L 4 V 1035/71

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 1035/71
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Wegen der durch das I. Neuordnungsgesetz vom 17. Juni 1960 vorgenommenen Neufassung des § 47 Abs. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes ist nicht mehr auf die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des Leistungsempfängers abzustellen, sondern nur darauf, ob wegen der Höhe der Nachzahlung die Rückzahlung vertretbar ist. Dies ist dann der Fall, wenn der Leistungsempfänger aus der erhaltenen Nachzahlung den zurückgeforderten Betrag zurückzahlen kann und ihm trotzdem ein Teil der Nachzahlung verbleibt.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 20. September 1971 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger erhält wegen Verlustes des rechten Beines an der Grenze zwischen mittleren und unterem Oberschenkeldrittel Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 v.H., wozu Ausgleichsrente und Berufsschadenausgleich hinzutreten. Er arbeitete bis 31. Mai 1967 auf der Braunkohlenzeche in F., war allerdings vom 30. März 1967 bis 24. Juli 1967 erkrankt. Er erhielt durch das Arbeitsamt K. am 19. Februar 1969 gemäß § 10 der Richtlinien vom 8. März 1968 über die Stillegung von Betrieben im Hessischen Braunkohlenbergbau eine Abfindung von 4.000,– DM und gemäß § 11 dieser Richtlinien eine Hausbrandabfindung in Höhe von 180,– DM, was er sogleich am 24. März 1969 dem Beklagten anzeigte. Der Beklagte rechnete diesen Betrag anteilmäßig für die Zeit nach Entlassung, nämlich ab 1. August 1967 für 24 Monate und die Hausbrandabfindung auf 6 Monate an. Hierdurch ergab sich eine Überzahlung von 1.577,– DM, die der Beklagte gemäß § 47 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung mit Bescheid vom 12. Juni 1969 zurückforderte.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein der keinen Erfolg hatte (Widerspruchsbescheid vom 12. November 1969). Die Berichtigung sei gemäß § 62 Bundesversorgungsgesetz (BVG) vorgenommen worden und die Rückforderung werde auf § 47 Abs. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz (VerwVG) gestützt. Sie sei im Hinblick auf die Höhe der Abfindung gerechtfertigt.

Das Sozialgericht Kassel hob mit Urteil vom 20. September 1971 den Bescheid des Beklagten vom 12. Juni 1969 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 1969 insoweit teilweise auf, als mit ihm vom Kläger die Rückzahlung von 1.577,– DM verlangt wurde. Die aufgehobenen Bescheide seien insoweit rechtswidrig, als mit ihnen 1.577,– DM zurückgefordert würden. Die Voraussetzungen der Rückforderung gemäß § 47 Abs. 2 Buchst. b 2. Alternative würden nicht vorliegen. Vertretbar sei eine Rückforderung dann, wenn die Nachzahlung so erheblich sei, daß der Empfänger ohne weiteres in der Lage sei, die Rückzahlung durchzuführen und außerdem der verbleibende Teil der Nachzahlung zu dem Rückforderungsteil in einem solchen Verhältnis stehe, daß sie die Rückforderung erheblich übersteige. Diese Auffassung habe auch das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 13. November 1958 (8 RV 811/56 – BVBl. 1959 Seite 37) vertreten. Nach dieser Rechtssprechung sei eine Rückforderung dann vertretbar, wenn einerseits die Nachzahlung für die Verhältnisse des Empfängers so erheblich sei, daß er ohne weiteres in der Lage sei, unter Fortführung seines bisherigen Lebensstandards, d.h. auch nach Erfüllung üblicher und angemessener Verpflichtungen die geltend gemachte Rückforderung zu erfüllen und wenn andererseits die zurückgeforderte Summe zu dem Betrag der Nachzahlung in einem derartigen Verhältnis stehe, daß auch der verbleibende Teil noch erheblich sei. Wenn der Beklagte 1.577,– DM zurückfordere, verlange er etwa 38 v.H. der Nachzahlung, während dem Kläger nur 62 v.H. verbleiben würden. Erst dann sei eine Rückforderung vertretbar, wenn dem Kläger 75 v.H. bleiben würden. In dem vom Bundessozialgericht 1958 entschiedenen Fall habe das Verhältnis sogar 22 v.H. (Rückforderung) gegenüber 78 v.H. (verbleibender Betrag) bestanden. Die Höhe der verbleibenden Zahlung mache die Rückerstattung nicht von vorneherein vertretbar.

Gegen dieses am 27. September 1971 zugestellte Urteil legte der Beklagte am 21. Oktober 1971 Berufung ein. Er ist der Auffassung, daß die Rückforderung von 1.577,– DM zutreffend sei. Das Sozialgericht hätte nicht allein auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts von 1958 abstellen dürfen, sondern auch spätere Entscheidungen berücksichtigen müssen. In diesen sei keine Einschränkung der Rückforderung vorgenommen worden, wie es das Sozialgericht für richtig halte. Sowohl Wortlaut, als auch Rechtsprechung würden die Rückforderung rechtfertigen.

Der Beklagte beantragte,
das Urteil des Sozialgerichte Kassel vom 20. September 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragte,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des Sozialgerichts Kassel für zutreffend.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Behörden- und Gerichtsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung wurde insbesondere form- und fristgerecht eingelegt.

