S 20 SO 4/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 4/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 SO 93/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 30.08.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.12.2005 verpflichtet, dem Kläger ab 17.06.2005 Hilfe zur Pflege in Höhe der nicht durch Einkommen des Klägers gedeckten Heimpflegekosten zu gewähren. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt der Beklagte.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Hilfe zur Pflege durch Übernahme der ungedeckten Heimkosten am 17.06.2005 ...

Der am 00.00.1939 geborene Kläger ist verheiratet. Er ist als Schwerbehinderter anerkannt nach einem Grad der Behinderung (GdB) von 100, Merkzeichen "aG". Seit 08.01.2004 lebt er im Hermann-Koch-Seniorenhaus E., einer anerkannten zugelassenen Dauerpflegeeinrichtung. Der tägliche Pflegesatz dort beträgt 99,24 EUR. Der Kläger erhält monatlich von seiner Pflegekasse Leistungen nach Pflegestufe I bei vollstationärer Pflege in Höhe von 1279,00 EUR; von der DRV Rheinland erhält er Altersrente, deren monatlicher Zahlbetrag ab Juli 2005 bei 1046,46 EUR, ab September 2005 bei 1044,17 EUR lag; desweiteren erhält der Kläger eine Betriebsrente von monatlich 81,00 EUR.

Nachdem frühere Anträge auf Hilfe zur Pflege wegen vorhandenen einzusetzenden Vermögens, insbesondere wegen Sparvermögen und einer Kapitallebensversicherung der Ehefrau, abgelehnt worden waren, die gegenüber dem Pflegeheim bestehenden Schulden des Klägers aber stetig wuchsen, kündigte die Ehefrau des Klägers den bei der "W" bestehenden Lebensversicherungsvertrag mit Schreiben vom 02.03.2005. Das Versicherungsunternehmen bestätigte die Kündigung zum 01.04.2005 und zahlte 10.235.80 EUR aus. Im April schlossen der Kläger und seine Ehefrau jeweils Bestattungsvorsorgeverträge über je 4.725,00 EUR ab. Der Gesamtbetrag von 9.450,00 EUR wurde am 05.04.2005 vom Girokonto des Klägers abgebucht.

Am 17.06.2005 beantragte der Kläger erneut die Übernahme der ungedeckten Heimkosten. Er listete sein aktuelles Vermögen wie folgt auf Girokonto - 339,50 EUR Sparbuch 217,37 EUR Bestattungsvorsorgevertrag Ehefrau 4. 725,00 EUR Bestattungsvorsorgevertrag Ehemann 4. 725,00 EUR.

Durch Bescheid vom 30.08.2005 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Er führte aus, der Kläger und seine Ehefrau hätten Vermögen in Höhe von 9.667,37 EUR. Unter Belassung eines Freibetrages von 3.214,00 EUR und unter Berücksichtigung von Bestattungsvorsorgebeträgen von 2.500,00 EUR pro Person verbleibe ein Vermögen von 2.239,17 EUR, das vorrangig zur Deckung der Heimkosten einzusetzen sei. Den hiergegen am 07.10.2005 eingelegten Widerspruch wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 06.12.2005 als unzulässig, weil verfristet, zurück: Der Bescheid vom 30.08.2005 sei am selben Tag zur Post gegeben und gelte als spätestens am 02.09.2005 zugestellt. Der Widerspruch hätte bis 04.10.2005 erhoben werden müssen.

Dagegen hat der Kläger am 12.01.2006 Klage erhoben. Er trägt vor, der Bescheid sei am 07.09.2005 zugegangen. Die Berechnung der Beklagten im Bescheid vom 30.08.2005 sei nicht nachvollziehbar; bei zugrunde gelegtem Vermögen von 9.667,37 EUR verblieben nach Abzug der angesetzten Beträge von 3.214,00 EUR und zweimal 2.500,00 EUR nur 1.453,37 EUR, nicht aber 2.239,17 EUR. Der Ansatz von 2.500,00 EUR für angemessene Bestattung und Grabpflege sei zu niedrig; diese Pauschale berücksichtige nicht die Besonderheiten des Einzelfalls.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 30.08.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.12.2005 zu verpflichten, ihm ab 17.06.2005 Hilfe zur Pflege in Höhe der ungedeckten Heimpflegekosten zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist der Auffassung, zum streitgegenständlichen Zeitpunkt habe das gesamte Vermögen 10.453.17 EUR (Rückkaufbetrag aus der Lebensversicherung: 10.235,80 EUR; Sparguthaben: 217,37 EUR) betragen; nach Abzug von 3.214,00 EUR und zweimal 2.500,00 EUR bliebe ein einzusetzendes Vermögen von 2.239,17 EUR. Er sehe in seinem Zuständigkeitsbereich generell einen Betrag von 2.500,00 EUR als für eine angemessene Sterbevorsorge ausreichend an.

