L 6 VJ 4/03

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 13 VJ 1/99
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 6 VJ 4/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Zur Überleitung des Impfschadensrechts in das Beitragsgebiet. 2. Zu den Voraussetzungen der Anerkennung einer Pertussisimpfenzephalopathie als Impfschaden.
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 09.09.2003 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung eines epileptischen Anfallsleidens und einer geistigen Behin-derung als Impfschädigungsfolge.

Die am ...1989 geborene Klägerin leidet an einer therapeutisch schwer beeinfluss-baren Epilepsie. Das Krankheitsbild ist gekennzeichnet durch das gleichzeitige Auftreten verschiedenartiger Anfallsformen (große Anfälle, Anfälle mit plötzlichem Hinstürzen, Steifheit der Muskulatur, kurzzeitige Bewusstseinspausen, blitzartige Zuckungen der Mus-kulatur und Blinzelanfälle). Trotz entsprechender Therapie ereignen sich etwa einmal pro Woche große Anfälle meist nach der Aufwachphase. Sie werden meist eingeleitet durch gehäufte blitzartige Zuckun-gen der Muskulatur. Daneben ereignen sich mehrfach in der Woche Anfälle mit plötzli-chem Hinstürzen. Nicht selten kommt es zu serienhaftem Auftreten von Absencen, so dass die Klägerin über längere Zeit wie umdämmert wirkt. Die Geburt war eine komplikationsfreie Spontanentbindung, das Geburtsgewicht betrug 2900 g, die Länge 49 cm, der Kopfumfang 34 cm. Die Familienanamnese war unauffällig.

Am 29.01.1990 fand die erste Schluckimpfung gegen Polio-Typ I statt. Am 22.02.1990 wurde die Klägerin zum ersten Mal gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten (DPT) geimpft; außerdem fand eine Polio-Typ III-Schluckimpfung statt. Am 26.03.1990 wurde die zweite DPT-Impfung zusammen mit der Polio-Typ II-Schluckimpfung durchgeführt. Am 01.04.1990, also am sechsten Tag nach der Impfung, erkrankte die Klägerin mit 38,6° Fieber und erlitt dabei einen 10 Minuten anhaltenden generalisierten Krampfanfall. Bei der anschließenden stationären Durchuntersuchung in der Kinderabteilung des Kreis-krankenhauses S ... wurden Zeichen eines Virusinfektes (Schnupfen, Durchfall, Blutbild-veränderung) festgestellt. Der Krampf wurde unter anamnestischer Angabe von Fieber bis 38,6° als Fieberkrampf gedeutet. In der Epikriese steht: "Klinisch-organisch lediglich Schnupfen Liquorbefund normal Das Kind entfieberte prompt und blieb in der Folge in seinem Allgemeinbefinden unauffällig". Seit April 1990 fanden mehrere stationäre Aufenthalte im Kreiskrankenhaus N ..., in der medizinischen Akademie D ... und im Epilepsiezentrum K ... statt, es wurden die Diag-nosen gestellt "Anfallsleiden und Hirnschädigung", "therapieresistente primär generalisier-te Epilepsie", "Verdacht auf Lennox-Gastaut-Syndrom", "myoklonisch-astatische Anfäl-le", "geistige Retardierung mit Sprachentwicklungsverzögerung und Verhaltensauffällig-keiten".

Am 05.06.1995 beantragte die Mutter der Klägerin die Entschädigung wegen eines Impf-schadens. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 03.03.1998 abgelehnt: Für das nachgewiesene Anfallsleiden, für die epileptogene Hirnschädigung, die organische Wesensänderung und die geistige Behinderung stellten die am 26.03.1990 erfolgten Impfungen gegen DPT und den Polio-Typ II nicht die wesentliche Bedingung dar. Für eine zerebrale Erkrankung ent-zündlicher Art hätten sich keine Hinweise ergeben (keine Meningitiszeichen, keine En-zephalitis, Liquorbefund o.B., keine immunologische Liquorreaktion). Mit dem Widerspruch wurde geltend gemacht, die Klägerin sei bis zur Impfung unstreitig ein völlig normal entwickeltes Kind gewesen und erst nach dem "Fieberkrampf" seien Ge-sundheitsschädigungen eingetreten. Es habe sich hierbei mit großer Wahrscheinlichkeit um einen impfinduzierten Fieberkrampf gehandelt, der anerkannterweise Hirnschädigungen und Epilepsie auslösen könne.

