L 4 P 1424/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 12 P 1281/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 1424/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 28. Januar 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger vom 10. April 2002 bis 30. September 2004 Pflegegeld nach Pflegestufe I des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Elften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) zusteht.

Der am 1966 geborene verheiratete Kläger ist bei der Beklagten pflegeversichert. Aufgrund einer stationären Behandlung vom 31. Mai bis 11. Juni 2002 in der Neurochirurgischen Klinik des Klinikums L. wurden beim Kläger nach dem Arztbrief des Chefarztes Dr. M. vom 11. Juni 2002 als Diagnosen ein Arnold-Chiari-Syndrom mit Syringomyelie, eine Parese und Blasenentleerungsstörung sowie ein latenter arterieller Hypertonus festgestellt. Der Kläger hatte seit über vier Jahren zunehmende Störungen beim Gehen angegeben, wobei er seit ungefähr acht Monaten auf einen Gehstock angewiesen sei. Zugleich habe er auch Schmerzen intermittierend in allen Extremitäten linksbetont sowie in der gesamten Wirbelsäule, auch Schmerzen beim Wasserlassen und beim Stuhlgang bemerkt. Außerdem habe er in letzter Zeit das Gefühl gehabt, die Blase nicht mehr völlig entleeren zu können; ferner habe er häufig unter Schluckauf gelitten (vgl. auch Arztbrief des Oberarztes der genannten Klinik Dr. S. vom 08. Mai 2002). Nach dem früheren Schwerbehindertengesetz (SchwbG) war beim Kläger zunächst ab 01. Januar 1993 ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt, der ab 10. Juli 2000 auf 60 erhöht und schließlich ab 09. Januar 2002 auf 100 (mit den Merkzeichen G und B) heraufgesetzt wurde. Ab 18. September 2004 ist ein GdB von 80 (Merkzeichen B) festgestellt. Die frühere Landesversicherungsanstalt Württemberg (jetzt Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg - DRVBW) anerkannte beim Kläger, der im Übrigen Sozialhilfe sowie später Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) bezog, im beim Sozialgericht (SG) Stuttgart anhängig gewesenen Verfahren S 16 RJ 3337/02 Rente wegen voller Erwerbsminderung (Versicherungsfall 29. März 2001) vom 01. Oktober 2001 bis 31. Dezember 2003, die später aufgrund des Urteils des SG Stuttgart vom 19. November 2004 (S 19 RJ 2305/04) bis zum 30. Juni 2006 (Bescheid vom 06. Dezember 2004) und dann erneut verlängert wurde.

Am 10. April 2002 beantragte der Kläger bei der Beklagten Geldleistungen aus der Pflegeversicherung; er gab Hilfebedarf bei der Ernährung, der Körperpflege und der Bewegung an. Die Beklagte veranlasste die Untersuchung des Klägers in seiner häuslichen Umgebung am 14. Mai 2002 durch Dr. W. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) in S ... In ihrem am 15. Mai 2002 erstatteten Gutachten nannte die Ärztin als Pflege begründende Diagnosen eine Bewegungseinschränkung bei mitgeteiltem Bandscheibenvorfall und ein chronisches Lendenwirbelsäulen-Syndrom. Sie stellte im Bereich der Grundpflege einen Hilfebedarf von sechs Minuten pro Tag fest, nämlich fünf Minuten beim Baden und eine Minute bei der Mobilität (Stehen). Bei der hauswirtschaftlichen Versorgung bestehe ein regelmäßiger Hilfebedarf von 47 Minuten pro Tag. Mit Bescheid vom 23. Mai 2002 lehnte danach die Beklagte die Leistungsgewährung ab, weil die Voraussetzungen für die Pflegestufe I nicht vorlägen. Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Er verwies auf die Krankenhausbehandlung vom 31. Mai bis 11. Juni 2002 und reichte eine Aufstellung über den Hilfebedarf vom 12. November 2002 ein. Dr. W. (Stellungnahme vom 18. November 2002) sowie die Pflegefachkraft H. (Kurzgutachten nach Aktenlage vom 17. Dezember 2002) bestätigten danach, dass die Voraussetzungen für die Pflegestufe I nicht vorlägen, weil die in der vorgelegten Aufstellung gemachten Angaben zum Hilfebedarf im Hinblick auf die dokumentierten Funktionseinschränkungen nicht nachvollziehbar seien, was insbesondere für die viermalige tägliche Ganzkörperwäsche mit jeweils 45 Minuten, die zweimalige tägliche Zahnpflege mit jeweils zehn Minuten und das zweimalige tägliche Aufstehen/Zu-Bett-Gehen mit jeweils 30 Minuten gelte. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid des bei der Beklagten bestimmten Widerspruchsausschusses vom 10. März 2003).

