L 3 RJ 95/99

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 11 RJ 65/98
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 3 RJ 95/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 08.04.1999 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig sind Ansprüche der Klägerin gegenüber der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von angegebenen Pflichtbeitragszeiten in den Jahren 1939 bis 1942 in der Slowakei insbesondere hinsichtlich der Zugehörigkeit der Klägerin zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK).

Die 1922 in H ... in der Ostslowakei geborene Klägerin ist Jüdin, anerkannte Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) und seit 1948 israelische Staatsangehörige. An ihrem Geburtsort besuchte sie von 1929 bis 1934 eine slowakische Volksschule und anschließend bis 1938 eine slowakische Bürgerschule, in der Deutsch als Lehrfach unterrichtet wurde. Nach den Jahren der Verfolgung von 1942 bis 1945 lebte sie in P ... und B ..., von wo aus sie 1945 in das damalige Palästina auswanderte. Seit 1948 lebt sie in Israel.

Am 13.11.1995 beantragte die Klägerin die Zulassung zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge gemäß dem Zusatzabkommen zum deutsch-israelischen Sozialversicherungsabkommen (ZusAbk DISVA). Im Rahmen des von ihr selbst zunächst ohne anwaltlichen Beistand betriebenen Verwaltungsverfahrens gab sie an, ab 1941 eine Schneiderlehre begonnen zu haben. In einem von ihr unterschriebenen Fragebogen zur Zugehörigkeit zum dSK vom 09.06.1996 gab sie an, bis 1940 Tschechisch und Deutsch in Wort und Schrift beherrscht zu haben. Im Herkunftsland habe sie Jiddisch, zu Hause im persönlichen Lebensbereich wie auch außerhalb des persönlichen Lebensbereiches überwiegend Jiddisch gesprochen. In der Volksschule sei als zweite Sprache Deutschunterrichtet worden. Sie habe deutsche Bekannte und Nachbarn gehabt. Sie stütze ihre Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis darauf, dass zu Hause und in der Schule oft Deutsch gesprochen worden sei. Ihr Vater habe Jiddisch, Deutsch und Tschechisch beherrscht und im persönlichen Lebensbereich, außerhalb des persönlichen Lebensbereiches und im Beruf Jiddisch und Deutsch gesprochen. Ihre Mutter habe Deutsch und Tschechisch beherrscht, im persönlichen Lebensbereich sowie außerhalb überwiegend Jiddisch gesprochen.

Die Beklagte zog die Entschädigungsakte der Klägerin bei und veranlaßte eine Sprachprüfung beim israelischen Finanzministerium. Des weiteren holte die Beklagte Auskünfte des israelischen Finanzministeriums des internationalen Suchdienstes in Arolsen sowie der Heimatauskunftstelle Slowakei einschließlich Karpatho-Ukraine ein.

Im weiteren, nunmehr mit Hilfe ihres Bevollmächtigten betriebenen Verfahrens reichte die Klägerin zur Glaubhaftmachung ihrer Beschäftigungszeit eine eidesstattliche Erklärung der Zeugin M ... M ... G ... ein.

Mit Bescheid vom 11.11.1997 wies die Beklagte den Antrag zurück: Weder die Versicherungszeiten noch die Zugehörigkeit der Klägerin zum dSK seien glaubhaft gemacht. Nach ihren eigenen Angaben im Fragebogen vom 09.06.1996 habe die Klägerin im persönlichen Lebensbereich überwiegend Jiddisch gesprochen. Die geltend gemachten Beschäftigungszeiten seien wegen widersprüchlichen Vortrags auch nicht glaubhaft. Denn in dem im Fragebogen vom 09.06.1996 verfaßten Lebenslauf habe die Klägerin noch angegeben, nach Beendigung der Schule in den Jahren 1938 bis 1941 der Mutter im Haushalt geholfen zu haben.