Der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 13.01.1999 als unbegründet zurückgewiesen. Der sechs Tage nach dem Impfgeschehen aufgetretene Fieberkrampf sei nicht auf die Imp-fung zurückzuführen, sondern auf einen koinzidierend abgelaufenen fieberhaften Infekt. Die Untersuchung bei der stationären Aufnahme hätte keine Hinweise auf eine entzündli-che Hirnerkrankung ergeben, im Zusammenhang mit der Impfung seien keine Hirnschädi-gungen eingetreten. Das zeitliche Zusammentreffen des erstmals abgelaufenen Fieber-krampfgeschehens mit der angeschuldigten Impfung sei rein zufällig.

Mit der dagegen erhobenen Klage wird vorgebracht, es liege eine nicht unterbrochene Kausalkette zwischen der Gesundheitsschädigung und der Impfung vor. Da gemäß § 52 Abs. 2 Bundesseuchengesetz die Wahrscheinlichkeit ausreichend sei, müsse im vorliegen-den Fall die Kausalität als nachgewiesen angesehen werden, schließlich spreche nach den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen mehr für als gegen einen ursächlichen Zu-sammenhang. Die Schädigung sei nämlich innerhalb der Inkubationszeit aufgetreten. Solche Schäden könnten bei einer Diphtherieschutzimpfung sogar noch bis 28 Tage danach auftreten. Eine Folge hiervon sei eine Hirnnervenerkrankung. Dies gehe auch aus den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbe-hindertengesetz hervor.

Das Sozialgericht hat mit Beweisanordnung vom 03.09.1999 Prof. Dr. T1 ... vom Universi-tätsklinikum D ... mit der Erstellung eines medizinischen Sachverständigengutachtens beauftragt. Prof. Dr. T1 ... hat in seinem Gutachten vom 16.11.1999 die Auffassung vertreten, unter Berücksichtigung des für die Dreifachimpfung angegebenen Zeitfensters von 72 Stunden stehe der am 01.04.1990 aufgetretene Krampfanfall nicht in kausalem Zusammenhang mit der am 26.03.1990 erfolgten Dreifachimpfung. Dieses Zeitfenster gelte allgemein für die bei DPT-Impfungen üblicherweise verwendeten Tot- bzw. Toxoidimpfstoff. Eine Reihe von therapeutisch schwer beeinflussbaren Anfallsleiden manifestierten sich typischerweise im vierten bis sechsten Lebensmonat mit Fieberkrämpfen, denen später afebrile Krampfanfälle und andere Anfallsformen folgten.

Im Auftrag der Klägerin wurde daraufhin vorgebracht, dass die Angabe der Inkubationszeit von 72 Stunden nicht stimmen könne, nach Meinung anderer Mediziner bestehe ein viel längeres Zeitfenster.