Am 12. März 2003 erhob der Kläger deswegen Klage beim SG Stuttgart. Er machte geltend, dass er Hilfe beim An- und Auskleiden benötigt habe, er habe keine Kraft in den Händen gehabt. Als behandelnde Ärztin nannte er die Ärztin für Neurologie Dr. v. F.-P ... Nach der Untersuchung durch den MDK am 14. Mai 2002 habe der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege zunächst zugenommen. Seit Oktober 2004 gehe es ihm jedoch besser; es sei auch der GdB auf 80 herabgesetzt worden. Ihm stehe jedoch ab Antragstellung bis Oktober 2004 Pflegegeld zu. Die Beklagte trat der Klage unter Vorlage ihrer Verwaltungsakten entgegen. Im Hinblick auf den festgestellten Grundpflegebedarf von lediglich sechs Minuten pro Tag seien die Voraussetzungen für die Einstufung in die Pflegestufe I bei Weitem nicht erfüllt gewesen.

Das SG wies mit Urteil vom 28. Januar 2005 die auf Leistungen bis 30. September 2004 gerichtete Klage ab. Es stützte sich auf die Gutachten des MDK. Auf die Entscheidungsgründe des dem Kläger am 11. April 2005 zugestellten Urteils wird Bezug genommen.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger am 11. April 2005 zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Landessozialgerichts (LSG) Berufung eingelegt. Er wiederholt sein Begehren, ihm bis 30. September 2004 Leistungen zu gewähren. Seine Ehefrau sei bis zum 24. Februar 2004, als er gekündigt worden sei, berufstätig gewesen. Am 02. Mai 2005 hat er angegeben, dass er seit ungefähr fünf Monaten eine Leberverfettung habe und deswegen auch keine übermäßige Bewegung, wie beispielsweise Spazieren gehen, möglich sei. Der Kläger hat auch verschiedene Unterlagen eingereicht.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 28. Januar 2005 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 23. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. März 2003 zu verurteilen, ihm vom 10. April 2002 bis 30. September 2004 Pflegegeld nach Pflegestufe I zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angegriffene Urteil und die streitbefangenen Bescheide für zutreffend.

Der Berichterstatter des Senats hat schriftliche Auskünfte als sachverständige Zeugen der Dr. v. F.-P. vom 10. Juni 2005 sowie des Facharztes für Innere Medizin Dr. Ma. vom 21. August 2005 eingeholt, ferner wurden die Renten- und Reha-Akten des Klägers bei der DRVBW sowie die SchwbG-Akten des Landratsamts (Versorgungsamt) Böblingen beigezogen, schließlich auch noch die Akten des SG Stuttgart S 16 RJ 3337/02 und S 19 RJ 2305/04.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten der Beklagten, der beigezogenen Akten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft und zulässig, jedoch nicht begründet.

Dem Kläger steht, wie das SG zutreffend entschieden hat, für die Zeit vom 10. April 2002 bis 30. September 2004 Pflegegeld nach Pflegestufe I nicht zu, weil die Voraussetzungen der Pflegestufe I nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 Nr. 1 SGB XI nicht vorliegen. Der Bescheid der Beklagten vom 23. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. März 2003 ist deswegen rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Da der Kläger schon im Klageverfahren seinen Leistungsanspruch ausdrücklich auf die Zeit bis zum 30. September 2004 beschränkt hatte, hat der Senat auch nur für diesen Zeitraum zu prüfen, ob die Leistungsvoraussetzungen vorgelegen haben. Die Zeit danach war dagegen nicht in die Prüfung mit einzubeziehen. Mithin war nicht darauf einzugehen, ob in der Zeit nach dem 30. September 2004 infolge einer Verschlechterung des Gesundheitszustands, wobei sich aus der Auskunft der Dr. v. F.-P. vom 10. Juni 2005 eine zwischenzeitlich aufgetretene reaktive Depression, eine Zunahme des Hustens und der Verdacht auf eine Zunahme der Syringomyelie ergibt und auch in dem Entlassungsbericht des Direktors des Zentrums für Innere Medizin Medizinische Klinik 3 des Klinikums S. (Bürgerhospital) Prof. Dr. B. vom 25. Februar 2005 weitere Diagnosen ergeben, auch eine Erhöhung des zu berücksichtigenden Grundpflegebedarfs im Umfang der Pflegestufe I eingetreten sein könnte.

Anspruch auf Pflegegeld nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB XI setzt Pflegebedürftigkeit im Sinne des Gesetzes voraus. Insoweit sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI pflegebedürftig im Sinne des SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen. Die zu berücksichtigenden gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Grundpflege sind in § 14 Abs. 4 Nrn. 1 bis 3 SGB XI aufgeführt. Die für die Leistungsgewährung mindestens erforderliche Pflegestufe I liegt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI bei Personen vor, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen in der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI) benötigen. Der auch unter Berücksichtigung der Zeitkorridore der Begutachtungs-Richtlinien als Richtwerte aufgrund von Funktionseinschränkungen zu bestimmende Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen (§ 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB X).

