L 4 V 892/82

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 8 V 230/79
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 892/82
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. An Schlägereien beteiligte und als Polizeibeamte ermittelnde Zeugen, die im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sowie im zivilrechtlichen Schadensersatzprozeß umfassend vernommen worden sind, brauchen im sozialgerichtlichen Verfahren zur Feststellung des Anspruchs nach dem OEG jedenfalls dann nicht erneut gehört zu werden, wenn die Beteiligten die Ermittlungen in diesem Verfahren gegen sich gelten lassen (Anschluß an BSG, Urteil vom 25.06.1986 – 9 RVg 2/84 – in SozR 1300 § 45 SGB 10 Nr. 24).
2. Sowohl bei der Prüfung der wesentlichen Mitverursachung des Gewaltopfers als auch bei der Beurteilung der Frage, ob die Gewährung des OEG-Anspruchs unbillig wäre, sind die beiderseitigen Kausalitätsbeiträge und die individuelle psychologische Situation des Gesamtgeschehens abzuwägen.
3. Wer sich ohne sozialnützliche Motive leichtfertig in eine „Gewaltopfer-Situation” begibt, kann für den daraus entstehenden körperlichen Schaden auf Kosten der Allgemeinheit keine Entschädigung verlangen.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 27. April 1982 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der jetzt 31-jährige Kläger begehrt wegen der Erblindung seines rechten Auges Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG).

Am Freitag, dem 1976, feierte der Kläger mit den Zeugen R., E. und St. auf dessen Gartenhaus-Grundstück in G., I. wobei reichlich Alkohol genossen wurde. Als im Laufe des Abends die Zigaretten ausgingen, suchten er, E. und R. gegen 23.00 Uhr die von St. Gartenhütte etwa 100 Meter entfernt gelegene Gastwirtschaft "B.” auf. In dieser kam es wegen provozierender Äußerungen des R. zu einem Streit, in dem der Pächter der Gastwirtschaft M. der Geschäftsführer Sch. (späterer neuer Name: H.) und der Zeuge F. R. bis zum Eintreffen, der Polizei festhielten. M. erteilte dem Kläger und seinen Begleitern Hausverbot. Beim Verlassen der "B.” äußerte R., daß man wiederkommen werde. Hierauf entgegnete M., daß er ihm dann eine Kugel in den Kopf schießen werde. R., E. und der Kläger feierten bei St. weiter. Als die Zigaretten erneut ausgegangen waren, begaben sich der Kläger und R. am 1976 gegen 2.00 Uhr wiederum zur "B.”, um nochmals Zigaretten zu holen. Durch das öffnen der Tür zur bereits geschlossenen Gastwirtschaft und Hundegebell wurden M. und Sch. auf beide aufmerksam. Sch. bewaffnete sich mit einem auf einer mannshohen Stange aufgesetzten alten Feuerwehrbeil und verfolgte nach den Angaben des Klägers diesen in Richtung Gartenhütte. Hierbei schlug er auf ihn ein, wodurch beim Bruch der Brille Glassplitter in das inzwischen erblindete rechte Auge des Klägers drangen. M. und Sch. ließen sich im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren (Akten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Gießen zum Az.: 6 Js 12964/76) dahin ein, daß R. und der Kläger mit einer Machete und einem schwertähnlichem Gerät bewaffnet zur "B.” zurückgekommen seien.

Das wegen dieser Vorfälle gegen Sch., R. und M. eingeleitete Strafverfahren endete durch Urteil des Amtsgerichtes (Schöffengericht) Gießen (Az.: 51 Ls 6/Js 12964/76) vom 20. Dezember 1977 mit dem Freispruch der Angeklagten, da der Sachverhalt trotz eingehender Ermittlungen nicht völlig zu klären gewesen sei. Gehe man davon aus, daß R. und der Kläger mit einem Schwert oder einer Machete bewaffnet auf Sch. eingedrungen seien, dann habe dieser in Notwehr gehandelt, ohne diese zu überschreiten.