Am 30.11.2005 haben der Kläger und seine Ehefrau die Bestattungsvorsorgeverträge auf je 2.500,00 EUR reduziert. Die von dem Vorsorgeunternehmen ausgezahlten 4.557,50 EUR haben sie zur Tilgung der Heimpflegeschulden eingesetzt. Am 31.01.2006 betrugen die Schulden des Klägers gegenüber dem Pflegeheim 15.289,43 EUR. Hierauf zahlt er seit Februar 2006 monatlich 200,00 EUR zur Tilgung.

Durch Bescheid des Landrats des Kreises Düren vom 01.03.2006 ist dem Kläger Pflegewohngeld ab 01.10.2005 in Höhe von monatlich 394,55 EUR bewilligt worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten sowie der Gerichtsakte S 20 SO 18/05 (SG Aachen), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Obwohl im Termin zur mündlichen Verhandlung am 31.10.2006 für den Beklagten niemand erschienen ist, konnte die Kammer verhandeln und entscheiden, da der Beklagte in der ordnungsgemäß zugestellten Ladung auf diese Verfahrensmöglichkeit hingewiesen worden ist. Er hat sich erst kurzfristig vor Beginn des Termins mit Hinweis auf eine akute Erkrankung eines Sachbearbeiters entschuldigt, jedoch ausdrücklich gebeten, in der Sache zu entscheiden.

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide der Beklagten beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Der Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger die Kosten für die stationäre Pflege im Pflegeheim seit dem 17.06.2005 zu gewähren, soweit er diese nicht aus seinen Einkünften (Leistungen der Pflegekasse, Altersrente, Betriebsrente, seit 01.10.2005 auch Pflegewohngeld) aufbringen kann. Denn der Kläger hat kein zumutbar verwertbares Vermögen.

Soweit der Beklagte den am 07.10.2005 gegen den Bescheid vom 30.08.2005 eingelegten Widerspruch als unzulässig, weil verfristet, zurückgewiesen hat, kann diese Entscheidung keinen Bestand haben. Denn der Kläger hat glaubhaft versichert, den Bescheid erst am 07.09.2005 erhalten zu haben. Zwar gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt bei der Übermittlung durch die Post am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X); dies wäre bei dem Bescheid vom 30.08.2005, da er am selben Tag zur Post gegeben wurde, am 02.09.2005 der Fall gewesen; von diesem Datum ausgehend hätte der Widerspruch spätestens am 03.10.2005, einem Montag, erhoben worden sein müssen. Die Zugangsfiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt jedoch nicht, wenn der Verwaltungsakt zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. So liegt es im vor- liegenden Fall, da der Kläger versichert hat, den Bescheid erst am 07.09.2005 erhalten zu haben. Wenn der Beklagte hieran Zweifel hegt, hat er den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen (§ 37 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Diesen Nach- weis hat der Beklagte nicht geführt. Der Widerspruch war daher fristgerecht und zulässig.

Der Anspruch des Klägers auf Hilfe zur Pflege in Höhe der ungedeckten Heimkosten ergibt sich aus §§ 2, 8, 19 Abs. 3, 61 Abs. 2 SGB XII. Der Anspruch besteht nur in der Höhe, wie die Heimkosten nicht durch den Einsatz von Einkommen und Vermögen gedeckt werden können. Die Heimkosten belaufen sich (bei 30 Tagen im Monat) auf 2.977,20 EUR, ausgehend von dem täglichen Pflegesatz von 99,24 EUR. Der Kläger hat monatliches Einkommen, das sich aus der Altersrente (1044,17 EUR), der Betriebsrente (81,00 EUR), der Leistung der Pflegekasse (1.279,00 EUR) und seit 01.10.2005 aus dem Pflegewohngeld (394,55 EUR) zusammensetzt; es beträgt zur Zeit monatlich 2.798,72 EUR. Hiervon hat er jedoch für die Kosten seiner stationären Unterbringung im Pflegeheim nur das Einkommen einzusetzen, das eine bestimmte Einkommensgrenze übersteigt. Das bei einer stationären Leistung in einer stationären Einrichtung zu belassende Mindest- einkommen, dessen Einsatz zur Deckung der Heimkosten nicht verlangt werden darf, ergibt sich aus § 88 Abs. 2 SGB XII. Schon der Vergleich des absoluten Einkommens, erst Recht aber des unter Berücksichtigung des Einkommensfreibetrages verbleibenden einsetzbaren Einkommens mit den Heimkosten zeigt, dass Heimpflegekosten verbleiben, die nicht durch einzusetzendes Einkommen des Klägers gedeckt werden können.