Da insoweit auf Funktionseinschränkungen abzustellen ist, ergibt sich die Feststellung einer bestimmten Pflegestufe nicht schon aufgrund bestimmter Diagnosen. Ferner sagt die Feststellung eines bestimmten GdB nach dem früheren SchwbG bzw. nach dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) nichts über das Vorliegen einer Pflegestufe aus. Mithin ergibt sich das Vorliegen der Pflegestufe I hier in der streitigen Zeit nicht daraus, dass beim Kläger aufgrund des Arztbriefs des Dr. M. vom 11. Juni 2002 über die Krankenhausbehandlung vom 31. Mai bis 11. Juni 2002 schon vom 09. Januar 2002 bis September 2004 ein GdB von 100 (mit den Merkzeichen G und B) wegen chronischer Bronchitis, Depression, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, inkompletter Lähmung von Armen und Beinen, Erkrankung des Rückenmarks, Entleerungsstörung der Harnblase festgestellt worden war (Bescheid des Versorgungsamts Stuttgart vom 10. Oktober 2002). Die Bejahung der Pflegestufe I ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Kläger von der DRVBW ab 01. Oktober 2001, also auch in der streitigen Zeit, Rente wegen voller Erwerbsminderung bezogen hat. Auch insoweit haben das Vorliegen voller Erwerbsminderung im Sinne des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) sowie erhebliche Pflegebedürftigkeit im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI unterschiedliche Voraussetzungen.

Der Senat vermag für die streitige Zeit einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von mehr als 45 Minuten pro Tag, der für mindestens sechs Monate bestanden hätte, nicht festzustellen. Schon die am 14. Mai 2002, wenn auch vor der Operation vom 03. Juni 2002 durchgeführte Begutachtung durch Dr. W. hatte den Wert von mehr als 45 Minuten, wie er später in der vom Kläger eingereichten Aufstellung vom 12. November 2002 angegeben war, bei Weitem nicht ergeben. Die Gutachterin hatte, bezogen auf die Grundpflege, lediglich Hilfe durch die Ehefrau des Klägers, die im Übrigen ohnehin bis zum 24. Februar 2004 erwerbstätig war, beim Waschen von Rücken und Beine sowie beim Einstieg in die Badewanne festgestellt, insgesamt im Umfang von sechs Minuten pro Tag. Damit war der erforderliche Hilfebedarf von mehr als 45 Minuten bei Weitem nicht erreicht. Ein Hilfebedarf bei der Grundpflege von mehr als 45 Minuten täglich ergibt sich auch weder aufgrund der Arztbriefe der Neurochirurgischen Klinik des Klinikums L. vom 08. Mai und 11. Juni 2002 noch aufgrund der schriftlichen Zeugenauskünfte der behandelnden Ärzte Dr. v. F.-P. sowie Dr. Ma. vom 10. Juni und 21. August 2005. Denn hinsichtlich der in der Neurochirurgischen Klinik vor der Krankenhausaufnahme am 31. Mai 2002 angegebenen Störungen, vor allem auch beim Gehen, wurde nach dem Bericht des Dr. M. schon bei der Entlassung ein deutlich verbessertes Gehvermögen festgestellt. Auch Dr. v. F.-P. hat in ihrer Auskunft vom 10. Juni 2005 darauf hingewiesen, dass sich beim Kläger postoperativ die Lähmungen in der streitigen Zeit zurückgebildet hätten. Soweit die Ärztin darauf hinweist, es hätten noch Schwierigkeiten beim Wasserlassen, eine rasche Ermüdbarkeit nach einer Wegstrecke von 50 bis 100 m, rezidivierende Atemprobleme sowie eine verstärkte Schleimbildung mit starkem Husten, schließlich noch ein Taubheitsgefühl in den Füßen bestanden, vermag der Senat daraus einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von mehr als 45 Minuten nicht herzuleiten, zumal aufgrund der Auskünfte der behandelnden Ärzte auch keine wöchentlichen Arztbesuche nachgewiesen sind, die Begleitung des Klägers gemacht hätten. Im Übrigen hat auch der Kläger selbst in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben, dass sich sein Gesundheitszustand schon nach dem Krankenhausaufenthalt im Mai/Juni 2002 aufgrund der dort erfolgten Operation gebessert habe.

Die Erhebung eines Sachverständigengutachtens, das sich nur auf die Zeit bis 30. September 2004 hätte beziehen können, war danach nicht geboten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Revisionszulassung liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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