L 3 U 728/71

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 728/71
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Frage, ob ein Empfänger von Verletztengeld von der Stellung eines Antrags auf Versichertenrente ab wissen muß, daß ihm kein Verletztengeld mehr zusteht.
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 23. Juni 1971, der Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 1970 sowie der Bescheid vom 22. September 1969 aufgehoben.

II. Die Beklagte hat die dem Kläger entstandenen außergerichtlichen Verfahrenskosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der im Jahre 1913 geborene Kläger erlitt am 14. Juli 1966 einen Arbeitsunfall, bei dem er sich eine Sprunggelenksfraktur links zuzog. Mit Bescheid vom 8. April 1968 gewährte ihm die Beklagte eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. und ab 1. Dezember 1967 nach einer solchen von 35 v.H. Ab 25. März 1968 war der Kläger wegen der Unfallfolgen erneut arbeitsunfähig und erhielt von der Beklagten Verletztengeld.

Am 18. November 1968 regte ihn die Beklagte schriftlich an, die Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente (BU-Rente) bei der Landesversicherungsanstalt Hessen (LVA) zu beantragen. Am 19. Dezember 1968 stellte der Kläger einen Antrag auf Versichertenrente. Nachdem die LVA Hessen die Beklagte von dieser Antragstellung in Kenntnis gesetzt hatte, fragte die Beklagte am 7. Mai 1969 bei ihr an, ob es voraussichtlich zur Gewährung von BU-Rente kommen werde. Am 14. Mai 1969 teilte die LVA der Beklagten mit, es könne noch nicht verbindlich gesagt werden, ob und gegebenenfalls welche Rente bewilligt werde und am 17. Juli 1969, es sei beabsichtigt, dem Kläger ab 1. November 1968 Erwerbsunfähigkeitsrente (EU-Rente) zu gewähren. Die Beklagte meldete daraufhin am 30. Juli 1969 bei der LVA Hessen einen Ersatzanspruch wegen des ab 1. November 1968 gezahlten Verletztengeldes an. Die LVA Hessen gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 26. August 1969 rückwirkend ab 1. November 1968 EU-Rente und übersandte eine Abschrift des Bescheides am 11. September 1969 an die Beklagte. Diese stellte die Zahlung des Verletztengeldes daraufhin mit dem 10. September 1969 ein.

Mit Schreiben vom 22. September 1969 teilte die Beklagte dem Kläger mit, gem. § 562 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei sein Anspruch auf Verletztengeld ab 1. November 1968 wegen Erwerbsunfähigkeit entfallen, so daß es zu einer Überzahlung von 8.000,– DM gekommen sei. Sie habe veranlaßt, daß die LVA Hessen die Rentennachzahlung an sie abführe. Der dadurch noch nicht gedeckte Betrag von 5.000,– DM werde vorerst monatlich mit 50,– DM an der laufenden Verletztenrente einbehalten. Hiergegen wandte sich der Kläger mit einem Schreiben vom 10. Oktober 1969 und zwei Schreiben vom 18. November 1969, wovon er eines als "Widerspruch” bezeichnete. Am 12. Mai 1970 erteilte die Beklagte dem Kläger einen Widerspruchsbescheid, in dem sie ausführte, der Kläger habe das Verletztengeld ab 1. November 1968 zu Unrecht erhalten. Die Gewährung von EU-Rente sei ihr bis zur Erteilung des Rentenbescheides ohne ihr Verschulden unbekannt gewesen.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 9. Juni 1970 beim Sozialgericht Darmstadt Klage erhoben, die mit Urteil vom 23. Juni 1971 abgewiesen worden ist. Das Sozialgericht hat u.a. ausgeführt, die Beklagte treffe an der Überzahlung des Verletztengeldes kein Verschulden, da sie unter Zugrundelegung eines Berichtes der Orthopädischen Universitätsklinik H. vom 18. September 1968 eine Erwerbsunfähigkeit des Klägers verneint habe. Ob der Kläger beim Empfang des Verletztengeldes wußte oder wissen mußte, daß ihm diese Leistung nicht zustand, könne dahingestellt bleiben. Jedenfalls sei die Beklagte zur Rückforderung des Verletztengeldes berechtigt, weil sie wirtschaftlich vertretbar erscheine.

