L 11 SB 32/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 33 SB 2731/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 SB 32/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. Februar 2006 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Streitig ist die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht).

Der Beklagte erkannte bei dem 1928 geborenen Kläger mit Bescheid vom 08. Juli 1977 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie eine erhebliche Gehbehinderung wegen folgender Behinderungen an: a) Zustand nach Poliomyelitis mit schlaffer Lähmung der linken unteren Extremität b) statische Wirbelsäulenverbiegung mit vorzeitigem Verschleiß Anträge auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF" lehnte der Beklagte bereits mit Bescheid vom 29. März 1982 und zuletzt mit Bescheid vom 10. November 1998 ab. In diesem Bescheid wurden der GdB von 80 und die Zuerkennung des Merkzeichens "G" bestätigt, die Behinde-rungen jedoch wie folgt neu gefasst: a) Zustand nach Poliomyelitis mit schlaffer Lähmung der linken unteren Extremität - Einzel-GdB 70 - b) statische Wirbelsäulenverbiegung mit vorzeitigem Verschleiß - Einzel-GdB 30 - c) Diabetes mellitus, tablettenpflichtig - Einzel GdB 20 - d) Periarthosis humero-scapularis links - Einzel-GdB 10 - e) Bluthochdruck - Einzel-GdB 10 - f) Verstimmungszustand - Einzel-GdB 10 - g) Restbeschwerden nach Gürtelrose - Einzel-GdB 10 -

Am 21. Januar 2004 stellte der Kläger einen Neufeststellungsantrag wegen Verschlimmerung bestehender und Hinzutretens neuer Behinderungen. Er gab an, Rollstuhlfahrer zu sein, weshalb ihm das Merkzeichen "T" (Telebus) zuzuerkennen sei. Er sei außerdem ständig gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen jeder Art teilzunehmen, weshalb ihm auch das Merkzeichen "RF" zustehe.

Zur Ermittlung des Sachverhalts zog der Beklagte Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte, des Orthopäden Dr. A vom 29. Januar 2004, der Fachärztinnen für Dermatologie und Venerologie Dres. S und W vom 03. Februar 2004, der Augenärztin E vom 01. März 2004 und des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. W vom 11. März 2004, bei. Den Befundberichten war eine Vielzahl weiterer medizinischer Berichte beigefügt. In einer gutachterlichen Stellungnahme vom 07. April 2004 wertete die den Beklagten beratende Ärztin M die Befunde aus und schätzte den Gesamt-GdB mit 90 ein.

Mit Bescheid vom 19. April 2004 stellte der Beklagte einen GdB von 90 wegen folgender Behinderungen fest: a) Schlaffe Lähmung der linken unteren Extremität nach Poliomyelitis - Einzel-GdB 70 - b) statische Wirbelsäulenverbiegung mit vorzeitigem Verschleiß, Lendenwirbelsäulen-Syndrom nach operativ behandelter Spinalkanalstenose - Einzel-GdB 30 - c) Herzminderungsleistung, gefäßplastisch behandelte koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck - Einzel-GdB 30 - d) chronisch-obstruktive Lungenerkrankung - Einzel-GdB 30 - e) Inkontinenz - Einzel-GdB 30 - f) tablettenpflichtige Zuckerkrankheit - Einzel-GdB 20 - g) Sehbehinderung - Einzel-GdB 20 - h) Verstimmungszustand - Einzel-GdB 10 - i) Restbeschwerden nach Gürtelrose, Allergie - Einzel-GdB 10 - j) Periarthrosis humeroscapularis links - Einzel-GdB 10 - Außerdem erkannte der Beklagte das Merkzeichen "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel) zu und bestätigte erneut das Vorliegen des Merkzeichens "G". Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Eintragung der Merkzeichen "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung), "RF" und "T" lägen jedoch nicht vor.

Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, wegen seiner Behinderungen an der Teilnahme am öffentlichen Leben zu 95% beschränkt zu sein. Er bitte deshalb um das Merkzeichen "RF" und das Merkzeichen "T". Daraufhin holte der Beklagte ein Gutachten ein, das von Dr. Y am 01. Oktober 2004 erstattet wurde und in dem der Gutachter feststellte, bei dem Kläger bestehe ein Gesamt-GdB von 100. Er bewertete eine Lungenfunktionseinschränkung mit einem Einzel-GdB von 50, die Herzleistungsminderung mit einem Einzel-GdB von 40 und die seelische Störung mit einem Einzel-GdB von 20. Es seien die Nachteilsausgleiche "B" und "aG" begründet, nicht jedoch die Nachteilsausgleiche "RF" und "T".