Zur Deckung dieser Restkosten kann der Kläger auch nicht auf sein Vermögen und das seiner Ehefrau verwiesen werden. Dieses belief sich zum Zeitpunkt der erneuten Antragstellung im Juli 2005 auf 9667,37 EUR. Es hat sich in der Folgezeit bis heute weiter vermindert. Der Einsatz des im Juni 2005 bestehenden Vermögenswertes ist dem Kläger nicht zuzumuten gewesen. Gemäß § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII darf die Sozialhilfe nicht vom Einsatz oder von der Verwertung kleinerer Barbeträge oder sonstiger Geldwerte abhängig gemacht werden. Was darunter zu verstehen ist, ergibt sich aus § 1 der Verordnung zur Durchführung des § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII. Für den Kläger und seine Ehefrau ergibt sich hieraus ein Freibetrag von 3.214,00 EUR. Gemäß § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII darf die Sozialhilfe ferner nicht vom Einsatz oder von der Verwertung eines Vermögens abhängig gemacht werden, soweit dies für den, der das Vermögen einzusetzen hat, und für seine unterhaltsberechtigten Angehörigen eine Härte bedeuten würde. Dies ist bei Leistungen nach dem 5. bis 9. Kapitel - die Hilfe zur Pflege ist im 7. Kapitel geregelt - insbesondere der Fall, soweit eine angemessene Lebensführung oder die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung wesentlich erschwert würde (§ 90 Abs. 3 Satz 2 SGB XII). Es ist in der Rechtssprechung anerkannt, dass Ersparnisse älterer Menschen für eine würdige, den persönlichen Vorstellungen entsprechende Bestattung in angemessenem Umfang Schonvermögen im Sinne von § 90 Abs. 3 SGB XII sein können (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.12.2003 - 5 C 84/02 = FEVS 56,302 = NJW 2004, 2914; OVG NRW, Beschluss vom 19.12.2003 - 16 B 2078/03 = FEVS 55,478; OVG Niedersachsen, Urteil vom 23.07.2003 - 4 LB 178/03 = FEVS 55,351).

Soweit der Kläger und seine Ehefrau Bestattungsvorsorgeverträge über je 4.725,00 EUR abgeschlossen haben, hält die Kammer diesen Betrag allerdings für unangemessen hoch. Andererseits ist der vom Beklagten angesetzte Betrag von 2.500,00 EUR pro Person unangemessen niedrig. Die Kammer verkennt nicht, dass die Kosten einer Bestattung - insbesondere in Bezug auf die örtlichen Friedhofsgebühren - von Ort zu Ort erheblichen Schwankungen unterliegen können. Zwar kann im Recht der Sozialhilfe lediglich die erforderlichen Kosten für eine Bestattung angesetzt werden. Zu diesen gehören jedoch zumindest die Aufwendungen für Leichenschau, Leichenbeförderung, Leichengebühren, Sargträger, Sarg, Kranz, Blumen, das Zurechtmachen der Leiche, die Gebühren für die Grabstätte und die Erstherrichtung der Grabstätte und die Aufwendungen für einen einfachen Grabstein (Berlit in: LPK-SGB XII, 7. Auflage, § 74 Rn. 13). Die Kammer hält derzeit einen Betrag von 3500,00 EUR für ausreichend, aber auch für notwendig, um eine im sozialhilferechtlichen Sinne angemessene Bestattung sicherzustellen (ebenso: SG Aachen, Urteil vom 22.03.2006 - S 19 SO 100/05); dies entspricht auch der aktuellen Praxis der Sozialhilfeträger im Kreis Aachen.

Dies zugrunde gelegt ergibt sich für den Juni 2005 folgende Vermögenssituation des Klägers: Sparbuch 217,37 EUR Bestattungsvorsorgevertrag Ehefrau 4.725,00 EUR Bestattungsvorsorgevertrag Kläger 4.725,00 EUR 9.667,37 EUR

abzüglich Freibetrag gemäß 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII - 3.214,00 EUR abzüglich Schonvermögen gemäß § 90 Abs. 3 SGB XII (zweimal 3.500,00 EUR für Bestattungsvorsorge) - 7.000,00 EUR einzusetzendes Vermögen 0,00 EUR.

Bereits zum Zeitpunkt des neuen Leistungsantrags (17.06.2005) hatte der Kläger also kein Vermögen mehr, dessen Einsatz zur Vermeidung von Sozialhilfe zumutbar gewesen wäre. Erst recht gilt dies für die Zeit ab Dezember 2005, da der Kläger und seine Ehefrau am 30.11.2005 die beiden Bestattungsvorsorgeverträge auf jeweils 2.500,00 EUR Versicherungs- summe reduziert und den von dem Vorsorgeunternehmen ausgezahlten Betrag zur Begleichung der Schulden gegenüber dem Pflegeheim eingesetzt haben. Ab Dezember 2005 war daher selbst nach den Vorstellungen des Beklagten in Bezug auf angemessene Bestattungsvorsorge das verbliebene Vermögen des Klägers und seiner Ehefrau in vollem Umfang geschützt.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten, die sowohl die Kosten für das Vorverfahren als auch für das Klageverfahren erfassen, beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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