Auf Antrag der Klägerin wurde daraufhin Dr. W1 ..., K ..., gemäß § 109 SGG gutacht-lich gehört. Dr. W1 ... wies darauf hin, dass die Diagnose "perinatale Hirnschädigung" aus einem Arztbrief des Epilepsiezentrums K ... nachweislich falsch sei. Es hätten bei der Geburt keinerlei Hinweise für einen Sauerstoffmangel oder eine Atemstörung bestanden, obwohl eine Nebelschnurumschlingung vorgelegen habe. Das Kind sei gleichzeitig mit der Mutter aus der Entbindungsklinik entlassen worden. Auch der "Fieberkrampf" müsse an-gezweifelt werden. Am 01.04.1990 sei die Temperatur überhaupt nicht gemessen worden. Die erste Temperaturmessung habe sich im Krankenblatt des Krankenhauses N ... befun-den und sei mit 37,9° angegeben worden. Während der weiteren stationären Beobachtung bis zum 12.04.1990 seien keine erhöhten Temperaturen beobachtet worden. Seinerzeit sei ein EEG zum Ausschluss einer Enzephalopathie nicht durchgeführt worden. Der Arztbrief zeige, dass auch die Ärzte der Kinderklinik den Fieberkrampf nicht hätten sichern können, sondern nur eine Verdachtsdiagnose gestellt hätten. Dr. W1 ... ist der Auffassung, dass das therapieresistente Anfallsleiden und die grenzwer-tige (zur schweren Intelligenzminderung) mittelgradige Intelligenzminderung mit großer Wahrscheinlichkeit als Folgestörung eines Impfschadens anzusehen seien. Madsen habe 1933 erstmals zwei Krampfanfälle mit tödlichem Ausgang nach einer Keuchhustenimpfung beschrieben. 1948 hätten Beyers und Moll 15 Enzephalopathien nach Keuchhustenimpfung nachgewie-sen. Im gleichen Jahr sei in Deutschland erstmals eine schwere Pertussis-Enzephalopathie beobachtet worden. Ström habe Impfkomplikationen bei Pertussis in einer Häufigkeit von 1:60.000 beobachtet. Die Nachprüfung dieser Arbeit durch eine schwedische Kommission habe eine Rate schwerer Impfkomplikationen von 1:50.000 ergeben. Dick (Großbritannien) komme nach einer Schätzung auf rund 80 Enzephalopathien nach Keuchhustenimpfung pro Jahr in England. Die wohl ausführlichste Übersicht stamme von Ehrengut, der über konvulsive Reaktionen nach Pertussis-Schutzimpfungen 1974 berichte. Nach seiner Meinung beträgt die Krampf-häufigkeit nach der Impfung 1/2200 Geimpfte und ein Dauerschaden komme auf 20.600 Geimpfte. Als Ursachen wurden von ihm diskutiert eine Überempfindlichkeit gegen Be-standteile des Impfstoffs sowie eine Überempfindlichkeit gegen das Keuchhustenbakterientoxin. Postvakzinale Konvulsionen seien 2½ x häufiger nach Pertussis-Schutzimpfungen aufgetreten, als es dem Erwartungswert entsprochen habe. In den Untersuchungen von Ehrengut an 59 Geimpften mit konvulsiven Reaktionen hätten sieben Patienten ein Auftreten von Anfällen auch am vierten bis elften Tag nach der Imp-fung gezeigt. Von diesen 59 Patienten seien bei 10 die Anfälle in ein Krampfleiden über-gegangen. Nach Ehrengut spreche eine längere Inkubationszeit mehr für eine postvakzinale Enzephalopathie, eine kürzere mehr für einen Fieberkrampf. Nach seiner Auffassung kön-ne sich unter jedem Krampfanfall eine Enzephalopathie verbergen und erst der weitere Verlauf werde retrospektiv zur richtigen Diagnose führen, wenn sich ein Krampfleiden oder eine geistige Retardierung einstelle. Diese Ergebnisse würden im Prinzip von Dietzsch und Mitarbeitern bestätigt.

Hieraus sei zu schlussfolgern, dass die Diagnose "Fieberkrampf" sehr unwahrscheinlich sei. Die einmalige Messung am Abend des Geschehens mit einer leicht erhöhten Tempera-tur reiche nicht aus, um einen Fieberkrampf zu bestätigen. Aufgrund der längeren Inkuba-tionszeit sei eine postvakzinale Enzephalopathie wahrscheinlicher. Dem Gutachten von T1 ... sei entgegenzuhalten, dass gerade die längere Inkubationszeit für einen Impfschaden spreche. Es sei im Übrigen sehr unwahrscheinlich, dass ein anlagebedingtes Epilepsiesyn-drom ausgerechnet sechs bis sieben Tage nach einer Pertussis-Schutzimpfung akut werde, wenn sich das Kind bis dahin völlig unauffällig entwickelt habe (unwahrscheinlicher Zu-fallsbefund). Schließlich müsse man noch darauf hinweisen, dass die Pertussis-Impfung auch als Auslöser für ein Anfallsleiden bei einer genetischen Disposition fungieren könne.