Mit Bescheid vom 02. November 2004 half der Beklagte dem Widerspruch insoweit ab, als der GdB nunmehr mit 100 festgestellt und dem Kläger auch das Merkzeichen "aG" zuerkannt wurde. Mit Widerspruchsbescheid vom 24. November 2004 erkannte der Beklagte außerdem an, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen "T" erfüllt sind. Im Übrigen wies er den Widerspruch zurück, weil die versorgungsärztliche Beurteilung ergeben habe, dass nach Art und Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "RF" nicht vorlägen.

Mit der dagegen bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger sein Ziel, die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" zu erlangen, weiter verfolgt. Der Kläger hat sich auf eine Epikrise der Medizinischen Klinik und Poliklinik, Schwerpunkt Kardiologie, Angiologie und Pneumologie der C, Campus Mitte, vom 20. Oktober 2004 mit Herzkatheterbericht vom 19. Oktober 2004 bezogen. Das Sozialgericht hat zur Ermittlung des Sachverhalts Befundberichte von Dr. A vom 12. April 2005 und Dr. W vom 10. Mai 2005 eingeholt. Die Ärzte haben die ausdrückliche Frage des Sozialgerichts, ob aus ärztlicher Sicht die Teilnahme des Klägers an öffentlichen Veranstaltungen, d.h. an allen, nicht lediglich einzelnen bestimmten Veranstaltungen, aufgrund der Funktionseinschränkungen, selbst unter Zuhilfenahme von orthopädischen Hilfsmitteln (z.B. Roll-stuhl und Benutzung eines Telebusses) auf Dauer ausgeschlossen sei, verneint. Der Beklagte hat versorgungsärztliche Stellungnahmen der Ärztin für Tropenmedizin - Sozialmedizin - Dr. M-S vom 03. Februar 2005, des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S vom 03. Juni 2005, der Internistin OMR R vom 15. Juni 2005 und der Fachärztin für Chirurgie Dr. L vom 12. Juli 2005 vorgelegt.

Durch Urteil vom 24. Februar 2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die behandelnden Ärzte seien sich im Fall des Klägers einig, dass dieser unter Zuhilfenahme von Hilfsmitteln wie Rollstuhl, Telebus und Begleitperson grundsätzlich an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne.

Gegen das am 10. März 2006 zugestellte Urteil hat der Kläger am 21. März 2006 Berufung eingelegt. Er verweist auf einen Arztbrief des Arztes für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. K vom 20. März 2006, in dem die Diagnosen Urtikaria, Wirbelsäulensyndrom und chronische Bronchitis gestellt worden sind.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. Februar 2006 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 19. April 2004 in der Fassung des Bescheides vom 02. November 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. No-vember 2004 zu verurteilen, ihm das Merkzeichen "RF" zuzuerkennen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 20. Juni 2006 sind die Beteiligten zu der beabsichtigten Entscheidung des Senats durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.

II.

Der Senat konnte nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss entscheiden, denn er hält die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich.

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig aber unbegründet. Der Kläger hat, wie das Sozialgericht zutreffend entschieden hat, keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merk-zeichens "RF".

