L 18 SB 56/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 16 SB 90/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 56/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9a SB 46/06 B
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 30.01.2003 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB).

Bei dem 1956 geborenen Kläger waren erstmals mit Bescheid vom 28.09.1998 als Behinderungen mit einem Gesamt-GdB von 50 festgestellt: 1. Alkoholerkrankung (Einzel-GdB 30), 2. Seelische Störung (Einzel-GdB 30), 3. Leberschaden, chronische Entzündung der Bauchspeicheldrüse (Einzel-GdB 10), 4. Herzrhythmusstörungen (Einzel-GdB 10), 5. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 10).

Anlässlich einer Überprüfung von Amts wegen zog der Beklagte Befundberichte der behandelnden Ärzte bei und holte versorgungsärztliche Stellungnahmen ein, nach denen insbesondere die Folgen der Alkoholerkrankung nicht mehr vorlägen. Nach entsprechender Anhörung des Klägers stellte der Beklagte mit Änderungsbescheid vom 06.03.2001 die Behinderungen mit einem Gesamt-GdB von 40 wie folgt neu fest: 1. Seelische Störung (Einzel-GdB 30), 2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizer scheinungen (Einzel-GdB 20), 3. Leberschaden, chronische Entzündung der Bauchspeicheldrüse (Einzel-GdB 10), 4. Herzrhythmusstörungen (Einzel-GdB 10).

Im Widerspruchsverfahren holte der Beklagte weitere Befundberichte und eine versorgungsärztliche Stellungnahme ein. Den Widerspruch wies er mit Widerspruchsbescheid vom 22.01.2002 zurück. Es verbleibe dabei, dass im Vergleich zu den für den Bescheid vom 28.09.1998 maßgeblichen Verhältnissen hinsichtlich der Alkoholkrankheit eine Heilungsbewährung eingetreten sei und deshalb der Gesamt GdB nur mehr 40 betrage. Die im Bescheid vom 06.03.2001 getroffenen Feststellungen seien zu ergänzen: 2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Verände rungen, Bandscheibenschäden, Schulter-Arm-Syndrom (Einzel- GdB 20) und 5. Mittelnervendruckschädigung - Carpaltunnelsyndrom (Einzel- GdB 10).

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Nürnberg hat sich der Kläger weiter gegen die Herabsetzung des GdB gewandt. Das SG hat Befundberichte und Unterlagen der behandelnden Ärzte beigezogen und den Neurologen und Psychiater Dr.H. mit Gutachten vom 20.09.2002 gehört. Dieser hat ausgeführt, dass die Alkoholkrankheit erfolgreich behandelt sei, aber eine Verschlimmerung der Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule eingetreten sei (zusätzliche Wurzelreizsymptomatik mit Gefühlsminderung in einem Finger). Hier sei ein Einzel-GdB von 20 anzunehmen. Neu hinzugetreten sei ein Carpaltunnelsyndrom rechts (Einzel-GdB 10). Wie bisher sei die seelische Störung angemessen mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet. Das SG hat ein weiteres Sachverständigengutachten vom Arzt für öffentliches Gesundheitswesen Dr.H. eingeholt. Dieser kam in dem Gutachten vom 30.01.2003 zum Schluss, dass die seelische Störung mit einem Einzel-GdB von 30 richtig bewertet sei. Von Seiten der Wirbelsäule ergebe sich eine gute funktionelle Situation bei Zustand nach Wurzelreizsymptomatik und Restgefühlsstörungen. Weiter bestehe eine Wirbelsäulen-Fehlstatik mit vermehrter Rundrückenbildung. Die Bewertung mit einem Einzel-GdB von 20 schöpfe das ärztliche Ermessen bereits aus.

Das SG hat mit Urteil vom 30.01.2001 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es sich auf die Gutachten des Dr.H. und des Dr.H. gestützt.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er hält daran fest, dass die bei ihm vorliegenden Behinderungen weiterhin mit einem Gesamt-GdB von 50 zu bewerten seien. Er leide weiterhin unter den Folgen der Alkoholkrankheit. Die Auswirkungen des bei ihm bestehenden Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms seien erheblich stärker als vom SG angenommen. Seine Wirbelsäulenprobleme seien nicht ausreichend bewertet worden. Das Zusammenwirken der einzelnen Beschwerdekomplexe verstärke seine gesundheitlichen Probleme.

Der Senat hat ein Gutachten des Neurologen Dr.B. vom 02.02.2005 eingeholt. Dieser hat auf seinem Fachgebiet ein mittelgradiges (Hals-)Wirbelsäulensyndrom festgestellt, das mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sei. Der ebenfalls vom Senat gehörte Orthopäde Dr.B. hat beim Kläger leichte Bewegungseinschränkungen und eine Schmerzsymptomatik bei degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule (Einzel-GdB 10) einschließlich einer sensiblen Wurzelkompressionssymptomatik (Einzel-GdB 10) festgestellt und insgesamt für die orthopädischen Behinderungen einen Einzel-GdB von 20 vorgeschlagen (Gutachten vom 08.10.2004). Der vom Senat beauftragte Neurologe und Psychiater Th.K. ist in seinem Gutachten vom 28.04.2005 zum Schluss gekommen, dass beim Kläger eine stärker behindernde seelische Störung (Persönlichkeitsstörung, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (Einzel-GdB 30) und eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit sensiblen Nervenwurzelreizerscheinungen (Einzel-GdB 10) vorliege. Er hat aus nervenärztlicher Sicht einen Gesamt-GdB von 30 vorgeschlagen.

