L 7 AS 130/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 6 AS 494/05
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 130/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14/7b AS 60/06 R
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 10.04.2006 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger für die Zeit vom 14.07.2005 bis zum 01.11.2005 ein Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zusteht.

Der 1953 geborene Kläger war vom 24.04.2004 bis 07.07.2005 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) K. inhaftiert. Bei seiner Entlassung am 07.07.2005 erhielt er ein Überbrückungsgeld nach § 51 StVollzG in Höhe von 1.138,80 EUR. In einem Beschlusses des OLG M. wurde dem Kläger zur Auflage gemacht, dass er sich unmittelbar nach seiner Entlassung noch am 07.07.2005 in der Fachklinik H. einer stationären Alkoholentwöhnungstherapie zu unterziehen habe. Die Therapiemaßnahme hatte die LVA Schwaben mit Bescheid vom 03.03.2005 als stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation bewilligt. Diese sollte voraussichtlich 16 Wochen dauern. Der Kläger unterzog sich der Therapie vom 07.07. bis 27.10.2005. Mit Schreiben vom 27.10.2005 bestätigte das Fachkrankenhaus H. , dass der Kläger sofort arbeitsfähig sei. Ab 02.11.2005 bezog der Kläger Alg II.

Mit Bescheid vom 12.08.2005 bewilligte der Bezirk Schwaben auf Antrag des Klägers vom 05.07.2005 für die Dauer des Aufenthaltes in der Fachklinik H. Leistungen nach dem SGB XII, und zwar erst ab dem 04.08.2005, weil zuvor das bei der Entlassung aus der JVA erhaltene Überbrückungsgeld einzusetzen sei. Mit Schreiben vom 17.08.2005 meldete der Bezirk Schwaben einen Erstattungsanspruch gemäß §§ 102 ff. Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) bei der Beklagten an.

Noch während der Maßnahme hatte der Kläger am 14.07.2005 bei der Beklagten den Antrag auf Leistungen nach dem SGB II gestellt. Die Beklagte lehnte diesen mit Bescheid vom selben Tag mit der Begründung ab, die Dauer der Unterbringung in einer stationären Einrichtung habe die in § 7 Abs. 4 SGB II genannte Sechsmonatsfrist überschritten.

Mit seinem Widerspruch vom 04.08.2005 machte der Kläger geltend, die Beklagte habe seinen Aufenthalt in der JVA bei der Berechnung der Sechsmonatsfrist des § 7 Abs. 4 SGB II zu Unrecht angerechnet. Mit Widerspruchsbescheid vom 11.10.2005 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, sowohl der Haftaufenthalt als auch die stationäre Entwöhnungskur seien vollstationäre Unterbringungen im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II bzw. diesen gleichgestellt. Nach dem Wortlaut des § 7 Abs. 4 SGB II stelle der Zeitraum von sechs Monaten keine absolute zeitliche Grenze dar, deren Ablauf erst abzuwarten wäre. Aus der Verwendung des Wortes für länger als sechs Monate sei zu schließen, dass eine Prognoseentscheidung zu treffen sei. Bei der Prognoseentscheidung sei auf den Beginn der Einweisung abzustellen. Soweit es sich um mehrere Aufenthalte handele, die lückenlos aneinander anschließen, würden die Teilaufenthalte zu einem Gesamtaufenthalt zusammengezählt.

Zur Begründung seiner am 08.11.2005 zum Sozialgericht Augsburg (SG) erhobenen Klage berief sich der Kläger im Wesentlichen auf sein bisheriges Vorbringen. Er habe sein Überbrückungsgeld einsetzen müssen, das eigentlich erst für die Zeit nach der Haftentlassung gedacht gewesen sei. Haft- und Klinikaufenthalt dürften nicht addiert werden; denn § 7 Abs. 4 SGB II schließe Leistungen nach dem Gesetz lediglich für Personen aus, die länger als sechs Monate in einer, nicht aber in zwei stationären Einrichtung untergebracht seien. Eine JVA sei nach Ansicht des SG Nürnberg (Beschluss vom 09.05.2005 - S 20 SO 106/05) keine stationäre Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II.

Die Beklagte vertrat demgegenüber die Ansicht, bei der Prognoseentscheidung dürfe auf Zeiten vor der Antragstellung Bezug genommen werden, weil es sonst der Antragsteller in der Hand hätte, sich durch Zuwarten den für ihn zuständigen Leistungsträger auszusuchen. Das Bayer. Landessozialgerichts habe am 27.10.2005 (L 11 B 596/05 AS ER) entschieden, dass es sich bei einer JVA um eine stationäre Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II handele.

Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 10.04.2006 unter Aufhebung der angefochtenen Bescheides verurteilt, dem Kläger ab Antragstellung bis 01.11.2005 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, da es sich bei § 7 Abs. 4 SGB VI um eine gesetzliche Fiktion der Nichterwerbsfähigkeit handele, habe die Beklagte zum Zeitpunkt der Antragstellung eine Entscheidung darüber zu fällen, ob der Kläger innerhalb der nächsten sechs Monate wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen werde. Erwerbsunfähig sei derjenige nicht, bei dem zum Zeitpunkt der Antragstellung absehbar sei, dass er innerhalb von sechs Monaten wieder in der Lage sein werde, eine Arbeit aufzunehmen. Zum Zeitpunkt der Antragstellung sei die Prognose dahin zu stellen gewesen, dass der Kläger innerhalb von sechs Monaten seine Suchtbehandlung beendet haben würde und im Anschluss daran auch in der Lage sein werde, eine Arbeit aufzunehmen.

Dass der Kläger bereits vor seiner Antragstellung mehr als sechs Monate stationär untergebracht war, führe nicht zu einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II. Zwar sei die JVA eine stationäre Einrichtung im Sinne von § 7 Abs. 2 SGB II, die dort verbrachte Zeit sei jedoch für die Prognoseentscheidung ohne Bedeutung, da diese auf die künftige Entwicklung ab Antragszeitpunkt keinen Einfluss mehr haben konnte. Vielmehr sei davon auszugehen, dass die freiheitsentziehende Maßnahme mit Entlassung des Klägers am 07.07.2005 abgeschlossen war. Damit sei für die Prognoseentscheidung nur noch der Zeitraum der Entwöhnungsbehandlung relevant gewesen.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 10.05.2006 zugestellte Urteil am 08.06.2006 Berufung eingelegt. Zur Begründung macht sie geltend, bei der JVA handele es sich um eine stationäre Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II. Die Zeiten der Haft und des Aufenthalts in der Fachklinik seien zusammenzurechnen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 10. April 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Aufenthalt in der Klinik habe sich nicht direkt an die Haft angeschlossen, weil er aus der Haft entlassen worden sei und sich freiwillig in die Klinik begeben habe.

Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 13.09.2006 die Geltendmachung des Anspruchs auf den Teil des Alg II beschränkt, um den dieses die Leistungen des Beigeladenen übersteigt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat er ferner die Geltendmachung des Anspruchs auf die Zeit vom 04.08. bis 01.11.2005 beschränkt.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten und die Akten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, weil das SG die Berufung zugelassen hat und auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen vorlie-gen.

Das Rechtsmittel ist bezüglich des im Berufungsverfahrens nur noch geltend gemachten Anspruchs nicht begründet.

Nach § 7 Abs. 1 SGB II erhält Alg II, wer das 15. Lebensjahr vollendet hat, erwerbsfähig und hilfebedürftig ist und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat. Der Kläger hat diese Voraussetzungen für den genannten Zeit-raum erfüllt. Der Anspruch ist entgegen der Ansicht der Beklagten nicht durch § 7 Abs. 4 SGB II ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift erhält derjenige keine Leistungen, der für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Sowohl bei dem Aufenthalt in der JVA als auch in der Klinik handelte es sich um stationäre Aufenthalte im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II. Dass es sich bei der Klinik um eine stationäre Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II handelt, wird auch vom Kläger nicht in Zweifel gezogen.

Auch die Unterbringung in der JVA war eine stationäre Unterbringung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II; denn bei einer JVA handelt es sich um auf Dauer angelegte Organisationseinheiten von sächlichen und personellen Mitteln, die darauf ausgerichtet und geeignet sind, im Aufgabenbereich des Trägers eine anstaltsmäßige Betreuung von Personen über Tag und Nacht sicherzustellen (so auch Spellbrink in: Eicher/Spellbrink, SGB II, § 7 RdNr 34, der darauf abstellt, dass der Einrichtungsträger - wie hier bei einer JVA - von der Aufnahme bis zur Entlassung des Hilfebedürftigen im Rahmen eines Therapie- oder sonstigen Konzeptes die Gesamtverantwortung für dessen tägliche Lebens-führung übernimmt und Gemeinschaftseinrichtungen vorhanden sind (dazu auch Bayer. Landessozialgericht, Beschluss vom 27.10.2005 - L 11 B 596/05; SG Reutlingen, Beschluss vom 01.03.2006 - S 3 KR 330/06).