Im zivilrechtlichen Schadensersatzprozeß vor dem Landgericht Gießen und dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) wurde Sch. nach erneuter umfangreicher Beweisaufnahme letztinstanzlich verurteilt, dem Kläger 15.000,– DM Schmerzensgeld zu zahlen und allen zukünftigen Schaden zu ersetzen (Urteil des OLG vom 3. April 1981 – 8 U 196/80). Nach Überzeugung des OLG bestand zur Zeit der Augenverletzung des Klägers durch Sch. keine rechtfertigende Notwehrlage.

Am 1. Dezember 1976 beantragte der auf Grund eines Hüftleidens gehbehinderte Kläger die Gewährung von Beschädigten-Versorgung nach dem OEG. Der Beklagte zog die Akten der Staatsanwaltschaft Gießen zum Az.: 6 Js 12964/76 bei und lehnte mit dem Bescheid vom 15. September 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 1979 die Gewährung der Entschädigung ab da der genaue Geschehensablauf nicht festzustellen sei. Gehe man von der von Sch. gegebenen Darstellung aus, dann habe dieser in Notwehr gehandelt, so daß kein rechtswidriger Angriff gegeben sei. Lege man die Schilderung des Klägers zugrunde, so habe Sch. zwar rechtswidrig, jedoch nicht vorsätzlich gehandelt. Im übrigen sei der Anspruch nach § 2 OEG zu versagen, da der Kläger eine gleichwertige Ursache für den Streit und die dabei erlittene Verletzung gesetzt habe. Die objektive Beweislosigkeit gehe zu Lasten des Klägers.

Die am 24. August 1979 erhobene Klage hat das Sozialgericht Gießen (SG) im wesentlichen aus den Gründen der angefochtenen Bescheide durch Urteil vom 27. April 1982 abgewiesen. Wegen der Einzelheiten wird auf das sozialgerichtliche Urteil verwiesen.

Gegen das am 4. August 1982 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11. August 1982 beim SG Berufung eingelegt.

Es sind im Berufungsverfahren die Akten des Strafverfahrens bei dem Amtsgericht (Schöffengericht) Gießen zum Az.: 51 Ls-6 Js 12964/76 und des Zivilrechtsstreites des Klägers gegen Sch. bei dem Landgericht Gießen und dem OLG zu den Az.: 3.O. 338/78 und 8.U. 196/80 beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung, insbesondere mit den jeweiligen Vernehmungsniederschriften gemacht worden. Auf ihren Inhalt wird verwiesen. Ferner sind vor dem Senat der Kläger persönlich und als Zeugen H. St. und W. O. E. gehört worden. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 27. Mai 1986 und ihre Anlagen verwiesen.

Der Kläger bringt zur Begründung der Berufung hauptsächlich vor: Das SG habe die Beweise unrichtig gewürdigt. Aus dem Urteil des OLG ergäbe sich, daß Sch. ihm mit der im Kampf abgebrochenen Hellebarde in der Nähe der Gartenhütte angegriffen und am Auge verletzt habe. Eine Notwehrlage habe zu diesem Zeitpunkt für Sch. sicherlich nicht bestanden. Dieser sei auch nicht von ihm zu diesem Angriff provoziert worden. Er habe lediglich aus einem außen an der "B.” angebrachten Automaten Zigaretten ziehen wollen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 27. April 1982 sowie den Bescheid des Beklagten vom 15. September 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 1979 aufzuheben und diesen zu verurteilen, ihm ab 1. Dezember 1976 wegen "Erblindung des rechten Auges” Beschädigtenrente nach einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 v.H. zu gewähren,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Er hält das sozialgerichtliche Urteil für zutreffend.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten einschließlich ihrer Verweisungen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die mangels Ausschließungsgründen statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt (§§ 143, 144, 148, 151 Abs. 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –) und somit insgesamt zulässig.

Sie ist jedoch unbegründet. Das auf die zulässige Klage ergangene sozialgerichtliche Urteil konnte nicht aufgehoben werden, da das SG diese im Ergebnis zu Recht abgewiesen hat. Der Bescheid des Beklagten vom 15. September 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 1979 (§ 95 SGG) ist nicht rechtswidrig. Der Kläger hat wegen der am 22. Mai 1976 erlittenen Erblindung des rechten Auges keinen Anspruch auf die Gewährung einer Beschädigtenrente, da die Voraussetzungen hierfür nach den §§ 1, 2 OEG nicht vorliegen.

