L 4 RA 36/99

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 8 RA 11/98
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 4 RA 36/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 RA 1/00 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 05. März 1999 abgeändert und die Klage abgewiesen. Die Beteiligten haben einander in beiden Rechtszügen keine Kosten zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beklagte wehrt sich gegen die Befreiung des Klägers von der Pflicht zur Zuzahlung bei Inanspruchnahme von stationären medizinischen Leistungen.

Der am ... 1942 geborene Kläger ist verheiratet und gegenüber seiner als Hausfrau tätigen Ehefrau sowie seinen drei, im ... 1990, im ...1993 und ... 1995 geborenen Kindern unterhaltspflichtig. Er ist als Krankenpfleger berufstätig.

Mit Bescheid vom 30. Januar 1997 bewilligte die Beklagte ihm antragsgemäß die Erbringung stationärer medizinischer Leistungen zur Rehabilitation. Er habe zu diesen Leistungen eine Zuzahlung zu leisten. Nach der Art der bewilligten Leistung seien für jeden Kalendertag der stationären Leistung 25,-- DM zu zahlen. Der Zuzahlungsbetrag sei in der Behandlungsstätte zu entrichten.

Vom 06. März 1997 bis zum 03. April 1997 durchlief der Kläger die ihm bewilligte Maßnahme in der Reha-Klinik ... Aus dieser Maßnahme wurde er arbeitsfähig entlassen. Die Zuzahlung hat der Kläger in der Behandlungsstätte nicht entrichtet.

Mit Bescheid vom 20. Mai 1997 stellte die Beklagte fest, der Kläger habe für die stationäre Leistung zur Rehabilitation vom 06. März 1997 bis zum 03. April 1997 an insgesamt 28 Tagen eine Zuzahlung von 25,-- DM je Tag und insgesamt 700,-- DM zu zahlen. Dieser Betrag sei ihr innerhalb eines Monats zu überweisen.

Dagegen hat der Kläger Widerspruch mit der Begründung erhoben, er habe als Alleinverdiener seine Ehefrau sowie drei Kinder zu versorgen. Der Zuzahlungsbetrag überfordere ihn bei einem monatlichen Nettogehalt ohne Kindergeld von 3.251,-- DM abzüglich Miete von 1.342,50 DM sowie Aufwendungen für Haft-, Rechtsschutz- und Unfallversicherung sowie Darlehen finanziell.

Am 03. September 1997 bescheinigte der Arbeitgeber des Klägers, dem Kläger für Februar 1997 ein Gehalt von 4.307,54 DM einschließlich Kindergeld ausgezahlt zu haben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 1997 wies die Widerspruchsstelle bei der Beklagten den Widerspruch zurück. Der Kläger werde durch die festgestellte Zuzahlung nicht unzumutbar belastet. 1997 habe der monatliche Grenzbetrag 1.708,-- DM betragen. Nach den Befreiungsrichtlinien der Beklagten sei eine teilweise Befreiung von der Zuzahlung grundsätzlich dann nicht möglich, wenn die monatlichen Nettoeinnahmen 3.000,-- DM überstiegen. Auch sei der Kläger aufgrund seiner gesundheitlichen Leiden nicht so hilflos, daß er in erheblichem Umfang auf fremde Hilfe angewiesen sei. Maßgeblich für die Höhe der Zuzahlung seien die familiären Verhältnisse und die Höhe der Nettoeinkünfte im Monat vor Antragstellung bzw. dem Beginn der Maßnahme, ohne Berücksichtigung der monatlichen finanziellen Verpflichtungen.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am Montag, den 12. Januar 1998 Klage erhoben.

Zur Begründung hat er die Ansicht vertreten, die Beklagte habe seine Mehrbelastung aus der Zahl seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen nicht berücksichtigt. Der Tabellenwert nach den Richtlinien der Beklagten berücksichtige lediglich ein unterhaltsberechtigtes Kind. Maßgeblich müsse es auf die wirtschaftliche Situation ankommen, die durch die Zahl der unterhaltsberechtigten Angehörigen wesentlich mitgeprägt werde. Tatsächlich sei ihm aus dem Februar-Entgelt 1997 lediglich ein Betrag für seinen und den Unterhalt seiner Ehefrau und seiner drei Kinder verblieben, der ihn bei einer Zuzahlung von 700,-- DM sozialhilfebedürftig gemacht hätte. Durch die Rehabilitationsmaßnahme habe er sich nicht täglich Lebenshaltungskosten von 25,-- DM erspart. Bei seinen Einkommensverhältnissen könne er für seine Verpflegung nicht täglich 25,-- DM ausgeben.