Mit ihrem Widerspruch trug die Klägerin vor, Jiddisch sei ein deutscher Dialekt. Einer zur Glaubhaftmachung der Eigenangaben eingereichten Erklärungen ihrer Schwester M ... M ... H ... ist die Angabe zu entnehmen, die Klägerin habe nie eine jiddische Sprache erlernt oder beherrscht. Mit Bescheid vom 26.02.1998 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Mit der Klage hat die Klägerin vorgetragen, ihre Zugehörigkeit zum dSK ergebe sich aus dem guten Ergebnis der Sprachprüfung.

Das Sozialgericht hat die Rentenakten und Entschädigungsakten der Schwester S ... O ... beigezogen und Auskünfte von Heimat auskunftstellen, des ITS Arolsen und des israelischen Finanzministeriums eingeholt.

Mit Urteil vom 08.04.1999 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Auf die Urteilsgründe wird Bezug genommen.

Gegen das am 16. April 1999 zugestellte Urteil richtet sich die am 23. April 1999 eingegangene Berufung, mit der gefordert wird, nicht den ursprünglichen Eigenangaben der Klägerin, sondern den im Verfahrensverlauf nachgereichten Auskünften zum Sprachgebrauch im Elternhaus und in der Jugend sowohl der Klägerin selbst wie auch ihrer Gewährspersonen Glauben zu schenken. Hierzu legt die Klägerin eine Erklärung der H ... M ... vor, in der Deutsch als dominante und überwiegend verwendete Sprache im Elternhaus der Klägerin dargestellt wird.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung ist die Klägerin nicht erschienen; sie war in diesem Termin auch nicht vertreten. Ihrem schriftsätzlichen Vorbringen ist dem Antrag zu entnehmen, das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 08.04.1999 abzuändern und nach ihrem ererstinstanzlichen Antrag zu erkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat eine erneute Sprachprüfung der Klägerin in Israel veranlaßt. Dort hat sie gegenüber der deutschen Botschaft schriftlich angegeben, Vater und Mutter seien deutscher Muttersprache gewesen, im Elternhaus sei überwiegend Deutsch, kein Jiddisch, wenig Tschechisch und wenig Slowakisch gesprochen worden. In der Tätigkeit als Schneiderin in einem Salon H ... von 1939 bis 1942 habe sie überwiegend oder teilweise Deutsch und nicht Jiddisch gesprochen. Die Verwendung weiterer Sprachen im Beruf gab die Klägerin nicht an. Die bei der Sprachprüfung entstandene Tonbandaufzeichnung ist in der mündlichen Verhandlung vom 20.11.2000 teilweise abgespielt worden.

Zu weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, der Akten aus dem Entschädigungsverfahren sowie der Akten aus dem Entschädigungsverfahren der Schwester Shoshana Urenstein verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat hat auf der Grundlage von § 110 Abs. 1, 126 SGG in Abwesenheit der Klägerin und ihres Prozeßbevollmächtigten verhandelt und entschieden. Auf diese Möglichkeit ist der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin mit der ihm ausweislich des Empfangsbekenntnisses vom 26.10.2000 zugegangenen Ladung hingewiesen worden.

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet und aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurückzuweisen. Mit Rücksicht hierauf sieht der Senat von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, soweit sie den Sachstand zum Zeitpunkt der sozialgerichtlichen Entscheidung erfassen (§ 153 Abs. 1 SGG).

Auch unter Berücksichtigung des Vortrags und der weiteren Ermittlungsergebnisse im Berufungsverfahren ist die Entscheidung des Sozialgerichts richtig.

Der Klägerin stehen die geltend gemachten Ansprüche nicht zu, weil sie vor der Verfolgung nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes angehört hat.

Nach dieser auch vom Senat vertretenen Rechtsprechung wird für die Zugehörigkeit zum dSK zum einen eine qualitativ gute Beherrschung der deutschen Sprache im Sinne einer muttersprachlichen Beherrschung verlangt. Dass die Klägerin noch aktuell über gute Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und unter Berücksichtigung einer vermutlich im Zeitverlauf eingetretenen Sprachentwöhnung erst Recht vor dem Einsetzen der deutschen Verfolgung verfügt haben kann, steht als Ergebnis der Anhörung der Klägerin sowohl im Verwaltungsverfahren wie auch um zweitinstanzlichen Gerichtsverfahren fest.