Zunächst sieht es der Senat aufgrund der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, insbesondere nach der augenärztlichen Bescheinigung der Dres. K. und H. (Zentrum für HNO- und Augenheilkunde der U. G.) vom 11. Juli 1976 als erwiesen an, daß die Erblindung des rechten Auges des Klägers auf einer Verletzung mit Glassplittern durch seine zu Bruch gegangene Brille beruht. Hierüber besteht unter den Beteiligten auch kein Streit. Aus den weiteren Ermittlungen in dem Straf- und Zivilrechtsverfahren, die der Senat unbedenklich im hiesigen Rechtsstreit ohne eigene weitere Beweisaufnahme auswerten konnte, nachdem auch die Beteiligten diese gegen sich gelten lassen (vgl. ESG, Urteile vom 17. November 1981 – 9 RVg 2/81 – E 52, 281; 25. Juni 1986 – 9 RVg 2/84 – in SozR 1300 § 45 SGB 10 Nr. 24), ergibt sich in Übereinstimmung mit dem OLG und zur Überzeugung des Senats, daß diese Verletzung dem Kläger durch Sch. beigebracht worden, ist. Dem steht nicht dessen rechtskräftiger Freispruch durch das Amtsgericht (Schöffengericht) Gießen entgegen, da der Senat bei der Entscheidung über den Versorgungsanspruch hieran nicht gebunden ist (vgl. ESG a.a.O.). Auch hierüber besteht unter den Beteiligten kein Streit.

Der Beklagte meint jedoch, es fehle vorliegend bereits an einem vorsätzlichem, rechtswidrigem tätlichen Angriff (§ 1 Abs. 1 Satz 1 OEG) des Sch. auf den Kläger. Dem folgt der Senat allerdings nicht. Nach den Ermittlungen der Polizei, insbesondere nach den Vernehmungen des Klägers und der Zeugen Sch., R., M., E. und St. sowie den gesicherten Spuren an Ort und Stelle und aufgrund der gefertigten Lichtbilder und der Tatort-Skizze ist ferner erwiesen, daß die Augenverletzung durch Sch. in einer Entfernung von etwa 75 bis 80 Metern von der "B.” und rund 20 Meter vor dem Eingang des Weges zum Gartengrundstück des Zeugen St. erfolgte. Dort wurden Glassplitter der zerbrochenen Brille des Klägers gefunden. Das Tatgeschehen spielte sich gegen 2 Uhr am 22. Mai 1976 ab, als der Kläger sich von der "B.” abgewandt hatte und auf dem Wege zum Gartengrundstück zurück war.

Ferner ist erwiesen, daß es in der "B.” zwei Zigarettenautomaten damals gab, nämlich einen im Schankraum und einen vor diesem außerhalb in einem Vorraum, zu dem der Zutritt durch die Außentür möglich ist, wie sich aus den Bekundungen der Zeugin H. M. (früher: M.) vom 4. Juni 1976 ergibt. Der frühere Vortrag des Klägers, ein Zigarettenautomat sei außen und damit für die Allgemeinheit zugänglich angebracht, ist damit widerlegt. Der Kläger hat dies indirekt vor dem Senat auch dadurch eingestanden, daß er selbst angab, versucht zu haben, die Außentür geräuschlos zu öffnen. Außerdem steht fest, daß dem Kläger, R. und E. bereits bei ihrem ersten Besuch in der "B.” Hausverbot erteilt worden war. Dies ist nicht nur von ihm selbst, sondern auch vom Zeugen E. vor dem Senat und unter anderem vom Gastwirt M., seinem Geschäftsführer Sch. und den ermittelnden Polizeibeamten Sch. und E. im Straf- und Zivilrechtsverfahren bestätigt worden. Danach ist zunächst davon auszugehen, daß von dem Kläger mit dem Betreten des Anwesens der "B.” und dem Versuch, wenigstens bis in den Vorraum zum Zigarettenautomaten zu gelangen, der Tatbestand des Hausfriedensbruchs (§ 123 Abs. 1 des Strafgesetzbuches – StGB) erfüllt wurde und insoweit für den Geschäftsführer Sch. und den Gastwirt M. ein Notwehrrecht im Sinne des § 32 StGB und des § 227 des Bürgerlichen Gesetzbuches (EGE) gegeben war (vgl. zum Begriff der Selbsthilfe nach OEG-Grundsätzen: ESG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9a RVg 2/84 – in SozR 1300 § 45 SGB 10 Nr. 24).

