L 28 B 490/07 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
28
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 95 AS 11533/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 28 B 490/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 8. März 2007 aufgehoben. Kosten dieses Beschwerdeverfahrens und des vorangegangenen Abhilfeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 8. März 2007 ist gemäß §§ 172 Abs. 1 und § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat dem Antragsteller insoweit zu Unrecht einstweiligen Rechtsschutz gewährt. Der Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm über den von dem Antragsgegner nicht angefochtenen Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 26. Februar 2007 hinaus auch für den Zeitraum vom 14. Dezember 2006 bis zum 31. Januar 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren, kann keinen Erfolg haben.

Soweit der Antragsteller Leistungen für Januar 2007 begehrt, fehlt es an einem nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) notwendigen Anordnungsgrund. Es besteht insoweit keine besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlich machen würde.

In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet. Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02NJW 2003, S. 1236 und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, S. 803). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine - stattgebende - Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen.

An diesen Grundsätzen gemessen bestand bereits im Zeitpunkt der Ausgangsentscheidung des Sozialgerichts und erst recht nicht im Zeitpunkt der Abhilfeentscheidung eine besondere Dringlichkeit, die den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung für Januar 2007 gerechtfertigt hätte. Der Antragsteller hat auch derartige Gründe nicht geltend gemacht. Sie sind auch nach Aktenlage nicht ersichtlich. Dies bedeutet, dass insoweit effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren erlangt und dem Antragsteller ein Zuwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache zugemutet werden kann.

Soweit der Antragsteller mit seinem Rechtsschutzgesuch Leistungen für die Zeit vom 14. Dezember 2006 bis zum 31. Dezember 2006 begehrt, fehlte es jedenfalls im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung bereits an einem Rechtsschutzbedürfnis. Dieses ist nur dann gegeben, wenn der Rechtsschutzsuchende auf den einstweiligen Rechtsschutz angewiesen ist. Daran fehlt es, wenn er gerichtlichen Rechtsschutz anderweitig einfacher und schneller erlangen kann oder dieser für den Rechtsschutzsuchenden entbehrlich ist (Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Auflage 1998, § 11 RdNr. 125 und Keller in Meyer – Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, Vor § 51 RdNr. 16 ff.). So lag aber der Sachverhalt im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung. Denn das Sozialgericht hat in dem angefochtenen Beschluss zu Recht ausgeführt, dass der Antragsgegner dem Antragstellers für den Zeitraum vom 14. Dezember 2006 bis zum 31. Dezember 2006 mit Bescheid vom 22. Juni 2006 für den Bewilligungszeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Dezember 2006 Leistungen in Höhe von monatlich 617, 36 EUR bewilligt hat. Aufgehoben hatte der Antragsgegner diesen Bescheid im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung hingegen lediglich u. a. nur für die Monate Juli und August 2006 (Aufhebungsbescheid und Erstattungsbescheid vom 15. September 2006). Soweit der Bewilligungsbescheid vom 22. Juni 2006 danach nicht aufgehoben war, hätte der Antragsteller sein Begehren daher auch ohne die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes durchsetzen können, indem er aus diesem Bescheid vollstreckt.

Allerdings hat der Antragsgegner nunmehr - vor Zustellung des Beschlusses des Sozialgerichts vom 8. März 2007, am 15. März 2007, mit Bescheid vom 12. März 2007 den Bewilligungsbescheid vom 22. Juni 2006 auch für die Zeit vom 1. September 2006 bis zum 31. Dezember 2007 aufgehoben. Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller Widerspruch erhoben. Dies hat der Senat zu beachten. Denn maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (Keller a. a. O., § 86 b RdNr. 18 und 42); im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123 VwGO).

In einem derartigen Fall, in dem eine Bewilligungsentscheidung aufgehoben worden ist, ist einstweiliger Rechtsschutz nicht nach § 86 b Abs. 2 SGG, sondern nach Abs. 1 der Vorschrift zu gewähren. Denn mit dem ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom 22. Juni 2006 wurde (für den Bewilligungszeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Dezember 2006) ein Rechtsgrund geschaffen, aus dem der Antragsteller für die einzelnen Monate tatsächlich die Auszahlung der von ihm begehrten Leistungen verlangen kann. Wenn der Antragsgegner meint, diese Leistungsgewährung sei rechtswidrig erfolgt, weil die Voraussetzungen der Leistungsgewährung nicht vorgelegen hätten, so bedarf der Leistungsbescheid der Rücknahme gem. § 40 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Verbindung mit § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch, § 330 Sozialgesetzbuch Drittes Buch. Dieser Rücknahmebescheid, hier der Bescheid vom 12. März 2007, stellt einen belastenden Verwaltungsakt dar, weil mit ihm in die Rechtsposition des Antragstellers eingegriffen wird, die ihm mit dem Bewilligungsbescheid vom 22. Juni 2006 gewährt worden ist. Der Antragsteller hat diesen Bescheid mit einem Widerspruch angegriffen, über den bislang nicht entschieden worden ist. Dieser Widerspruch hat gemäß § 39 Nr. 1 SGB II, soweit er sich gegen die Aufhebung der Leistungsbewilligung richtet, keine aufschiebende Wirkung. Einstweiliger Rechtsschutz ist - anders als bei der Ablehnung von Leistungen – daher nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 SGG zu gewähren (Beschlüsse des Senats vom 6. März 2007 – L 28 B 290/07 AS ER - und vom 17. April 2007 – L 28 B 517/07 AS ER – abrufbar unter www.sozialgerichtsbarkeit.de).

Einen solchen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs hat der Antragsteller in diesem Verfahren jedoch nicht ausdrücklich gestellt. Er hat sich darauf beschränkt, zu beantragen, die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Abhilfebeschluss des Sozialgerichts Berlin vom 8. März 2007 zurückzuweisen. Der Senat kann offen lassen, ob ein solcher Antrag sachgerecht in einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 86 b Abs. 1 SGG ausgelegt werden kann. Denn auch ein solcher Antrag kann keinen Erfolg haben.

Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag in den Fällen wie dem vorliegenden, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Ob die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anzuordnen ist oder nicht, entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen auf der Grundlage einer Abwägung, bei der das private Interesse des Bescheidadressaten an der Aufschiebung der Vollziehung gegen das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes abzuwägen ist. Um eine Entscheidung zugunsten des Bescheidadressaten zu treffen, ist zumindest erforderlich, dass bei summarischer Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitigen Bescheides bestehen (vgl. Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2005, Rdnr. 197 ff.). Ist in diesem Sinne eine Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens zu bejahen, ist weiterhin Voraussetzung, dass dem Betroffenen das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden kann, also ein gewisses Maß an Eilbedürftigkeit besteht (Beschlüsse des Senats vom 6. März 2007 und vom 17. April 2007, a. a. O. und Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 12. Mai 2006 – L 10 B 191/06 AS ER - , abrufbar unter: www.sozialgerichtsbarkeit.de).

Der Senat kann unentschieden lassen, ob der vorliegende Fall in der Sache Aussicht auf Erfolg hat. Denn jedenfalls fehlt es an der Eilbedürftigkeit. Der Antragsteller kann mit seinem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruches gegen den Bescheid vom 12. März 2007 ausschließlich erreichen, dass die ihm mit dem Bewilligungsbescheid vom 22. Juni 2006 für den in diesem Verfahren streitbefangenen Zeitraum, also für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, bewilligten Leistungen nachgezahlt werden. Das ihm ein Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache insoweit nicht zumutbar ist, ist nach Aktenlage weder ersichtlich noch hat der Antragsteller solches vorgetragen.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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