die Beigeladene übernehmen jeweils 25 % der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung einer seelischen Erkrankung als Wehrdienstbeschädigung und die Gewährung einer Versorgungsrente nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG) i. V. m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der geborene Kläger leistete in der Zeit vom 01.03.1997 bis zum 31.12.1997 den Grundwehrdienst bei der Bundeswehr in ... ab.

Nach vorheriger Belehrung wurde bei dem Kläger am fachgerecht eine Nasenscheidewandoperatipn im Bundeswehrkrankenhaus Koblenz durchgeführt.

Am Tag seiner Entlassung aus dem Krankenhaus am brach der Kläger in S ... auf dem Weg vom Bahnhof zu seinem Elternhaus zusammen und wurde in das Kreiskrankenhaus S ... eingeliefert. Dort wurde eine schizophrene Psychose diagnostiziert.

Am 05.12.1997 beantragte der Kläger Versorgung nach dem Soldatenversorgungsgesetz.

Der Beklagte zog die Krankenakte des Bundeswehrkrankenhauses und die Akte der Techniker-Krankenkasse bei. Sodann ließ er den Kläger von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. A versorgungsärztlich untersuchen und begutachten. Dieser hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Narkose und der psychischen Erkrankung bestehe. Es sei nicht bekannt, dass die verwendeten Narkosemittel eine solche Erkrankung auslösen könnten. Vielmehr habe die Operation als belastende Situation bei dem Kläger aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur die Entwicklung der Krankheit initiiert.

Mit Bescheid vom 08.02.1999 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers ab.

Gegen diese Entscheidung legte der Kläger Widerspruch ein und führte aus, dass er vor der Operation keine psychischen Auffälligkeiten gezeigt habe, so dass die Ursache für die Erkrankung in der Operation oder den sonstigen Belastungen der Bundeswehrzeit zu sehen sei. Zur Stützung seines Begehrens reichte er eine Stellungnahme seines Hausarztes Dr. B zu den Akten.

Der Beklagte zog ein sozialmedizinisches Gutachten des MDK Westfalen-Lippe bei und wies den Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 07.06.2000 zurück.

Mit der am 06.07.2000 erhobenen Klage wiederholt der Kläger im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 08.02.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.06.2000 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm ab dem 01.01.1998 eine schizophrene Psychose als Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen und nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu entschädigen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig.

Der Beigeladene beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Erkrankung des Klägers sei nicht ursächlich auf die durchgeführte Operation zurückzuführen.

Das Gericht hat den Kläger informatorisch angehört, einen Befundbericht von dem Kinderarzt Dr. C eingeholt und den Anästhesie-Bericht des Bundeswehrkrankenhauses über die Operation am ... beigezogen.

Sodann hat es Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr D. Dieser ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Operation nicht zu einer Gehirnschädigung geführt habe und dass auch die verabreichten Narkosemittel nicht zu der Erkrankung des Klägers geführt haben könnten. Wegen der mit der Operation verbundenen Belastungen des Klägers und des engen zeitlichen Zusammenhangs zu dem Ausbruch der Psychose sowie den in der Wissenschaft weiterhin bestehenden erheblichen Unklarheiten über die Verursachung solcher Erkrankungen bejaht er für die Zeit bis Oktober 1998 die Voraussetzungen der Kannversorgung nach Rn. 39, Seite 182 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (Anhaltspunkte). Die MdE betrage ab dem 01.01.1998 50 v.H. Wegen der weiteren Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Gutachtens vom 16.01.2001 sowie die ergänzende Stellungnahme vom 23.07.2001 Bezug genommen.

Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den Inhalt der Verwaltungsakte des Beklagten und der Schwerbehindertenakte verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist teilweise begründet.

Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid des Beklagten insoweit beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes. (SGG), als der Beklagte den ersten Schub der vom Kläger erlittenen schizophrenen Psychose, der bis Oktober 1998 andauerte, nicht als Wehrdienstbeschädigung anerkannt hat. Insoweit hat der Kläger Anspruch auf Versorgung nach einer MdE i. H. v. 50 v. H.

Die seelische Erkrankung des Klägers ist nach den Grundsätzen der Kannversorgung als Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen.

Nach § 80 SVG erhält ein Soldat nach Beendigung des Wehrdienstes wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Wehrdienstbeschädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG. Gemäß § 81 Abs. 1 SVG ist eine Wehrdienstbeschädigung eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist. Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung genügt nach § 81 Abs. 6 S.1 SVG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, so kann mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) die Gesundheitsstörung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung anerkannt werden ("Kannversorgung", vgl. § 81 Abs. 6 Satz 2 SVG).

Die bei dem Kläger durchgeführte Nasenseptum-Operation stellt eine geschützte Tätigkeit in Sinne des § 81 Abs. 1 SVG dar, weil sie als dem Wehrdienst eigentümlich zu betrachten ist. Nach ständiger Rechtsprechung sind die besonderen Gegebenheiten des soldatischen Sozialbereichs der Bundeswehr, die sich deutlich von vergleichbaren des Zivillebens unterscheiden, als wehrdiensteigentümlich anzusehen (BSG SozR 3200, § 81 Nr. 18). Insbesondere die Verpflichtung des Soldaten, sich gesund zu erhalten (§17 Abs. 4 Satz 1 Soldatengesetz), die freie Heilfürsorge für Krankheitsfälle und als deren Besonderheit der Ausschluß der freien Arztwahl unterscheiden sich von dem Zivilleben (BSG SozR 3200, § 80 Nr. 2; BSG v. 04.10.1984, Az.: 9 a/9 KLV 1/81). Diesbezüglich hat der Kläger dargelegt, von der Vorstellung ausgegangen zu sein, sich nicht allein im eigenen Interesse behandeln zu lassen, sondern damit zugleich seiner gesetzlichen Pflicht zur gesteigerten Gesundheitspflege Rechnung zu tragen. Die Wehrdiensteigentümlichkeit der Operation wird von dem beklagten Land und der beigeladene Bundesrepublik nicht mehr bestritten.