Indessen bewertet der Senat auch insoweit mit dem OLG übereinstimmend den unmittelbaren schädigenden Vorgang durch Sch., nachdem der Kläger sich von der "B.” abgewandt hatte und das rechtswidrige Eindringen in die Gastwirtschaft abgeschlagen war, als eine von der Rechtsordnung nicht mehr gebilligte Überschreitung des ursprünglich gegebenen Notwehrrechtes. Der Kläger hatte die Flucht ergriffen. Seine weitere Verfolgung und schließliche Verletzung in einer Entfernung von etwa 75 bis 80 Metern zur "B.” wird durch das Notwehrrecht nicht mehr gedeckt. Sch. Angriff war daher rechtswidrig und auch vorsätzlich, da ganz offensichtlich eine "Abreibung” gewollt war wegen der um 23.00 Uhr vorausgegangenen Auseinandersetzungen. Ob R. und der Kläger beim zweiten Besuch der "B.” bewaffnet waren, ist insoweit rechtlich ohne Belang.

Sind hiernach die Voraussetzungen aus § 1 Satz 1 OEG an sich erfüllt, so mußte der Beklagte den Anspruch gleichwohl versagen, da der Kläger als Geschädigter die Schädigung wesentlich mit verursacht hat (§ 2 Abs. 1 1. Alternative OEG). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (ESG), der sich der Senat, anschließt, richtet sich die rechtliche Beurteilung einer Verursachung des eingetretenen Schadens nach der versorgungsrechtlichen Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung. Sie gilt auch im Recht der Opferentschädigung. Danach ist eine Ursache wesentlich, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges im Verhältnis zu den übrigen Umständen mindestens annähernd gleichwertig ist. Ein solches gleichwertiges Verhalten des Geschädigten ist dabei in der Regel nur dann als wesentlich bedeutsam für den Erfolg im Sinne des § 2 Abs. 1 OEG zu beurteilen, wenn es ebenso wie der rechtswidrige tätliche Angriff des Schädigers von der Rechtsordnung mißbilligt wird (vgl. BSG, Urteil vom 7. Dezember 1983 – 9 RVg 40/82 – in SozR 3800 § 2 CEG Nr. 4 m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor, wobei es auch insoweit rechtlich unerheblich ist, ob der Kläger und R. beim 2. Aufsuchen der "B.” bewaffnet waren oder nicht. Nach Auffassung des Senats sind bei der Frage, ob und inwieweit das Opfer ursächlich gehandelt hat, alle Umstände heranzuziehen, die objektiv tatfördernd waren oder subjektiv tatfördernd gewirkt haben können. Dabei sind die beiderseitigen Kausalitätsbeiträge im Sinne eines Vergleichs und eines Abwägens unter Berücksichtigung der im Einzelfall festgestellten individuellen psychologischen Situation der Beteiligten zu beachten (vgl. Barth in SGb 1985, 314, 317). Insoweit kann das Geschehen nach Mitternacht nicht losgelöst von demjenigen zuvor um 23.00 Uhr betrachtet werden. Diese Umstände sind davon gekennzeichnet, daß der Kläger, wenn auch nicht als sogenannter "Matador”, zusammen mit E. und dem Nichtraucher R. bereits beim ersten Besuch in Streit und Tätlichkeiten verwickelt wurde, die schließlich damit endeten, daß sie von M. mit einem Hausverbot belegt wurden. Sie konnten sodann unter Begleitung der Polizei die "B” verlassen, wobei eine feindselige Stimmung zwischen beiden Gruppierungen, nämlich den Zurückbleibenden und den Weggehenden fortbestand. Sie wurde insbesondere dadurch angeheizt, daß R. beim Weggehen damit drohte, wiederzukommen und alles kaputtzuschlagen. Zwar haben der Kläger und E. bestritten, eine solche Äußerung gehört zu haben. Nach den Ermittlungen im Strafverfahren und der Beweiserhebung im Zivilrechtsverfahren