Dies alleine genügt jedoch nicht zum Beleg der Zugehörigkeit zum dSK. Neben der muttersprachlichen Beherrschung ist es vielmehr weiterhin erforderlich, dass die deutsche Sprache im persönlichen Lebensbereich im quantitativen Verhältnis zu anderen Sprachen des Herkunftsgebietes überwiegend gebraucht wurde. Bei diesem weiteren Merkmal sind grundsätzlich alle Formen der sprachlichen Kommunikation in Betracht zu ziehen und der mündliche Austausch sowohl in der Familie, als auch im Freundes- und Bekanntenkreis, weiterhin die Lektüre von Büchern und Zeitschriften, das Verfassen persönlicher Aufzeichnung sowie der Briefwechsel mit Verwandten und Bekannten zu berücksichtigen (u.a. Urteile des BSG vom 10.03.1999 B 13 RJ 87/97 R, B 13 RJ 25/98 R, B 13 RJ 65/98, B 13 RJ 81/98 sowie B 13 RJ 83/98); Urteil des Senats vom 18.09.2000, L 3 RJ 116/99).

Dieses Merkmal einer Zugehörigkeit zum dSK erfüllt die Klägerin nicht. Denn bei Würdigung aller Umstände, insbesondere auch der Eigenaussagen der Klägerin bei ihrer Anhörung im Februar 2000 ist es nicht nur nicht glaubhaft gemacht, dass Deutsch die überwiegend gesprochene Sprache der Klägerin vor Beginn der deutschen Einflußnahme in ihrem Herkunftsgebiet war. Es steht vielmehr zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin seinerzeit überwiegend Jiddisch gesprochen hat.

Soweit die Klägerin ihre ursprüngliche Eigenangabe zum überwiegenden Gebrauch des Jiddischen im Elternhaus sowie im persönlichen Lebensbereich außerhalb des Elternhauses nunmehr dadurch zu erklären versucht, sie habe Jiddisch für einen unselbständigen Dialekt der deutschen Sprache, vergleichbar etwa dem bayerischen Dialekt gehalten, ist dies zunächst als Beitrag zur Glaubhaftmachung eines überwiegenden Gebrauches der deutschen Sprache untauglich. Denn dieses Argument ist nur auf dem Hintergrund der weiteren Überlegung schlüssig, dass die Klägerin bei anderer Einschätzung entgegen eigener Kenntnis nicht Jiddisch sondern Deutsch als überwiegend gebrauchten "Dialekt" angegeben, eine also im Kern wahrheitswidrige Angabe gemacht hätte. Diese Argumentation untergräbt daher die Glaubhaftigkeit späterer Eigenangaben der Klägerin als gerade bei der im übrigen schütteren Beweislage wichtiges Mittel der Glaubhaftmachung.

Die Annahme, Jiddisch sei lediglich ein Dialekt der deutschen Sprache, ist zudem falsch. Jiddisch ist die rund 1000 Jahre zurückzuverfolgende Volkssprache der (heute) aschkenasischen (d.h. geographisch im deutschen Sprachgebiet beheimateten) Juden.

Wo sprachwissenschaftlich die Wurzeln der heute eigenständigen Sprache Jiddisch liegen, ist trotz der wohl auch von der Klägerin im Kern angesprochenen teilweisen Parallelen zum Deutschen unklar.

Jiddisch enthält mit romanischen, hebräisch-aramäischen, slawischen und germanischen Elementen gegenläufige Hinweise auf die geographische Herkunft der anfänglich "Jiddisch" sprechenden Bevölkerungsteile (Brockhaus, 19. Auflage, zu: "jiddische Sprache"). So ist bis in jüngste Zeit wissenschaftlich nicht abschließend geklärt, ob die heute zu beobachtenden Elemente aus dem germanischen Sprachraum gleichzeitig ein Beleg für die regionale Herkunft der ursprünglich jiddisch sprechenden Bevölkerungsteile bietet, deren kulturelles und religiöses Zentrum sich später Ostwärts verlagerte (http://www.Phil-Fak. Uni-Duesseldorf.de./Jiddisch/Jiddisch. html) oder ob die geographischen Wurzeln der Mischsprache weiter ostwärts im slawischen Sprachraum bzw. gar in Vorderasien liegen (Johnson, New York Times vom 29.10.1996, http:// www. santa fe. edu/ Johnson/ yiddish.html mit Zusammenstellung der Thesen), und die aktuell feststellbaren germanischen Sprachelemendt durch Adaption bzw. völlige Ersetzung anderersstämmiger dem deutschen Sprachraum entnommener Worte hinzugetreten sind.