Sie ist auch statthaft. Berufungsausschließungsgründe stehen ihr nicht entgegen. Im Streit steht ein Rückerstattungsanspruch von 1.577,– DM (§ 149 SGG).

Die Berufung ist auch begründet. Das Sozialgericht hat den Bescheid des Beklagten vom 12. Juni 1969 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. November 1969, soweit er die Rückforderung von 1.577,– DM aussprach, zu Unrecht aufgehoben.

Daß der Beklagte zu Recht die dem Kläger geleistete Abfindung wegen der Entlassung aus dem Hessischen Braunkohlenbergbau auf die Versorgungsansprüche ab Entlassung anrechnete und deshalb wegen einer wesentlichen Änderung die Bezüge gemäß § 62 BVG neu berechnete, wird vom Kläger nicht bestritten. Der Beklagte konnte im Hinblick auf das Rundschreiben des Bundesarbeitsministers vom 25. Januar 1968 (BVBl. 1968 Seite 42 Nr. 13) und den Erlaß des Hessischen Ministers für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen vom 16. Juli 1968 (Rundschreiben des Landesversorgungsamtes H. vom 9. August 1968 Nr. 35) die Nachzahlung von 4.000,– DM auf 24 Monate und die Hausbrandabfindung von 180,– DM auf 6 Monate verteilen. Eine solche Regelung entspricht dem Zwecke der Zahlung, die den Ausfall von Arbeitseinkommen in der ersten Zeit nach Ausscheiden aus dem Braunkohlenbergbau ausgleichen soll.

Der Kläger ist aber auch entgegen der Auffassung des Sozialgerichts zur Rückzahlung des sich bei der Neuberechnung der Versorgungsbezüge ergebenden Überzahlungsbetrages von 1.577,– DM verpflichtet. Dies ergibt sich aus § 47 Abs. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes in der Fassung durch das I. Neuordnungsgesetz vom 27. Juni 1960 (BGBl. I Seite 453). Durch Artikel II Nr. 8 dieses Gesetzes erhielt § 47 Abs. 2 eine neue Fassung. Während in der früheren Fassung des § 47 Abs. 2 Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 2. Mai 1955 (BGBl. I Seite 202) die Rückzahlungsverpflichtung bei wesentlicher Änderung der Verhältnisse vom Kennen oder fahrlässigen Nichtkennen der Nichtberechtigung oder davon abhängig war, daß sie wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist, erweiterte die neue Fassung des § 47 Abs. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz die Rückzahlungspflicht auf die Fälle, daß wegen der Höhe der Nachzahlung aus öffentlichen Kassen die Rückzahlung vertretbar erscheint. Während also bei der früheren Rechtslage die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers darauf zu prüfen waren, ob die wirtschaftliche Lage die Rückzahlung vertretbar erscheinen ließe, stellt der Gesetzgeber jetzt bei Leistungen aus öffentlichen Kassen, wohl um Doppelleistungen der öffentlichen Hand zu vermeiden, lediglich darauf ab, ob in Hinblick auf die erhaltene Nachzahlung die Rückforderung vertretbar erscheint.

Dem trägt das Sozialgericht in seiner Entscheidung nicht Rechnung. Es hat sich vielmehr auf eine durch die Gesetzgebung überholte Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 13. November 1958 (BVBl. 1959 Seite 37) gestützt. Übrigens hatte das Bundessozialgericht in seinem o.a. Urteil keine allgemeinen Richtlinien festgelegt, in welchen Verhältnis die Nachzahlung zur Rückforderung stehen müsste, um die Rückforderung vertretbar erscheinen zu lassen, insbesondere nicht daß erst bei einem Verhältnis von 25 zu 75 des zurückzuzahlenden Betrages zur verbleibenden Nachzahlung eine Rückforderung vertretbar sei. Geht man aber vom Sinn der jetzigen Fassung des § 47 Abs. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz aus, der auf Vermeidung von Doppelzahlungen aus öffentlichen Mitteln absieht, dann ist die Rückzahlung von 1.577,– DM vertretbar. Denn der Kläger erhielt in der Zeit nach seiner Entlassung aus dem Braunkohlenbergbau von Einkommen abhängige Versorgungsleistungen. Zweck der vom Arbeitsamt an den Kläger geleisteten Abfindung ist aber die Überbrückung des Arbeitsverdienstausfalles nach Entlassung gewesen. Wenn von einer derartigen Abfindung von 4.180,– DM 1.577,– DM als bereits vorgeleistete Versorgungsbezüge im Sinne des § 47 Abs. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz n.F. zurückgefordert werden, ist dies vertretbar.

Der Kläger hätte sie auch ohne Inanspruchnahme anderer eigene Mittel zurückzahlen können, da der Beklagte bereits am 12. Juni 1969, also etwa 4 Monate nach dem Erhalt der Abfindung den angegebenen Betrag zurückforderte, wenn der Kläger die Abfindung trotzdem verbraucht hat, ist ihm zuzumuten, auch nach dem Verbrauch die vom Beklagten geforderten Beträge zurückzuzahlen; er hatte insoweit gleichsam ein zinsloses Darlehen gehabt. Die Rückforderungsbescheide des Beklagten waren daher rechtmäßig.

Das Urteil des Sozialgerichts Kassel mußte aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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