Hierauf hat das Sozialgericht Prof. B1 ... von der Landesuntersuchungsanstalt für Gesund-heits- und Veterinärwesen um eine ergänzende Stellungnahme gebeten. Nach Auffassung von Prof. B1 ... vertrat Dr. W1 ... noch die in den Jahren 1975 bis 1991 geltende wissenschaftliche Lehrmeinung. Diese sei jedoch als überholt zu bezeichnen. Vor allem wegen der Veröffentlichung von Ehrengut habe man zunächst die Impfempfehlung in vielen Ländern geändert, so habe man z.B. in Japan und Schweden die Vollkeimvakzine abgesetzt und in der BRD die Impfung nicht mehr allgemein, sondern nur noch bei dem Vorliegen bestimmter Indikationen empfohlen. Durch intensive Forschungsarbeit in den 80er Jahren in den USA, der BRD und Japan sei jedoch die Unbedenklichkeit der Voll-keimvakzine wieder klargestellt worden. Ein Meilenstein in dieser Entwicklung stelle der Bericht "Adverse Effects of Pertussis and Rubella Vaccines" dar. Seit 1991 sei deshalb durch die ständige Impfkommision wieder die Pertussis-Impfung für alle Kinder empfoh-len. Seit 1996 gehe man von kollapsartigen Kreislaufreaktionen, Krampfanfällen, schrillem Schreien und neurologischen Erkrankungen als mögliche Impfkomplikationen nach Pertus-sis-Impfung aus, keinesfalls könne sich jedoch eine Manifestation nach mehr als 72 Stun-den zeigen.

Um eine ergänzende Stellungnahme gebeten, wies Dr. W1 ... darauf hin, dass nach dem nach wie vor anerkannten Wissenschaftler Ehrengut sogar am 10. und 11. Tag nach der Impfung noch Schäden möglich sind. Dies sei durch neuere wissenschaftliche Untersu-chungen gerade nicht widerlegt worden. In der Regel manifestierten sich neurologische Erkrankungen nach einer Impfung innerhalb von 48 Stunden, spätestens innerhalb von 72 Stunden. Dies bedeute jedoch nicht, dass es nicht auch Ausnahmen gebe. Eine Impfschädigung sei im Falle der Klägerin also durchaus möglich. Prof. B1 ... hat daraufhin noch einmal Stellung genommen und bekräftigt, dass die Gutachten und Beurtei-lungen von Prof. Ehrengut nicht mehr dem heutigen Stand einer "evidenzbasierten Medi-zin" entsprächen. Im Übrigen reiche für die Anerkennung eines Impfschadens die Mög-lichkeit eines Zusammenhangs gerade nicht.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 09.09.2003 der Klage stattgegeben. Die Veröffentli-chung von Ehrengut zeigten, dass ein Übergang in ein Krampfleiden nach einer Pertussis-Schutzimpfung keine Seltenheit sei. Hierfür gelte nicht immer das Zeitfenster von 72 Stunden. Es sei unwahrscheinlich, dass der Krampfanfall am 01.04.1990 bei der Kläge-rin, die sich bis dahin völlig unauffällig entwickelt habe, nur rein zufällig mit der Impfung zeitlich zusammengefallen sei.

Gegen das dem Beklagten am 11.12.2003 zugestellte Urteil richtet sich dessen am 23.12.2003 beim Sächsischen Landessozialgericht eingegangene Berufung.