ist dieser Umstand aber bewiesen, auch wenn R. seine Äußerung im Strafverfahren leugnete. Bei seiner Vernehmung vor dem Landgericht Gießen am 4. Dezember 1978 hat er diese, die im übrigen von den Zeugen S., M. H. M. (früher: M.) und E. (am 5. Februar 1979) bestätigt worden ist, dadurch abzuschwächen versucht, daß er nur ein Wiedersehen vor Gericht gemeint habe. Wäre dies so zutreffend, so würde der Gastwirt M. nicht gesagt haben, "Ja, komm nur, dann, schieß ich dir eine Kugel in den Kopf”, wie die Polizeibeamten E. und H. am 15. Juli 1976 vermerkten und ersterer vor dem Landgericht Gießen als Zeuge bekundete. Das unter solchen Voraussetzungen der Boden für weitere Auseinandersetzungen mit Tätlichkeiten unter beiden Gruppierungen bereitet war, erhellt auch aus den eigenen Angaben des selbst nicht rechtstreuen Klägers (vgl. zum Problem der Rechtstreue geschädigter Gewaltopfer: Stolleis in Festschrift für Wannagat "Im Dienst des Sozialrechts”, Carl Heimanns Verlag KG, S. 579 ff., 592) vor dem Senat. Er hat zwar zunächst dargelegt, daß er die Situation für sich als nicht gefährlich angesehen habe, da es sich im Prinzip um eine Auseinandersetzung von R. und dem Personal der "B.” gehandelt habe. Im Widerspruch dazu steht aber einmal, daß auch ihm ein Hausverbot erteilt werden war, was er wußte. Der Zeuge Sch. hatte hierzu vor dem Landgericht Gießen am 5. Februar 1979 ausgesagt, daß sie den "jungen Leuten” klar gemacht hätten, das Lokal nicht erneut betreten zu dürfen. Zum anderen hat der Kläger seine Absichten beim zweiten Besuch selbst dahingehend geschildert, daß er versuchte, die Tür der "B.” vorsichtig und geräuschlos aufzuziehen, um unbemerkt die Zigaretten aus dem Automaten im Vorraum ziehen zu können. Als die Tür quietschte, bekam er es mit der Angst zu tun und er trat die Flucht an. Hieraus folgt, daß er trotz des genossenen Alkohols bei einer von Prof. Dr. Sch. (Institut für Rechtsmedizin der U. G.) nach dem Gutachten vom 25. Mai 1976 festgestellten Blutalkoholkonzentration von etwa 1,5 Promille in der Lage war, die Gefährlichkeit der Situation im Hinblick auf die Vorgeschichte zu erkennen und rechtzeitig Absetzbewegungen zu versuchen. Wäre es anders gewesen, so hätte es zunächst nicht eines solchen vorsichtigen Vorgehens von Anbeginn beim zweiten Besuch bedurft. Hinzu kommt, daß nach den Bekundungen des Zeugen E. vor dem Landgericht Gießen am 4. Dezember 1978 der Zeuge St. den Kläger und R. darauf hingewiesen hatte, möglichst keine Zigaretten mehr von der "B” zu holen, da er mit dem Wirt schon Streit gehabt habe. Weiter ist von Bedeutung, daß R., der Nichtraucher ist und keiner Zigaretten bedurfte, den Kläger in Kenntnis der vorausgegangenen Geschehensabläufe begleitete und auch von der "B.” aus erkenn- und sichtbar vor dieser auf dem Weg stehend zurückblieb, was M. und Sch. als eine Bedrohung nach den gegen 23.00 Uhr gefallenen Ankündigungen empfinden konnten. Unter Abwägung aller dieser Umstände in einer psychologisch angeheizten Situation ist der Senat der Überzeugung, daß der Kläger die ohnehin bereits geschlossene "B.” um 2.00 Uhr morgens nicht erneut aufsuchen durfte, sollten tätliche Auseinandersetzungen jeglicher Art, in die er hineingezogen werden konnte, gänzlich vermieden werden. Der Senat bewertet den "Tatbeitrag” des Klägers nach alledem als rechtlich wesentlich mitwirkende Ursache im Sinne der eben dargelegten Lehre vom Ursachenzusammenhang nach dem OEG-Recht.