Die Beklagte war der Auffassung, Sinn und Zweck der Zuzahlung von täglich 25,-- DM sei der Ausgleich der Ersparnisse bei den ohne die Maßnahme ansonsten notwendigen Kosten zum Lebensunterhalt. Somit verschlechtere sich die wirtschaftliche Situation des Versicherten nicht. Das fiktive Übergangsgeld im Falle eines fehlenden Gehaltsfortzahlungsanspruchs ab Maßnahmebeginn hätte bei dem Kläger auf der Grundlage eines monatlichen Nettoarbeitsentgelts von 3.309,04 DM 110,30 DM kalendertäglich betragen. Gekürzt um 25 v.H. verblieben 82,73 DM. Somit hätte der Kläger ohne Rücksicht auf seine Unterhaltsverpflichtungen täglich 27,57 DM an Belastungen zu tragen gehabt.

Mit Urteil vom 05. März 1999 hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 20. Mai 1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 1997 aufgehoben. Es hat die Berufung zugelassen. Die Beklagte habe ihr Ermessen hinsichtlich der Zuzahlung nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise gebraucht. Ihre Zuzahlungsrichtlinien berücksichtigten nicht die Anzahl der unterhaltsberechtigten Kinder. An dieser Richtlinie orientiert, habe die Beklagte bei ihrer Ermessensentscheidung nicht die Zahl der unterhaltsberechtigten Kinder des Klägers berücksichtigt. Davon hänge aber die Zumutbarkeit der finanziellen Belastung des Klägers ab. Je mehr unterhaltsberechtigte Kinder der Versicherte habe, desto höher sei seine finanzielle Belastung. Da es auf den Einzelfall ankomme, seien die Zuzahlungsrichtlinien nicht zu berücksichtigen. Sie würden nur für Normalfälle gelten, in denen keine Besonderheiten die Berücksichtigung von Mehrbelastungen erforderten.

Gegen dieses, ihr am 22. April 1999 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11. Mai 1999 Berufung eingelegt.

Zur Begründung hat sie die Ansicht vertreten, maßgeblich seien die Richtlinien ab 1997. Die Berücksichtigung von nur einem Kind entspreche der Ermächtigung gem. § 32 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Zwar sei die Anzahl der Kinder für die wirtschaftliche Lage, die gemäß § 32 Abs. 4 SGB VI für die Befreiung von der Zuzahlung entscheidend sei, von Bedeutung. Jedoch sei das ihr eingeräumte Ermessen durch die Regelung des § 32 Abs. 3 SGB VI beschränkt. Danach sei nur beim (fiktiven) Bezug von Übergangsgeld bis zur Grenze des § 24 Abs. 1 SGB VI für die Zeit des Bezuges eine Zuzahlung nicht zu leisten. Somit enthalte § 32 Abs. 4 SGB IV den Grundsatz, daß dem Versicherten unter Berücksichtigung der von ihm zu leistenden Zuzahlung von seinem Nettoeinkommen ein Betrag verbleiben müsse, welcher der Höhe nach dem Übergangsgeld gem. § 24 Abs. 1 SGB VI entspreche. Damit sei eine Gleichbehandlung der Bezieher von Erwerbseinkommen oder von Lohnersatzleistungen mit den Beziehern von Übergangsgeld bezweckt. Das Übergangsgeld werde im Falle von unterhaltspflichtigen Kindern unabhängig von der Zahl der Kinder berechnet. Es belaufe sich bei Versicherten, die mindestens ein unterhaltsberechtigtes Kind haben, auf 75 v.H. der vor Antritt der Maßnahme erzielten Nettoeinkünfte. Der von dem Kläger errechnete geringe monatliche Betrag an Nettoeinkünften zum Lebensunterhalt stehe ihm und seiner Familie auch unabhängig von der von ihm durchgeführten stationären Rehabilitationsmaßnahme nur zur Verfügung. Somit verschlechtere die Zuzahlung die wirtschaftliche Situation des Versicherten und seiner Familie während der Durchführung der Rehabilitationsmaßnahme nicht. Der Zuzahlungsbetrag umfasse pauschal nur die Kosten, die der Versicherte sich durch den Aufenthalt in der Reha-Klinik für seinen Lebensunterhalt von seinem Nettoeinkommen erspart habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 05. März 1999 ab zuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, seine wirtschaftliche Situation werde nur bei Berücksichtigung der Anzahl seiner ihm gegenüber unterhaltsberechtigten Angehörigen zutreffend bewertet. Hätte er während der Rehabilitationsmaßnahme Übergangsgeld bezogen, so hätte er keine Zuzahlung zu leisten gehabt. Bei Abzug des Zuzahlungsbetrages von seinem Nettoeinkommen für die Dauer der Rehabilitationsmaßnahme wäre seine Familie bei dem ihr verbliebenen Nettoeinkommen zur Sicherung des Lebensunterhalts für diesen Zeitraum sozialhilfebedürftig geworden.

Hinsichtlich der Einzelheiten im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen zum Verfahrensgegenstand gemachten Rentenakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet.

Das Sozialgericht hat zu Unrecht den Bescheid der Beklagten vom 20. Mai 1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 1997 aufgehoben.