Die Voraussetzungen der Vergabe des Nachteilsausgleichs "RF" sind gemäß § 69 Abs. 4, 5 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) landesrechtlich geregelt und zwar im Land Berlin im Gesetz zum 8. Rund-funkänderungsstaatsvertrag vom 27. Januar 2005, das am 01. April 2005 in Kraft getreten ist. Nach Art. 5 § 6 Abs. 1 Nr. 8 des vorgenannten Gesetzes werden unter anderem auf Antrag von der Rundfunkgebührenpflicht behinderte Menschen befreit, wenn ein GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Hierzu gehören die in Nummer 33 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) 2004 und 2005 (AHP 2004/2005) genannten behinderten Menschen, wie sie bereits in den Entscheidungsgründen der erstinstanzlichen Entscheidung aufgeführt worden sind. Dieser Personenkreis muss allgemein von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen sein. Es genügt nicht, dass sich die Teilnahme an einzelnen, nur gelegentlich stattfindenden Veranstaltungen bestimmter Art verbietet. Behinderte Menschen, die noch in nennenswertem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können, erfüllen die Voraussetzungen nicht.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich der Senat nach eigener Prüfung anschließt, ist eine enge Auslegung von Gebührenbefreiungsvorschriften, wie sie in den maßgeblichen, aufgrund des Rundfunkstaatsvertrags erlassenen Länderverordnungen geregelt sind, geboten. Danach wird dem Zweck der Befreiung von der Gebührenpflicht für den Rundfunk- und Fernsehempfang dann genügt, wenn der Schwerbehinderte wegen seiner Leiden ständig, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch von Zusammenkünften politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art ausgeschlossen ist. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn er praktisch an das Haus gebunden ist und allenfalls an einer nicht nennenswerten Zahl von Veranstaltungen teilnehmen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 17 m.w.N.). An dieser engen Auslegung ist auch deshalb festzuhalten, weil der genannte Nachteilsausgleich zunehmend zweifelhaft erscheint. Die Nachteilsausgleiche sollen nach § 126 SGB IX so gestaltet werden, dass sie zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile oder Mehraufwendungen geeignet sind. Telefon, Radio- und Fernsehgeräte können heute aber nicht mehr als Geräte angesehen werden, die hauptsächlich dem Ausgleich bei Alter, Krankheit und Gebrechlichkeit dienen, denn die Ausstattung der Haushalte mit Rundfunk- und Fernsehgeräten hat sich zum Normalfall entwickelt. Sie finden sich nach den statistischen Erhebungen für die Jahre 1988 bis 1991 sowohl in den Zwei-Personen-Haushalten von Rentnern, Sozialhilfeempfängern und Personen mit geringem Einkommen als auch im durchschnittlichen Vier-Personen-Haushalt zu 90 - 97% (Telefon) und zu 97 - 99% (Fernseher) (so BSG SozR 3-3870 § 48 Nr. 2 m.w.N.; zuletzt bestätigt durch Urteil des BSG vom 28. Juni 2000 in SozR 3-3870 § 4 Nr. 26).

Nach Auswertung der medizinischen Befunde und Feststellungen ist der Senat davon überzeugt, dass bei dem Kläger keine behinderungsbedingten Mehraufwendungen in Form von Rundfunk- und Fernsehgebühren auszugleichen sind, denn er ist aufgrund seiner Behinderungen praktisch nicht an das Haus gebunden. Der Kläger verfügt über einen Rollstuhl, ihm sind die Merkzeichen "aG", "T" und "B" zuerkannt worden und diese Hilfsmittel und Merkzeichen sind dazu geeignet, seine orthopädischen wie pulmologischen und kardiologischen Behinderungen auszugleichen. Mit Hilfe einer Begleitperson ist es ihm daher möglich, öffentliche Ver-anstaltungen aufzusuchen. Dass er dazu möglicherweise den Telebus rechtzeitig vor einer Veranstaltung bestellen muss und nicht spontan jede Veranstaltung aufsuchen kann, rechtfertigt nicht die Zuerkennung des Merkzeichens "RF", denn auch nicht behinderte Menschen, die ar-beiten müssen oder Kinder und Kranke zu versorgen haben, sind nicht in der Lage, spontan jede nur erdenkliche Veranstaltung aufzusuchen.

Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, wegen seiner Harninkontinenz nicht ständig an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind nämlich Behinderte, die an einer Harninkontinenz mit unwillkürlichem Harnabgang leiden, nicht allein aus diesem Grunde gehindert, an öffentlichen Ver-anstaltungen teilzunehmen, weil es ihnen zumutbar ist, Windelhosen zu benutzen, die den Harn bis zu zwei Stunden ohne Geruchsbelästigung für andere Menschen aufnehmen. Dies verstößt weder gegen die Würde des Menschen (Art. 1 Grundgesetz - GG -) noch gegen den Sozial-staatsgrundsatz (Art. 20 Abs. 1 GG). Der Behinderte wird dadurch auch nicht zum Objekt des Staates gemacht oder einer Behandlung ausgesetzt, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt (so BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 17).

Letztlich bestätigen die eigenen Schilderungen des Klägers die Auffassung des Senats, dass der Kläger wegen seiner Behinderungen nicht praktisch an das Haus gebunden ist. Es war ihm nämlich nicht nur möglich, die Gerichtsverhandlung bei dem Sozialgericht Berlin - also eine öffentliche Veranstaltung - am 24. Februar 2006 aufzusuchen. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2005 selbst ausgeführt, nach der Bewilligung des Rollstuhls in der Lage zu sein, die Wohnung zu verlassen, um die Bibliothek aufzusuchen, soziale Kontakte zu pflegen und vieles mehr zu tun, etwa seinen Enkeln beim Fußballspiel zuzuschauen. Diese Freizeitakti-vitäten zeigen exemplarisch, dass der Kläger nicht unter den Personenkreis fällt, bei dem die Vergabe des Merkzeichens RF" gerechtfertigt ist.

Die Berufung war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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