Gegen das ihm am 2. Juli 1971 zugestellte Urteil hat der Kläger am 19. Juli 1971 Berufung eingelegt. Er führt u.a. aus, das Sozialgericht habe es zu Unrecht unterlassen zu prüfen, ob er wußte oder wissen mußte, daß ihm das Verletztengeld zu Unrecht gewährt wurde. Er hat auf Befragen schriftlich ausdrücklich versichert, daß ihm bei der vertrauensärztlichen Untersuchung am 12. Juni 1969 durch Dr. med. M. B., kein Untersuchungsergebnis mitgeteilt worden ist. Er meint, die Voraussetzungen für eine Rückforderung des Verletztengeldes nach § 628 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) lägen nicht vor.

Er beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 23. Juni 1971 und dem Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 12. Mai 1970 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie führt u.a. aus, der Kläger habe sicherlich damit gerechnet, daß er erwerbsunfähig sei, sonst hätte er keinen Rentenantrag gestellt. Er sei daher im Sinne des § 628 Satz 2 RVO bösgläubig gewesen. Andererseits könne ihr die Fortzahlung des Verletztengeldes bis zum Eingang des Rentenbescheides der LVA Hessen am 11. September 1969 nicht zum Vorwurf gemacht werden. Erst in diesem Zeitpunkt habe die Erwerbsunfähigkeit des Klägers aufgrund der in § 562 Abs. 2 Satz 2 RVO angeordneten Bindungswirkung für sie festgestanden.

Aus der beigezogenen Akte der LVA Hessen ergibt sich u.a., daß die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Dezember 1970 in eine solche wegen Berufsunfähigkeit umgewandelt worden ist, weil eine Gewöhnung an die Unfallfolgen nach operativer Gelenkversteifung eingetreten sei und nur noch mäßiggradige Zirkulationsstörungen bestünden. Im übrigen wird auf den Inhalt dieser Akte, der Unfallakte und der Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat hat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 SGG). Die Berufung ist statthaft. Angefochten sind Bescheide der Beklagten, mit denen sie vom Kläger zu Unrecht gezahltes Verletztengeld in Höhe von 8.000,– DM zurückfordert. Es handelt sich somit um eine Streitigkeit wegen Rückerstattung von Leistungen im Sinne von § 149 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG – (vgl. Urt. des BSG vom 28.1.1972, 5 RKn 51/70). Da der Beschwerdewert 500,– DM übersteigt, liegt dieser Berufungsausschließungsgrund nicht vor. Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist daher zulässig.

Sie ist auch begründet. Die Voraussetzungen für die Rückforderung des den Kläger in der Zeit vom 1. November 1968 bis 10. September 1969 gezahlten Verletztengeldes sind nicht gegeben (§ 628 Satz 2 RVO).

Zwar hat der Kläger in der Zeit vom 1. November 1968 bis 10. September 1969 zu Unrecht Verletztengeld erhalten. Denn die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung sind rückwirkend mit der Erteilung des Rentenbescheides der LVA Hessen vom 26. August 1969 entfallen, durch den der Kläger ab 1. November 1968 EU-Rente erhielt. Gemäß § 562 Abs. 2 RVO besteht nämlich im Falle der Wiedererkrankung an Unfallfolgen kein Anspruch Verletztenrente, wenn Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs. 2 RVO vorliegt.