Einigkeit besteht jedenfalls darin, dass Jiddisch auf eine lange literarische Geschichte mit Höhepunkten bereits im Mittelalter zurückblickt (Brockhaus, Phil-Fak Uni-Duesseldorf, jeweils aaO m.w.N.). Mit dem wachsenden nationalkulturellen Selbstbewußtsein der Juden Osteuropas wuchs auch das Bewußtsein sprachlichen sprachlichen Eigenständigkeit und führte auf der jüdischen Sprachenkonferenz von Czernowitz zur Anerkennung des Jiddischen als der nationalen Sprache der Juden (Brockhaus aaO, Seite 181). "Mame-Loschn/-Loshn" ("Muttersprache") ist daher auch eine gängige Bezeichnung für "Jiddisch" innerhalb des Jiddischen selbst (Brockhaus, aaO, Seite 180 sowie dessen direkte Übersetzung im englischen Sprachraum (Prager, A Glossary of Yiddisch Words and Phrases, http://www/2.trincoll.edu/Mendele/glossary.htm).

Dass die Klägerin zum Beginn der deutschen Einflußnahme auf ihr Herkunftsgebiet überwiegend Jiddisch und außerhalb des Elternhauses notwendig auch Slowakisch gesprochen hat - hierin folgt der Senat uneingeschränkt der ausführlichen Begründung des Sozialgerichts - war bereits auf dem Hintergrund des sich dem Sozialgericht bietenden Streitstoffes überwiegend wahrscheinlich; spätestens nach den Eigenangaben der Klägerin im Verlauf der erneuten Anhörung bei der deutschen Botschaft in Tel Aviv im Februar 2000 steht es fest: Wie der Senat sich durch Abspielen der bei der Anhörung entstandenen Tonbandaufzeichnung in der mündlichen Verhandlung überzeug hat, hat die Klägerin bei ihrer Anhörung im Gegensatz zu ihren schriftlichen Angaben angegeben, im Kreis der Familie, auf Hochzeiten und bei guten Freunden auch Jiddisch gesprochen zu haben. Später schildert sie, wie ihre Eltern sich auf Deutsch etwas untereinander erzählen, um es den Kindern vorzuenthalten und dann erstaunt waren, dass es die Kinder bereits verstanden. Dies ist, was auch der Gesprächspartner der Klägerin gemerkt und hinterfragt hat, nur dann erklärlich, wenn den Kindern eine andere Sprache bereits geläufig war.

Im weiteren Verlauf der Anhörung will die Klägerin einen Kontrast zu ihrer vorherigen Angabe herstellen, dass sie auf der Schule mit tschechischen Freunden auch Tschechisch gesprochen habe. Sie verspricht sich dabei jedoch und setzt an: "zu Hause: "Nur Jü-," nur "Jü"-, fängt sich dann aber und sagt "nur Deutsch".

Soweit es auf diesem Hintergrund einer weiteren Information zum Verhältnis der deutschen und der jiddischen Sprache in der Jugend der Klägerin bedürfte, liefert sie diese schließlich selbst, in dem sie die Bedeutung und Rolle der deutschen Sprache im Umfeld ihrer Jugend mit der Rolle des Englischen in der heutigen israelischen Gesellschaft aus ihrer Sicht in Beziehung setzt und Deutsch als die damalige Sprache der Elite, der reichen Leute, der "Snobs" ansieht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund zur Zulassung der Revision nach § 160 SGG besteht nicht.
Rechtskraft
Aus
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