L 1 R 196/05

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 29 RA 991/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 R 196/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. September 2004 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit steht, ob die Beklagte die Altersrente des Klägers für die Zeit ab 1. Januar 1994 oder erst für die Zeit ab 1. Dezember 1998 neu festzustellen hat:

Der im geborene Kläger war zwischen April 1943 und November 1991 durchgängig bei der Deutschen Reichspost bzw. bei der Deutschen Post der DDR beschäftigt. Die Beklagte bewilligte ihm mit Bescheid vom 22. April 1993 eine Regelaltersrente mit Beginn ab 1. April 1992. Während des anschließenden Widerspruchsverfahrens stellte sie die Altersrente mit Bescheiden vom 11. Januar 1994 und vom 1. Juni 1995 neu fest. Im sich anschließenden Klageverfahren schlossen die Beteiligten vor dem Sozialgericht Berlin (SG) am 15. April 1998 einen Vergleich, wonach die Beklagte Zeiten im Jahre 1945 als Pflichtbeitragszeiten anerkannte, der Kläger im Gegenzug die Klage im Übrigen zurücknahm (Az.: S 4 An 8341/95). Die Beklagte stellte die Rente mit Bescheid vom 14. Mai 1998 neu fest. Der Kläger bat in der Folgezeit um Überprüfung betreffend die Anerkennung seiner Ausbildung als Beamtenanwärter zwischen 1943 und 1945. Mit Bescheid vom 5. Oktober 1998 lehnte die Beklagte eine Rücknahme nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ab.

Der Kläger beantragte bezugnehmend auf die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. November 1998 mit Schreiben vom 2. Dezember 1998 eine Neuberechnung seiner Rente unter Berücksichtigung seines den monatlichen Betrag von 600,00 M übersteigenden Arbeitsverdienstes für die Zeit vom 1. März 1971 bis 31. Dezember 1973. Mit Bescheid vom 11. November 2002 stellte die Beklagte die Regelaltersrente ab 1. Dezember 1998 neu fest und berücksichtigte dabei für die Zeit vom 1. März 1991 bis 31. Dezember 1973 das 600,00 M übersteigende Arbeitsentgelt. Als Grund für die Neufeststellung gab sie dabei die gesetzlichen Neuregelungen im Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes vom 27. Juli 2001 (2. AAÜG-ÄndG) an. Für Beschäftigungszeiten bei der Deutschen Post seien danach zusätzliche Entgelte zu berücksichtigen. Die Festsetzung erfolge für die Zeit ab 1. Dezember 1998. An diesem Tag seien die gesetzlichen Neuregelungen in Kraft getreten seien, weil der bisherige Rentenbescheid am 10. November 1998 bereits bindend gewesen. Der Kläger erhob Widerspruch. Der tatsächlich erzielte Arbeitsverdienst müsse nach dem BSG-Urteil von Anfang an berücksichtigt werden. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 9. Januar 2004 zurück. Das 2. AAÜG-ÄndG sei rückwirkend zum 1. Dezember 1998 in Kraft getreten. Die Neufeststellung, welche nach dem dabei eingefügten § 310 a Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) auf Antrag durchzuführen sei, wenn der Rentenbeginn vor dem 3. August 2001 gewesen sei, erfolge nach dem Gesetz frühestens für die Zeit ab 1. Dezember 1998. Dies gelte auch für Überprüfungsanträge nach § 44 SGB X. Davon abweichend sei die Neuberechnung nach § 310 a SGB VI nur dann ab 1. Januar 1992 bzw. ab Rentenbeginn durchzuführen, wenn der Rentenbescheid am 10. November 1998 noch nicht bindend gewesen sei oder erst nach diesem Tag erteilt worden sei. Hier jedoch sei der Rentenbescheid am 10. November 1998 bindend gewesen. Das Klageverfahren gegen den Rentenbe¬scheid vom 22. April 1993 sei durch den Vergleich vom 15. April 1998 beendet gewesen.