Ferner ist ein Unfallversicherungsträger grundsätzlich berechtigt, zu Unrecht erbrachte Leistungen zurückzufordern. Wenn auch in der RVO keine den Rückforderungsanspruch ausdrücklich begründende Bestimmung enthalten ist, ergibt sich doch insbesondere aus § 628 Satz 2 RVO mit genügender Deutlichkeit, daß der Gesetzgeber vom Bestehen eines Rückforderungsanspruches des Unfallversicherungsträgers ausgegangen ist. Da dieser nach der genannten Bestimmung eine zu Unrecht erbrachte Leistung nicht zurückfordern braucht, ist damit vorausgesetzt, daß er sie zurückfordern kann (vgl. BSG a.a.O.).

Im vorliegenden Fall liegen aber die Voraussetzungen des § 628 Satz 2 RVO für die Rückforderung des Verletztengeldes nicht vor. Mit dieser Bestimmung hat sich der Gesetzgeber in dem Interessenkonflikt zwischen der öffentlichen Hand und dem einzelnen Staatsbürger eindeutig auf den Boden der Sozialstaatlichkeit gestellt (Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes) und bestimmt, daß nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu Unrecht empfangene Sozialleistungen zurückgefordert werden dürfen, wobei es darauf ankommt, in wessen Verantwortungsbereich die Leistungsgewährung ohne Rechtsgrund fällt (vgl. Glasner, Die Berufsgenossenschaft 1969, S. 31).

Ob die Beklagte ein – teilweise – Verschulden an der Überzahlung des Verletztengeldes trifft, und zwar für die Zeit ab 17. Juli 1969, nachdem ihr von der LVA Hessen mitgeteilt worden war, es sei beabsichtigt, dem Kläger rückwirkend ab 1. November 1968 EU-Rente zu gewähren, oder etwa schon früher, nachdem die Beklagte Anfang 1968 von der LVA Hessen erfahren hatte, daß auf den Antrag des Klägers geprüft werde, ob diesem EU- oder EU-Rente zustehe, kann dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls wußte der Kläger vor der Erteilung des Rentenbescheides vom 26. August 1969 nicht, daß ihm EU-Rente zustand und er mußte dies auch nicht wissen, so daß bereits deshalb die Voraussetzungen für die Anwendung des § 628 Satz 2 RVO nicht gegeben sind. Das Sozialgericht hat diesen gesetzlichen Tatbestand zu Unrecht nicht geprüft.

Daß der Kläger vor der Erteilung des Rentenbescheides keine Kenntnis von seiner Erwerbsunfähigkeit hatte, bedarf keiner näheren Begründung, denn auch die Beklagte traf keine Feststellungen über seine Erwerbsunfähigkeit, wozu sie nach § 562 Abs. 2 RVO grundsätzlich berechtigt ist, solange der Rentenversicherungsträger nicht über die Erwerbsunfähigkeit entscheidet.