Zwischen den Beteiligten ist aber weiterhin streitig, ob die Operation als schädigendes Ereignis die seelische Erkrankung des Klägers ursächlich herbeigeführt hat.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass der Kläger an einer schizophrenen Psychose leidet. Da über diese Erkrankung in der medizinischen Wissenschaft Unklarheit herrscht, wie dies der gerichtliche Sachverständige Professor Dr. D hervorgehoben hat und wie dies in Nr. 69 der Anhaltspunkte, Seite 250 deutlich aufgeführt ist, kann eine Anerkennung der Erkrankung als Wehrdienstbeschädigungsfolge i. S. v. § 81 Abs. 6 Satz 1 SVG nicht in Betracht zu ziehen sein. Denn schon aufgrund der in der Wissenschaft bestehenden Unsicherheiten läßt sich die erforderliche Wahrscheinlichkeit deä Kausalzusammenhangs zwischen dem Wehrdienst als solches bzw. zwischen der durchgeführten Operation und der nunmehr bestehenden Erkrankung nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit - es muß mehr dafür als dagegen sprechen - (vgl. Nr. 9 der Verwaltungsverordnung zu § 1 BVG) feststellen.

Dem Kläger ist jedoch Versorgung nach den Regeln der Kannversorgung zu gewähren. Die Voraussetzungen nach Nr. 69 der Anhaltspunkte sind als gegegeben anzusehen, wenn

a) als Schädigungsfaktoren tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifende psychosoziale Belastungen vorgelegen haben, die entweder längere Zeit angedauert haben oder zeitlich zwar nur kurzfristig wirksam, aber so schwer waren, dass ihre Folgen eine über längere Zeit anhaltende Wirkung auf das Persönlichkeitsgefüge gehabt haben,

b) die Erkrankung in enger zeitlicher Verbindung (bis zu mehreren Wochen) mit dieser Belastung begonnen hat.

Da die seelische Erkrankung des Klägers neun Tage nach Durchführung der Operation, direkt nach der Entlassung aus dem Krankenkaus, aufgetreten ist, ist der geforderte enge zeitliche Zusammenhang zu bejahen. In Übereinstimmung mit dem gerichtlichen Sachverständigen ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass die durchgeführte Nasenseptumoperation als tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifende psychosoziale Belastung angesehen werden kann, die zeitlich zwar nur kurzfristig wirksam war, aber so schwer, dass ihre Folgen eine über längere Zeit anhaltende Wirkung auf das Persönlichkeitsgefüge hatte. Die mit dem Eingriff an der Nase verbundenen, Schmerzen und die auf die länger währende Tamponierung der Nase zurückzuführenden Unannehmlichkeiten und Behinderungen der Atmung können als tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifende psychosoziale Betastung angesehen werden. Diese Prozedur wird von den betroffenen Patienten regelmäßig als äußerst unangenehm und belastend empfunden. Zudem gibt es keinen Anhalt, dass bei dem Kläger vor Juli 1997 bereits psychische Symptome vorgelegen haben, die als Erstmanifestation einer schizoaffektiven Erkrankung gewertet werden könnten.

Allerdings kommt bei episodischem Verlauf einer schizophrenen Psychose die Anerkennung einer kausalen Verknüpfung im Sinne der Kannversorgung nur für die der Belastung unmittelbar folgende Episode in Frage (Rn. 69 Seite 250 der Anhaltspunkte). Demnach konnte bei dem Kläger nur der bis März 1998 deutlich abgeklungene erste Schub der Erkrankung als Schädigungsfolge anerkannt werden.

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers beträgt vom 01.01.1998 bis zum 30.03.1998 50 v.H. Gemäß § 30 Abs. 1 BVG ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen. Für die Beurteilung ist maßgebend, um wieviel die Befähigung zur üblichen auf den Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnützung im wirtschaftlichen Leben durch die als Folge einer Schädigung anerkannten nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörung beeinträchtigt ist. Bei dem Kläger erreicht die seelische Erkrankung den Grad einer schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten und ist somit nach Nr. 26.3, S. 61 der Anhaltspunkte mit einer MdEvon 50 v.H. zu bewerten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dem Kläger sind 50 % seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten, da die grundsätzliche Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung für ihn erheblich ist, die zeitlich beschränkte Feststellung bis März 1998 jedoch deutlich hinter einer zeitlich, unbeschränkten Anerkennung zurückbleibt. Der Beigeladene hat die Hälfte der dem Kläger zu erstattenden Kosten zu tragen, da er das beklagte Land in vollem Umfang unterstützt hat, einen eigenen Sachantrag gestellt hat und die Entscheidung ihm gegegenüber für die Zeit während des Bundeswehrdienstes nur einheitlich ergehen kann.
Rechtskraft
Aus
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