In seiner Klage hiergegen hat der Kläger das Abstellen auf die Bestandskraft des ursprünglichen Rentenbescheides für willkürlich gehalten. Es sei reiner Zufall, dass der Rechtsstreit bereits vor dem Stichtag beendet gewesen sei. In anderen Fällen habe die Beklagte die Nachberechnung anstandslos vorgenommen. Er hat in der Verhandlung vor dem SG beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 11. November 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 2004 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, die Bescheide vom 22. April 1993, 11. Januar 1994, 1. Juni 1995 und 14. Mai 1998 zurückzunehmen und die Regelaltersrente unter Berücksichtigung der im Zeitraum vom 1. März 1971 bis 31. Dezember 1973 tatsächlich erzielten Entgelte neu festzustellen. Zuvor hatte der Vorsitzende ihn darauf hingewiesen, dass nach § 44 Abs. 4 SGB X lediglich eine Neufeststellung rückwirkend für vier Kalenderjahre in Betracht komme.

Das SG hat dieser Klage stattgegeben. Der Kläger habe nach § 44 Abs. 1, Abs. 4 SGB X einen Anspruch auf Neufeststellung seiner Altersrente bereits ab 1. Januar 1994. Die Beklagte habe zwar den durch das 2. AAÜG-ÄndG eingeführten § 310 a SGB VI zutreffend angewandt. Al¬lerdings folge der Anspruch des Klägers bereits unmittelbar aus § 256 a SGB VI in der bis dahin geltenden Fassung (nachfolgend: "alte Fassung” = a. F.). Das Gericht folge dem Urteil des BSG vom 10. November 1998 - B 4 RA 32/98 R -. Demnach sei in der fraglichen Zeit vom 1. März 1971 bis 31. Dezember 1973 der gesamte Arbeitsverdienst versicherter Verdienst im Sinne des § 256 a SGB VI a. F ...

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Das SG hätte § 256 a Abs. 2 SGB VI nicht in der alten Fassung anwenden dürfen, weil ausschließlich das neue Recht anzuwenden sei (Bezugnahme auf Urteil des BSG vom 11. Dezember 2002 – B 5 RJ 14/00 R –)(Blatt 37 f).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Berlin vom 23. September 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Vorgang der Beklagten verwiesen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstan¬den erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat Erfolg. Die Klage auf (Teil-)Rücknahme der Rentenfeststellungsbescheide vom 22. April 1993, 11. Januar 1994, 1. Juni 1995 und 14. Mai 1998 ist unbegründet. Der dies ablehnende Bescheid vom 11. November 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 2004 ist rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht (§ 54 Abs. 1, Abs. 2 Sozialge¬richtsgesetz [SGG]).

Für die Frage, ob die aufgeführten Bescheide zurückzunehmen sind, ist nur auf die §§ 310 a und 256 a Abs. 2 SGB VI in der Fassung der Änderungen durch das 2. AAÜG-ÄndG (nachfol¬gend: "neue Fassung" = n. F.) abzustellen. In § 256 a Abs. 2 SGB VI n. F. ist klargestellt, dass entgeltpunktfähiger Arbeitsverdienst im Sinne der Vorschrift nur solcher ist, für den "jeweils" Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt wurden, jedoch nicht die 600,00 M monatlich übersteigenden Entgelte der Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post. Nach der alten Fassung - ohne die Klarstellung "jeweils"- war unklar, ob auch Arbeitsverdienst (insgesamt) entgeltpunktfähig sein konnte. Der 4. Senat des BSG hatte dies im Urteil vom 10. November 1998 – B 4 RA 32/98 R – für die Mitarbeiter der Deutschen Post und Deutschen Reichsbahn bejaht.