Der Kläger ist zur Zuzahlung zu der von ihm vom 06. März 1997 bis zum 03. April 1997 an insgesamt 28 Kalendertagen in Anspruch genommenen stationären medizinischen Leistung zur Rehabilitation von kalendertäglich 25,-- DM, insgesamt 700,-- DM verpflichtet (vgl. § 32 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Eine anzurechnende Zuzahlung hatte der Kläger bis zum 06. März 1997 im Jahre 1997 noch nicht geleistet (vgl. § 32 Abs. 1 Satz 3 SGB VI). Die Höhe der kalendertäglich zu leistenden Zuzahlung von 25,-- DM ergibt sich aus § 40 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V; vgl. § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Dies entspricht Sinn und Zweck der Zuzahlungsregelung bei stationären medizinischen Leistungen. Die Beteiligung der Versicherten an den Rehabilitationskosten soll zum einen häusliche Ersparnisse während der Rehabilitationsleistung ausgleichen und gleichzeitig das Gefühl des Versicherten stärken, für Erhaltung oder Verbesserung seiner Gesundheit und damit für die Verbesserung oder Wiederherstellung seiner Erwerbsfähigkeit Eigenverantwortung zu besitzen (vgl. Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, § 32 Anm. 1). Von der kalendertäglichen Zuzahlung von 25,-- DM ist der Kläger weder teilweise noch vollständig zu befreien. Diese Zuzahlung belastet den Kläger nicht unzumutbar (vgl. § 32 Abs. 4 SGB VI). Gemäß den Richtlinien für die Befreiung von der Zuzahlung bei medizinischen und sonstigen Leistungen zur Rehabilitation mit Wirkung ab 01. Januar 1997 (vgl. u.a. Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung, GK-SGB VI, § 32 Anl. 1) wäre der Kläger nach der für ihn einschlägigen Regelung des § 2 Abs. 2) der Richtlinien - dann teilweise von der Zuzahlung zu befreien, wenn er während der Maßnahme ein fiktives Übergangsgeld erhalten hätte, das hinsichtlich der Differenz zwischen dem tatsächlichen Nettoeinkommen des Vormonats und dem fiktiv errechneten Übergangsgeld den täglichen Zuzahlungsbetrag nicht erreicht hätte. Nettoeinkommen ist das um die gesetzlichen Lohnabzüge verminderte Bruttoentgelt ohne einmalig gezahltes Arbeitsentgelt. Sonstige Abzüge sind nicht zu berücksichtigen (vgl. GK-SGB VI § 32 Rdnr. 40 ff.). Somit übersteigt selbst bei dem Nettoeinkommen für Februar 1997 abzüglich Kindergeld von 740,-- DM der Nettoeinkommensbetrag von 3.567,54 DM den Nettoarbeitsentgeltbetrag von 3.000,-- DM, bei dem die Differenz zwischen dem Nettoarbeitsentgelt und dem fiktiv errechneten Übergangsgeld einen Betrag von mindestens 25,00 DM erreicht (vgl. Zuzahlungstabelle für 1997, Kommentar zum Recht der Gesetzlichen Rentenversicherung/Sozialgesetzbuch Sechstes Buch, § 32 SGB VI, S. 18).

Eine vollständige Befreiung kommt bereits deswegen nicht in Be tracht, weil der Kläger keinen der Befreiungstatbestände der § 1 und § 2 Abs. 1 der Richtlinien erfüllt. Die Richtlinien als norminterpretierende Verwaltungsvorschriften zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der unzumutbaren Belastung genügen dem Sinn und Zweck der Ermächtigung des § 32 Abs. 4 SGB VI. Die Richtlinien sind nicht deshalb rechtswidrig, weil die Befreiungsregelung nach § 2 Abs. 2 Satz 1 a lediglich ein Kind und darüber hinaus unterhaltsberechtigte Ehegatten nicht erwähnt. Zum einen nehmen die Richtlinien dabei nur Bezug auf den Gesetzeswortlaut des § 24 Abs. 1 Nr. 1 a SGB VI. Zum anderen handelt es sich bei den jeweiligen individuellen familiären Verhältnissen nicht um unvermeidbare Mehrbelastungen, wie sie sich z.B. aus einer schweren Erkrankung ergeben können. Vielmehr hat der Gesetzgeber in § 32 Abs. 3 SGB VI Ausnahmen von der Zuzahlung gemäß § 32 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI selbst festgelegt und diese auf Übergangsgeldbezieher nach § 24 Abs. 1 SGB VI beschränkt.

Dem steht das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. September 1991 (vgl. Breithaupt 93, 49) nicht entgegen. Weder kommt es im hier zu entscheidenden Falle auf die Frage der Anrechnung von Ehegatteneinkommen an, noch berücksichtigt dieses zur alten Rechtslage ergangene Urteil die in § 24 Abs. 1 Nr. 1 a SGB VI normierte Regelung über die Berechnung von Unterhaltsgeld sinngemäß.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Revision war zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung (vgl. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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