Der Kläger hat sich zum Gutachten vom 28.04.2005 geäußert. Entgegen den Angaben des Sachverständigen fühle er sich in seiner beruflichen Situation gesundheitlich hoffnungslos überlastet. In seiner Partnerschaft bestünden Probleme, die ihn sehr stark belasten. Die psychotherapeutische Behandlung sei abgebrochen worden, weil diese ihn bei der Bewältigung seiner Probleme nicht mehr weitergebracht habe.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des SG Nürnberg vom 30.01.2003 und den Bescheid des Beklagten vom 06.03.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.01.2002 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Akten des Beklagten und auf die Gerichtakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 06.03.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.01.2002 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger kann die Aufhebung dieser Bescheide nicht verlangen.

Rechtsgrundlage der Entscheidung des Beklagten ist § 48 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Ob eine wesentliche Änderung vorliegt, ist durch Vergleich der für die letzte bindend gewordene Feststellung maßgebenden Befunde mit denjenigen zu ermitteln, die bei der Prüfung der Neufeststellung vorliegen.

Seit Erlass des Bescheides vom 28.09.1998 ist eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten, die eine Herabsetzung des Gesamt-GdB auf 40 rechtfertigt. Eine Besserung der gesundheitlichen Verhältnisse hat sich dadurch ergeben, dass hinsichtlich der Alkoholkrankheit eine Heilungsbewährung eingetreten ist. Die beim Kläger tatsächlich noch bestehenden Behinderungen hat der Beklagte mit einem Gesamt-GdB von 40 zutreffend bewertet.

Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten und aus den im Berufungsverfahren erstellten Gutachten der Sachverständigen Dr.B. , Dr.B. und Th.K ... Danach sind die bei dem Kläger bestehenden psychischen Störungen (Persönlichkeitsstörung und leicht- bis mittelgradiges Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) übereinstimmend als stärker behinderende Störung mit einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bewertet worden. Der nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX), i.d.F. der Ausgabe 2004 -AHP 2004-, vorgegebene GdB-Rahmen sieht hier einen GdB von 30 bis 40 vor. Es ist entgegen den Ausführungen des Klägers zum Gutachten des TH.K. davon auszugehen, dass die Funktionsfähigkeit des Klägers im Alltag noch im Wesentlichen erhalten ist und auch eine manifeste depressive Störung nicht besteht, so dass die seelischen Störungen mit einem GdB von 30 zu bewerten sind. Die geringgradigen Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen führen zu einem GdB von 20. Schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt oder anhaltende Funktionsstörungen infolge Wurzelkompression mit motorischen Ausfallerscheinungen, die nach den AHP 2004 einen höheren GdB rechtfertigen könnten, liegen beim Kläger nicht vor.

Bei Würdigung dieser Einzel-GdB ist der Gesamt-GdB mit 40 einzuschätzen. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 69 Abs 3 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch -SGB IX-). Die Gesamtauswirkung der Behinderung darf nicht durch Anwendung irgendwelcher mathematischer Formeln, sondern muss aufgrund einer nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung festgesetzt werden (BSG SozR 3870 § 3 Nr 4 zum im Wesentlichen inhaltsgleichen § 4 Abs 3 Satz 1 Schwerbehindertengesetz).

Auszugehen ist i.d.R. von der Funktionsbeeinträchtigung, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. zum Ganzen: AHP 2004 Nr 19).

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist es nicht möglich, aus den beim Kläger bestehenden Beeinträchtigungen einen Gesamt-GdB von 50 zu bilden, da dies ein unzulässiges Zusammenrechnen der hier zu berücksichtigenden Einzel-GdB von 30 und 20 bedeuten würde. Vielmehr ist der höchste Einzel-GdB von 30 für die seelischen Störungen um 10 wegen des Einzel-GdB für die Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule von 20 zu erhöhen. Ein GdB von 50 lässt sich auch deshalb nicht rechtfertigen, weil ein Gesamt-GdB nach den AHP 2004 (Nr 19 S 25) beispielsweise nur angenommen werden kann, wenn die Gesamtauswirkung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen so erheblich ist wie etwa bei Verlust einer Hand oder eines Beines im Unterschenkel, bei einer vollständigen Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule, bei Herz-Kreislaufschäden oder Einschränkungen der Lungenfunktion mit nachgewiesener Leistungsbeeinträchtigung bereits bei leichter Belastung. Eine solche Gesamtauswirkung der Behinderungen liegt beim Kläger nicht vor.

Nach alledem ist die Entscheidung des SG nicht zu beanstanden und daher die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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