Der Kläger mußte aber auch vor der Erteilung des Rentenbescheides nicht wissen, daß ihm Verletztengeld wegen des Bestehens von Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 1247 Abs. 2 RVO nicht zustand. Die Beklagte vertritt offensichtlich die Ansicht, jeder Rentenantragsteller sei im Sinne des § 628 Satz 2 RVO bösgläubig, wenn er sich in seinem Rentenantrag als erwerbsunfähig bezeichnet. Den kann in dieser Allgemeinheit nicht beigepflichtet werden. Ein "kennen müssen”, d.h. eine Fahrlässigkeit beim Nichtkennen liegt nur dann vor, wenn dem Leistungsempfänger bei Erachtung der ihm zuzumutenden sorgfältigen Prüfung erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Leistung kommen müssen (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, Anm. 5 b zu § 628 unter Hinweis auf den ähnlich lautenden § 122 Abs. 2 BGB). Daraus folgt, daß in jeden Einzelfall Feststellungen über das Maß des Verschuldens zu treffen sind. Es sind durchaus Fälle denkbar, in denen bei einem Rentenantragsteller gesundheitliche Schäden in einem solchen Ausmaß vorhanden sind, daß von vornherein an Bestehen von Erwerbsunfähigkeit kein begründeter Zweifel bestehen kann. Andererseits ist gerichtsbekannt, daß viele Anträge auf EU-Rente endgültig abgelehnt werden, bzw. nur EU-Rente gewährt wird, weil der Antragsteller noch ein Mindestmaß an körperlichen Leistungsvermögen besitzt. Im vorliegenden Fall hatte die Beklagte den Kläger nach seinem Unfall mit Schreiben vom 18. November 1968 nur angeregt, EU-Rente zu beantragen, weil sie offensichtlich der Auffassung war, daß der Kläger nur wegen der Unfallfolgen Schwierigkeiten hatte, seinen bisherigen Beruf als Gipser weiter auszuüben. Im Klageverfahren trug sie selbst vor, es habe für die seinerzeit keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, daß der Kläger erwerbsunfähig, nämlich auf nicht absehbare Zeit gehindert gewesen sei, eine Erwerbstätigkeit auszuüben und hat hierzu auf eine fachärztliche Bescheinigung der Orthopädischen Universitätsklinik H. vom 18. September 1968 verwiesen. Die Beklagte hat dem Kläger offensichtlich aus diesem Grund auch nicht über die Bestimmung des § 628 Satz 2 RVO belehrt, das Verletztengeld nicht unter Vorbehalt ausgezahlt und die Erwerbsunfähigkeit auch nicht von sich aus festgestellt. Es ist nicht erkennbar, inwiefern demgegenüber der Kläger, der bis zu seinem Unfall voll gearbeitet hatte, bei einer unfallbedingten MdE von nur 35 v.H. ab 1. Dezember 1967 "wissen mußte”, daß er vom Rentenversicherungsträger als erwerbsunfähig und nicht nur als berufsunfähig bezeichnet worden würde. Diese Entscheidung war nach Auffassung des erkennenden Senats durchaus offen. Daß sich der Vertrauensarzt der LVA Hessen, der OMR Dr. med. M., B., nach einer Untersuchung des Klägers am 12. Juni 1969 dahin äußerte, der Kläger könne "zunächst noch keine Arbeiten von nennenswerten wirtschaftlichen Wert verrichten”, konnte der Kläger nicht wissen. Dieser Arzt bezeichnete die Unfallfolgen als "Hauptleiden”, demgegenüber im wesentlichen nur ein Bluthochdruck ohne Ausgleichsstörungen des Herzens bestand, welcher der Umwandlung der EU- in eine EU-Rente ab 1. Dezember 1970 nicht hinderlich war. Bei einer Untersuchung des Klägers am 25. Juni 1970 wurde die Auffassung vertreten, dieser könne leichte und teilweise mittelschwere Arbeiten vorwiegend in geschlossenen Räumen und zu ebener Erde teils im Sitzen, teils im Stehen ganztägig verrichten. Da dem Kläger auch nicht nachzuweisen ist, daß er nach der Untersuchung am 12. Juni 1969 von Dr. med. M. erfahren hatte, er werde ihn als erwerbsunfähig bezeichnen und der Kläger dies auf Befragen schriftlich ausdrücklich verneint hat, kann nicht festgestellt werden, daß er vor der Erteilung des Rentenbescheides "wissen mußte”, es bestehe bei ihm Erwerbsunfähigkeit.

Es fehlt somit an einer wesentlichen Voraussetzung für die Anwendung des § 628 Satz 2 RVO. Da der Rentenbescheid der LVA Hessen vom 26. August 1969 am 8. September 1969 zur Post gegeben wurde und dem Kläger als am 11. September 1969 zugestellt gilt (§ 4 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes), die Beklagte aber die Verletztengeldzahlung bereits am 10. September 1969 einstellte, waren das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Darmstadt und die Bescheide der Beklagten über die Rückforderung des Verletztengeldes in vollem Umfang aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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