Die Beklagte konnte für ihre Prognose einer sechsmonatigen Unterbringung nicht auf den Beginn des Haftaufenthaltes abstellen, sondern musste den Beginn der Therapiemaßnahme (07.07. 2005), spätestens aber den Tag der Ablehnung des Antrags (14.07.2005), zugrundelegen. Aus der Verwendung des Wortes für in § 7 Abs. 4 SGB II ist zu schließen, dass eine Prognoseentscheidung zu treffen ist (so Spellbrink a.a.O. § 7 RdNr 35); denn der in § 7 Abs. 4 HS 1 SGB II genannte Zeitraum von sechs Monaten stellt keine absolute zeitliche Grenze dar, deren Ablauf erst abzuwarten wäre, bevor der Leistungsausschluss eintreten könnte. Die Beklagte durfte bei der Prognose nicht auf den Zeitpunkt des Beginns des Aufenthaltes in der JVA abstellen. Es lag nämlich ein einschneidender Wechsel in den Beurteilungsgrundlagen vor; denn die Aufenthalte haben unterschiedliche Zielrichtungen verfolgten. Damit lag ein Sachverhaltswechsel vor, der nicht von einer Prognose zu Beginn des ersten Aufenthaltes abgedeckt werden konnte. Zwar ist es einer Prognose immanent, dass der tatsächliche Verlauf vom prognostizierten Verlauf abweichen kann. Allerdings ist schon während des Unterbringungszeitraums innerhalb einer Einrichtung bei einer neuen Sach- bzw. Erkenntnislage gegebenenfalls erneut eine Prognose hinsichtlich der Dauer der Unterbringung zu stellen (so auch Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 07.03.2006 - L 7 AS 423/05 ER). Dies muss erst recht gelten, wenn sich eine neue, anders gestaltete und einem anderen Zweck dienende Unterbringung an eine vorherige Unterbringung anschließt. Entscheidend für diese Betrachtung ist die unterschiedliche Zielrichtung der stationären Aufenthalte.

Eine andere Beurteilung mag angebracht sein, wenn lediglich ein Wechsel des stationären Aufenthaltsortes erfolgt, der Aufenthalt aber im Wesentlichen die gleiche Zielrichtung verfolgt (etwa bei der Verlegung von einer JVA in eine andere). In diesem Fall kann eventuell auf die gesamte bereits zurückliegende und/oder noch zu erwartende Dauer der stationären Unterbringung abgestellt werden und die Unterbringungen in den verschiedenen Einrichtungen, die sich nahtlos aneinander anschließen, zusammenzurechnen sein. Dann könnte auch das Argu-ment der Beklagten greifen, dass man damit rechnen müsse, dass sich viele Personen, die sich in stationären Einrichtungen aufhalten, bei einem absehbaren Ende dieses Aufenthaltes um die Gewährung von Alg II bemühen. Etwas anderes muss jedoch gelten, wenn der Anschlussaufenthalt einer ganz anderen Zielrichtung dient, nämlich nicht (nur) der Resozialisierung, die der Strafvollzug in erster Linie erreichen soll, sondern vor allem der Verbesserung der Erwerbsfähigkeit.

Dieser Auslegung steht auch nicht das Argument entgegen, § 7 Abs. 4 SGB II würde auch die Vermeidung eines laufenden Zuständigkeitswechsels zwischen verschiedenen Trägem zum Ziel haben z.B. bei einer vorübergehenden Unterbrechung der Haftstrafe (so SG Reutlingen, Beschluss vom 1.3.2006 - S 3 KR 330/06 ER). Denn hier hatte die Folgemaßnahme vorrangig eine andere Zielrichtung als die ursprünglich verbüßte Haftstrafe, nämlich die Wiederherstellung bzw. grundlegende Verbesserung der Erwerbsfähigkeit, so dass ein Zuständigkeitswechsel zu der für Erwerbsfähige zuständigen Arbeitsgemeinschaft auch aus diesem Grunde Sinn macht. Auf diese Weise können bereits frühzeitig entsprechende Maßnahmen ergriffen werden, um eine möglichst reibungslose Eingliederung des Erwerbsfähigen nach der Maßnahme zu erreichen.

Dass die Therapiemaßnahme eine Bewährungsauflage war, steht dem nicht entgegen. Zielrichtung war vorrangig die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte musste daher die Prognose dahingehend treffen, ob der Kläger ab Beginn seines zweiten Aufenthaltes voraussichtlich keine sechs Monate in der Therapie verbringen würde, sondern nur 16 Wochen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Bei dieser wurde berücksichtigt, dass die Beklagte den Kläger nicht darauf aufmerksam gemacht hat, dass der Anspruch auf Alg II teilweise bereits durch die Leistungen des Beigeladenen als erfüllt gilt und dass das Überbrückungsgeld anzurechnen ist.

Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung des Rechtsstreits zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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