Der Senat hat bei Prof. S1 ..., B ..., ein weiteres medizinisches Sachverständigengutach-ten in Auftrag gegeben. Prof. S1 ... weist in seinem Gutachten vom 30.11.2004 darauf hin, dass entzündliche Er-krankungen des Nervensystems wie Neuritis, Polyneuritis, Polyradikulitis (Guillain-Barre´-Syndrom), wie sie selten einmal nach Toxoidimpfungen beschrieben würden, oder muskuläre Bewegungseinschränkungen infolge schlaffer Lähmungen, wie sie nach oraler Polymyelitis-Impfung vorkommen könnten, bei der Klägerin nicht aktenkundig seien. Demnach könnten Impfschädigungen infolge der Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Polio ausgeschlossen werden. Zu den typischen Impfreaktionen nach einer Pertussis-Ganzkeimimpfung gehörten in 5 - 50 % der Fälle lokale Nebenwirkungen und allgemeine Reaktionen wie Fieber, Unpäss-lichkeit, anhaltendes schrilles Schreien (0,1 bis 5 %), Krampfanfälle (0,1 bis 1 %) und so genannte hypotone hyporespensive Episoden (HHE) mit Zuständen einer Apathie (0,01 bis 0,1 %) innerhalb der ersten Tage nach der Impfung. Auch ein Fieberkrampf liege also im Wahrscheinlichkeitsbereich. Diese typischen Impfreaktionen seien allerdings vorüberge-hender Natur. Die so genannte "Pertussis-Impfenzephalopathie" sei in der vergangenen Zeit überbewertet worden. Nach der heutigen Lehrmeinung, die auch von der amerikani-schen pädiatrischen Akademie geteilt werde, könnten Pertussis-Ganzkeimvakzine keine dauerhaften Schäden des Zentralnervensystems, insbesondere auch keine Epilepsie, auslö-sen. Auch wenn man die Meinung von Griffin und anderen (JAMH 263 [1990], 1641 - 1645) zugrunde lege, wonach Enzephalopathien nach Pertussis-Impfungen mit dem Verhältnis 1: 300.000 äußert selten vorkommen könnten, zugrunde lege, müsse man im vorliegenden Fall einen Zusammenhang verneinen. Nach dem Krampfanfall sei ein normaler Liquorbe-fund festgestellt worden, es sei eine prompte Entfieberung eingetreten und in der Folge sei das Allgemeinbefinden unauffällig gewesen. Mit dieser Schilderung sei jedes schwere ze-rebrale Krankheitsbild, wie es eine Hirnhautentzündung, eine Entzündung oder Enzepha-lopathie darstelle, auszuschließen. Nicht nur die Überschreitung der dreitägigen Inkubati-onszeit, sondern auch der klinische Verlauf sprächen demnach gegen das Vorliegen einer zerebralen Pertussis-Impfkomplikation im Sinne einer Enzephalopathie.

Der Vertreter des Beklagten beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 09.09.2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt

die Gewährung von PKH sowie die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des So-zialgerichts Dresden vom 09.09.2003 zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die beigezogenen B- und Schwb-Akten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet und führt zur Abweisung der Klage. Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass nach der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Impfschaden spricht.

Die Beurteilung des vorliegenden Falles richtet sich nach den Vorschriften des Bundesseu-chengesetzes, wie es auf das Beitrittsgebiet übergeleitet wurde. Gemäß Anlage 1 Kapitel X Sachgebiet D Abschnitt III Nummer 3d EinigVertr, der durch Artikel 1 Einigungsvertragsgesetz vom 23.09.1990 (BGBl. II, 885) Gesetz geworden ist, gilt: Das Bundesseuchengesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Dezember 1990 (BGBl. I Seite 2262, 1980 I Seite 551), zuletzt geändert durch Artikel 7 des Gesetzes vom 26. Juni 1990 (BGBl. I Seite 1211) tritt im Beitrittsgebiet unter ande-rem mit folgender Maßgabe in Kraft: Soweit nach den §§ 51 bis 55, 59 bis 61 BSeuchG das BVG und die zu seiner Durchführung erlassenen Vorschriften entspre-chend anzuwenden sind, gelten diese Vorschriften mit denen in Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nummer 1 EinigVertr aufgeführten Maßgaben.

Dort war bestimmt, dass das BVG im Beitrittsgebiet vom 01. Januar 1991 an Anwendung findet (Buchstabe m der genannten Bestimmung des Einigungsvertrages). Eine direkte Anwendung des Bundesseuchengesetzes auf DDR-Fälle scheidet ebenso wie eine direkte Anwendung des Infektionsschutzgesetzes auf diese Fälle aus. Dies widersprä-che nämlich dem Grundsatz der direkten Gebiets- und Sachgebundenheit des Impfgesche-hens (vgl. Wilke/Sailer § 51 BSeuchG Rd.-Nr. 18). Ebenso wie § 60 Abs. 3 IfSG schrieb auch § 51 Abs. 3 BSeuchG die Erstreckung des Schutzes auf das Gebiet der DDR lediglich für den Fall der Pockenimpfung vor.