Gesetzesänderungen sind rückwirkend zu berücksichtigen, wenn und soweit die gesetzliche Regelung nach ihrem zeitlichen Geltungsbereich das streitige Rechtsverhältnis erfassen will (BSG, Urteil vom 11. Dezember 2002 – B 5 RJ 14/00 RBSGE 90,197,198). Nach Art. 13 Abs. 12 2.AAÜG-ÄndG ist § 310 a SGB VI mit Wirkung vom 1. Dezember 1998 in Kraft getreten, es sei denn, am 10. November 1998 wäre ein Rentenbescheid mit Beschäftigungszei¬ten bei der Deutschen Reichsbahn oder bei der Deutschen Post noch nicht bindend bewilligt. § 310 a SGB VI ist eine spezielle Regelung und normiert in Abweichung von § 44 Abs. 1, Abs. 4 SGB X, dass eine Neufeststellung frühestens für die Zeit ab 1. Dezember 1998 erfolgen kann. Ab diesem Zeitpunkt tritt nach Artikel 13 Abs. 12 2.AAÜG-ÄndG auch der neue § 256 a Abs. 2 SGB VI in Kraft. Damit ist eine Rücknahme nach § 44 Abs. 1 SGB X für Zeiten vor dem 1. Dezember 1998 unter Berufung auf § 256 a Abs. 2 SGB VI a. F. nicht mehr möglich. Der Gesetzgeber hat demnach einer Rücknahme unter Bezugnahme auf § 256a Abs. 2 SGB VI a. F. in der Auslegung durch den 4. Senat des BSG rückwirkend die Grundlage entzogen.

Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese so genannte Rückwirkung. Es handelt sich nur um eine so genannte unechte Rückwirkung, die vorliegt, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet (so BVerfGE 101, 239, 263; Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 7. Auflage 2004 Art. 20 Rdnr. 69 mit weiteren Nachweisen). Art. 12 Abs. 13 2.AAÜG-ÄndG lässt bestandskräftige Rentenbewilligungen unberührt. Lediglich für Anträge auf Neufeststellungen wird das Vertrauen auf den Fortbestand des § 256 a Abs. 2 SGB VI a. F. enttäuscht. Die Frage kann jedoch dahingestellt bleiben, weil die gesetzliche Regelung auch dann verfassungsgemäß wäre, wenn es sich um eine echte Rückwirkung handeln würde. Eine echte Rückwirkung ist dann möglich, wenn das verfassungsrechtlich grundsätzlich gebotene Rückwirkungsverbot, das seinen Grund im Vertrauensschutz hat, zurücktritt, weil kein schützenswertes Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts besteht (BVerfGE 101, 239, 263f mit weiterem Nachweis). Dies kann der Fall sein, wenn die rückwirkend geänderte Rechtslage unklar war, sodass sich ein Vertrauen des Einzelnen in den Bestand von Rechtsnormen und Rechtsakten nicht bilden konnte (vgl. BVerfGE 88, 384, 404; BSG, Urt. vom 25.06.1998 –B 7 2/98R- BSGE 82, 198, 204). Eine solche Situation lag hier vor. Der Kläger hatte und hat nicht auf den Fortbestand des § 256a Abs. 2 SGB VI a. F. vertraut. Die skizzierte Auslegung durch den 4. Senat des BSG stand konträr zur Praxis der Rentenversicherungsträger. Diese hatten den fraglichen Relativsatz des § 256a Abs. 2 Satz 1 SGB VI a. F. ("für die Pflichtbeiträge gezahlt worden sind") auch auf Arbeitsverdienste bezogen, und blieben auch nach den Entscheidungen des BSG bei ihrer Auffassung (vgl. Wollschläger DRV 1999 Seite 675, 679 ff mit ausführlicher Begründung unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien). Überdies ist bei verfahrensrechtlichen Vorschriften eine Durchbrechung des Rückwirkungsverbotes eher möglich (vgl. BVerfGE 63, 343, 359). Hier handelt es sich – wie ausgeführt – nicht um eine rückwirkende Einschränkung eines festgestellten Rentenanspruches sondern nur um eine teilweise Einschränkung einer Vorschrift des Verfahrensrechts, § 44 SGB X.

Die Beklagte hat Art. 13 Abs. 12 2.AAÜG-ÄndG richtig angewendet. Insbesondere war der Rentenbescheid des Klägers mit Beschäftigungszeiten der Deutschen Post zum Stichtag bereits bindend bewilligt. Die Vorschrift stellt speziell auf diese Beschäftigungsverhältnisse ab, so dass es auf das im November 1998 noch anhängige Neufeststellungsverfahren hinsichtlich an¬derer Zeiten (1943-1945) nicht ankommen kann.

Die Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 SGG entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Dem Rechtsstreit kommt insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung zu (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Es handelt sich um eine Übergangsproblematik, die über fünf Jahre nach Inkrafttreten des 2. AAÜG-ÄndG einen singulären Fall betrifft.
Rechtskraft
Aus
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