Aber selbst wenn keine wesentliche Mitverursachung im Sinne der ersten Alternative von § 2 Abs. 1 OEG vorläge, muß hier der Anspruch wegen Unbilligkeit (§ 2 Abs. 1 2. Alternative OEG) versagt werden. Wie das ESG im Urteil vom 24. April 1980 (9 RVg 1/79 – in SozR 3800 § 2 OEG Nr. 2) ausgeführt hat, ist ein tatförderndes Verhalten nicht schlechthin in jedem Fall leistungsausschließend, sondern nur, wenn es schwer wiegt und vorwerfbar ist. Diese Voraussetzungen sind im allgemeinen dann gegeben, wenn sich der Geschädigte nach den besonderen Umständen des Falles z.B. leichtfertig an einer Schlägerei beteiligt. Dabei ist der Begriff der Beteiligung weit zu fassen; er erstreckt sich auch auf denjenigen, der ohne jeglichen tätlichen Angriff in feindseliger Weise bzw. Absicht "mitmischt”. Hierin, rechnet jede psychische oder physische Mitwirkung des in das Geschehen Mitverwickelten, wobei es auf die Teilnehmerzahl des an einer gegensätzlichen Tätlichkeit ausartenden Streites nicht ankommt (vgl. ESG, a.a.O.). So ist unter einer Schlägerei nach der Rechtsprechung zu § 192 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F. auch die tätliche Auseinandersetzung unter mindestens zwei Personen zu verstehen. Nach dieser Vorschrift konnte Versicherten Krankengeld für die Krankheit versagt werden, die sie sich vorsätzlich oder durch schuldhafte Beteiligung bei Schlägereien oder Raufhändeln zugezogen hatten. Für das Verständnis des § 192 RVO a.F. war von der gesetzgeberischen Überlegung auszugehen, daß zu Lasten der Solidargemeinschaft derjenige Versicherte keine Barleistungen aus Anlaß der Krankheit erhalten sollte, der die Krankheit hätte vermelden können und müssen. Damit sollte das Risiko einer vorhersehbaren und vermeidbaren Gesundheitsschädigung von der Versichertengemeinschaft ferngehalten werden (vgl. ESG, a.a.O., m.w.N.). Der Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung des ESG aufgrund eigener Meinungsbildung an.

Danach führt der zu § 192 RVO a.F. entwickelte Grundgedanke, der auch hier bedenkenfrei anzuwenden ist, nach den ober getroffenen Feststellungen zum Leistungsausschluß unter dem Gesichtspunkt der Unbilligkeit. Wie dargelegt, war sich der Kläger durchaus der Gefährlichkeit der aufgeheizten Situation, in die er sich mit dem zweiten Aufsuchen der "B.” unter Mitnahme des "Matadoren” R. begeben hatte, bewußt. Daß es zu erneuten Tätlichkeiten, die insbesondere auch ihn treffen könnten, kommen würde oder sehr wahrscheinlich dazu kommen konnte, war nach der Vorgeschichte unter Beachtung einfachster und ganz naheliegender Überlegungen voraussehbar. Seine Handlungsweise war daher höchst leichtfertig. Wer sich aber in eine solche, kriminogene Situation vergleichbare Lage begibt, kann nicht erwarten, daß die Allgemeinheit für einer erlittenen Körperschaden aufkommt, zumal dann, wenn keinerlei sozialnützliche Motive für das Opferverhalten, wie hier, gegeben sind (vgl. dazu: Baumann in SGb in 1980, 221, 226).

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.
Rechtskraft
Aus
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