Da der Impftatbestand aus der Zeit vor dem Beitritt stammt, findet das (mit Seuchenrecht-neuordnungsgesetz – SeuchRNeuG vom 20. Juli 2000, BGBl. I Seite 1045, 1076 zum 01.01.2001 in Kraft getretene -) Infektionsschutzgesetz (IfSG) ohnehin nicht Anwendung (vgl. LSG Saarland, Urteil vom 03.03.2004 – L 5 VJ 8/03 -).

§ 52 Abs. 2 Satz 1 BSeuchG in der Fassung des Gesetzes vom 26.06.1990 (BGBl. I Seite 1211) bestimmt, dass zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Imp-fung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs genügt. Nach Kant bedeutet Wahrscheinlichkeit "das Fürwahrhalten aus unzureichenden Gründen, die aber zu den zureichenden ein größeres Verhältnis haben, als die Gründe des Gegen-teils". Was erfahrungsgemäß oft vorkommt, wird also auch im Einzelfall wahrscheinlich sein. Je seltener aber auf medizinischem Gebiet ein bestimmter Verlauf beobachtet worden ist, um- so weniger wahrscheinlich ist er für den Einzelfall (vgl. Hennies, MEDSACH 1993, 41, 43). Das hierbei das quantitative Element, also letztendlich statistische Erwägungen eine große Rolle spielen, lässt sich auch aus den Formeln ablesen, die von der Rechtsprechung immer wieder für die Definition des Wahrscheinlichkeitsbegriffes verwendet werden: Es müsse mehr dafür als dagegen sprechen (vgl. BSG, Urteil vom 27.10.1989 – 9 RV 40/81 – SozR 1300 § 45 Nummer 49; BSGE 60, 58f.); hierbei seien alle bedeutsamen Umstände abzuwägen (BSG, Urteil vom 25.07.1968 – 8 RV 373/67 -).

Die Besonderheit bei Impfschädenfällen besteht nun darin, dass Impfkomplikationen schon von der Natur der Sache her sehr selten auftreten und dass Bundesseuchengesetz ja gerade diese an sich "unwahrscheinlichen" Fälle zum Anknüpfungspunkt hat. Das Gesetz gibt keine Mindestquote von Impfkomplikationen vor, unterhalb derer ein Zu-sammenhang als so unwahrscheinlich zu gelten hat, dass schon der Ursachenzusammen-hang verneint werden muss. Eine Maximalquote sieht das Gesetz zwar auch nicht vor, gleichwohl ist es Usus, dass die ständige Impfkommission – wie ja auch bei Pertussis-Impfung geschehen – eine Impfemp-fehlung zurücknimmt, wenn die Impfkomplikationen ein gewisses Ausmaß überschreiten.

Die Zahl der beschriebenen Fälle von Komplikationen kann daher nur mit Vorsicht als ein Kriterium zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit verwandt werden.

Insgesamt hat eine Gewichtung aller Indizien stattzufinden.

Die Veröffentlichungen von Prof. Ehrengut, auf die sich Dr. W1 ... im Wesentlichen ge-stützt hat, mögen nun eine veraltete Auffassung wiedergeben, wie Prof. S1 ... und Prof. B1 ... dargelegt haben oder auch nicht; ihre Validität für den vorliegenden Fall kann nur von untergeordneter Bedeutung sein. Prof. Ehrengut hat auch in neueren Veröffentlichun-gen (vgl. Rauschelbach/Jochheim/Widder, Das neurologische Gutachten, 4. Auflage 2000, Seite 454 ff., Seite 464) an seiner Auffassung festgehalten, dass teilweise Dauerschäden mit einer Häufigkeit von 1 auf rund 25000 Geimpfte registriert worden sei. Die gegenteili-ge Auffassung von Stehr und Heininger, dass Dauerschäden nach einer Pertussisimpfen-zephalopathie nicht existierten, sei sehr umstritten gewesen; das US-Institute of Medicine habe seine frühere Auffassung, wonach Pertussis-Impfungen ohne Dauerschäden einher-gingen, inzwischen revidiert. Das IOM habe festgestellt, dass zentral-nervöse Schäden sowohl nach febrilen als auch nach afebrilen postvakzinalen Krampfanfällen innerhalb von 7 Tagen p.V. auftreten können. Dr. W1 ... hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die 72-Stunden-Frist nicht den Charakter einer gesetzlichen Ausschlussfrist hat. Letztendlich hat er auch mit seiner zweiten Stel-lungnahme die zutreffende Auffassung verteidigt, dass ein Zusammenhang der Erkrankung der Klägerin mit der Impfung nicht völlig und von vornherein ausgeschlossen ist. Warum sich diese Möglichkeit zur Wahrscheinlichkeit verdichtet habe, hat Dr. W1 ... nicht darge-legt. Die Verteidigung der Forschungsergebnisse Ehrenguts zielt auf die These, dass die Pertussis-Impfung möglicherweise doch insgesamt gefährlicher ist, als zurzeit gemeinhin angenommen wird. Hierdurch kann aber noch nicht im konkreten Fall der ursächliche Zu-sammenhang wahrscheinlich gemacht werden. Zwischen Prof. Ehrengut und Prof. S1 ... besteht kein Dissenz darüber, dass es die "Pertus-sisimpfenzephalopathie" im Prinzip gibt, wie ja auch Prof. S1 ... ausdrücklich mit seinem Satz, sie sei in der Vergangenheit "überbewertet" worden, einräumt. Prof. S1 ... Aussa-ge, dass Pertussisganzkeimvakzine keine Epilepsie auslösen könnten, wird auch von Prof. Ehrengut a.a.O. nicht in Abrede gestellt. Prof. Ehrengut räumt ausdrücklich ein, dass sich ein BNS-Leiden typischerweise zwischen dem dritten und zehnten Lebensmonat manifes-tiere, also in einer Zeitspanne, in welcher in der Regel die drei Dosen der Pertussisvakzine verabreicht werden. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Beginn eines BNS-Leidens rein zufällig zustande kommen könne. Die Verneinung der Zufälligkeit war ja einer der wesentlichen Gründe, weswegen Prof. W1 ... und ihm folgend das Sozialgericht eine Ursächlichkeit für wahrscheinlich hielten: Es könne kein Zufall sein, wenn so kurz nach einer Impfung einschlägige Krämpfe aufträ-ten, auch wenn dies nicht mehr innerhalb der statistischen Inkubationszeitspanne von 72 Stunden geschehen sei. Bereits Prof. T1 ... hatte auf jenen, nunmehr auch von Ehrengut in einem Standardwerk bestätigten Gesichtspunkt hingewiesen: Eine Reihe von therapeu-tisch schwer beeinflussbaren Anfallsleiden manifestiert sich typischerweise im vierten bis sechsten Lebensmonat mit Fieberkrämpfen, später folgten dann afibrile Krampfanfälle und andere Anfallsformen.

Ob ein Zusammenhang mit absoluter Gewissheit verneint werden kann, braucht der Senat nicht zu entscheiden. In diese Richtung weisen die Ausführungen von Prof. S1 ..., wonach nach dem Krampfanfall ein normaler Liquorbebefund festgestellt worden, eine prompte Entfieberung eingetreten und in der Folge das Allgemeinbefinden unauffällig gewesen sei. Prof. S1 ... hat darauf hingewiesen, dass mit dieser Schilderung jedes schwere cerebrale Krankheitsbild auszuschließen sei.

Komplikationen der gleichzeitig durchgeführten Diphtherie-, Tetanus- und Polioimpfung scheiden ebenfalls aus, denn die beschriebenen Krankheitsbilder – Halbseitenlähmung, Augenmuskellähmung, Mono-, Polyneuritiden oder Guillain-Barré-Syndrom – sind bei der Klägerin nicht gegeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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