L 6/2 An 997/77

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6/2 An 997/77
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine ehrenamtliche DRK-Schwester, die während des Krieges als Wachthabende des DRK-Bahnhofsdienstes Sanitätsdienste für durchreisende Wehrmachtsangehörige leistete, hat keinen militärähnlichen Dienst „bei der Wehrmacht” im Sinne des § 3 Abs. 1 Buchstabe f BVG geleistet, wenn sie nicht durch das örtlich zuständige Wehrkreiskommando zum Sanitätsdienst einberufen worden war.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 15. Juni 1977 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anmerkung einer Ersatzzeit.

Die 1913 geborene Klägerin wurde am 2. Oktober 1938 als ehrenamtliche DRK (Deutsches Rotes Kreuz) – Schwesternhelferin aufgenommen. Von September 1939 bis Ende 1944 war sie als Wachtführerin im DRK-Bahnhofsdienst des A. Hauptbahnhofes tätig mit Ausnahme einer kurzzeitigen Tätigkeit als Altenbetreuerin in R., wohin sie als DRK-Schwester nach einem Luftangriff auf A. abkommandiert worden war. Von Ende 1944 bis November 1946 arbeitete sie für das DRK als Schwester und Küchenleiterin im Lazarett Kriegshaberschule in A ...

Auf den Antrag der Klägerin vom 26. März 1974 bewilligte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 23. Januar 1975 vorgezogenes Altersruhegeld ab 1. Januar 1975 unter Anrechnung von Versicherungszeiten vom 1. Juni 1956 bis 31. Dezember 1974. Eine Berücksichtigung der Zeit von September 1939 bis November 1946 lehnte die Beklagte ab. Der Widerspruch der Klägerin war wegen Fristversäumnis erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19. Juni 1975).

Mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht Wiesbaden machte die Klägerin die Anrechnung der Zeit vom 1. September 1939 bis 30. November 1946 als Ersatzzeit geltend. Sie vertrat die Auffassung, daß es sich bei ihrer Tätigkeit für das DRK um einen militärähnlichen Dienst gehandelt habe. Als Wachtführerin im Bahnhofsdienst habe sie Sanitätsdienste ausschließlich für durchreisende Wehrmachtsangehörige geleistet. Sie habe einem militärischen Reglement unterlegen und sei dementsprechend zum Tragen einer Uniform mit Rangabzeichen verpflichtet gewesen; außerdem habe Grußpflicht bestanden. Als Wachtführerin hätten ihr 6–8 Helferinnen sowie ein ausgebildeter DRK-Sanitäter unterstanden.

Das Sozialgericht gewährte der Klägerin wegen der Versäumung der Widerspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Beschluss vom 4. März 1977) und verpflichtete die Beklagte durch Urteil vom 15. Juni 1977 zur Anrechnung der Zeit vom 1. September 1939 bis 30. November 1946 als Ersatzzeit. In den Entscheidungsgründen ging das Gericht davon aus, daß es sich bei der streitigen Zeit um einen Dienst der freiwilligen Krankenpflege bei der Wehrmacht im Kriege gehandelt habe (§ 3 Abs. 1 Buchst. f Bundesversorgungsgesetz – BVG –).

Gegen dieses am 7. September 1977 zugestellte Urteil richtet sich die am 28. September 1977 eingegangene Berufung der Beklagten.

Sie ist der Ansicht, daß die Klägerin keinen Dienst "bei der Wehrmacht” im Sinne der gesetzlichen Vorschrift geleistet habe, da die Dienstleistungen nicht auf einer Einberufung oder Beorderung durch das zuständige Wehrkreiskommando beruht hätten. Für die Zeit vom 9. Mai 1945 bis 30. November 1946 komme die Anwendung des § 3 Abs. 1 Buchst. f BVG schon deswegen nicht in Betracht, weil mit der Kapitulation nur noch die Befehlsgewalt der Besatzungsmächte gegolten habe und die Dispositionsbefugnisse der deutschen Wehrmacht beendet gewesen seien.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 15. Juni 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens wird auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen, insbesondere den der Rentenakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig; sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist auch begründet.

Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Unrecht zur Anrechnung einer Ersatzzeit vom 1. September 1939 bis 30. November 1946 verurteilt.

Nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG), der hier alleine in Betracht kommt, werden als Ersatzzeiten u.a. angerechnet Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 BVG, die aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden sind. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen nicht zugunsten der Klägerin vor.

Entgegen ihrer Rechtsauffassung hat die Klägerin keinen militärähnlicher Dienst im Sinne des § 3 BVG geleistet, der nach dem zugrunde liegende Sachverhalt allein zu prüfen war.

Die Vorschriften des § 3 Abs. 1 Buchst. b und k BVG können im vorliegenden Fall keine Anwendung finden. Die Klägerin hat ihren Dienst weder aufgrund einer Einberufung durch eine militärische Dienststelle oder auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers geleistet noch aufgrund der 3. Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung (Notdienstverordnung) vom 15. Oktober 1938 (RGBl. 1 S. 1441). Das ergibt sich aus dem eigenen Vorbringen der Klägerin und dem von ihr vorgelegten Schreiben des DRK vom 29. April 1975. Aus diesem Schreiben geht insbesondere hervor, daß ein Einsatz der Klägerin nach der Notdienstverordnung auf der – erhalten gebliebenen – Karteikarte vermerkt worden wäre.

Der bis zum Kriegsende geleistete Sanitätsdienst der Klägerin kann aber auch nicht als Dienst des Personals der freiwilligen Krankenpflege bei der Wehrmacht im Kriege angesehen werden (§ 3 Abs. 1 Buchst. f BVG). Der im angefochtenen Urteil vertretenen gegenteiligen Ansicht des Sozialgerichts vermochte sich der Senat nicht anzuschließen.

Die Klägerin hat ihren Sanitätsdienst nicht "bei der Wehrmacht” geleistet. Dieses Tatbestandsmerkmal ist nur dann erfüllt, wenn der Dienst unter der Dispositionsbefugnis der Wehrmacht geleistet worden ist, also zwischen Dienstleistenden und Wehrmacht ein unmittelbares Rechtsverhältnis bestanden hat (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 25. Mai 1965 – 2 RU 125/62 – in SozEntsch. BSG IX/3 § 3 BVG Nr. 31). Dieses Rechtsverhältnis wurde in der Form begründet, daß das Personal der freiwilligen Krankenpflege, zu der Angehörige des Deutschen Rotes Kreuzes, Krankenschwestern anderer Organisationen und nicht organisierte Krankenschwestern zählten, durch die örtlich zuständigen Wehrkreiskommandos zum Sanitätsdienst einberufen bzw. beordert wurden. Bei Beginn der Verwendung im Sanitätsdienst der Wehrmacht erhielten die Dienstleistenden in der freiwilligen Krankenpflege einen Ausweis des Oberkommandos der Wehrmacht, zwei Armbinden mit vorgeschriebenem Neutralitätszeichen, ein Verwendungsbuch des abstellenden Wehrkreiskommandos und eine Erkennungsmarke, deren Nummer mit der des Verwendungsbuches übereinstimmte (vgl. Koch-Hartmann, Kommentar zum Angestelltenversicherungsgesetz, 3. Auflage, 27. Lieferung – Stand: Oktober 1976 –, § 28 Anm. B 14.1.6.1; Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 10. Juni 1965 in Breithaupt 1965, 932 ff.; Urteil des LSG Nordrhein-Westfallen vom 10. Mai 1955 in "Der Versorgungsbeamte” 1955, 131/132).

Im vorliegenden Fall fehlt es an jeglichen Anhaltspunkten dafür, daß die Klägerin als Wachthabende des Bahnhofsdienstes in einem unmittelbaren Rechtsverhältnis zur Wehrmacht gestanden hat. Sie räumt vielmehr selbst ein, sich an eine Einberufung durch das örtlich zuständige Wehrkreiskommando ebensowenig erinnern zu können wie an die Aushändigung eines Ausweises und einer Erkennungsmarke. Gegen einen Dienst der Klägerin unter der Dispositionsbefugnis der Wehrmacht spricht im übrigen auch der Umstand, daß die Klägerin während des Krieges – wenn auch nur kurzzeitig – zur Altenbetreuung nach R. abgeordnet war. Darauf weist die Beklagte zutreffend hin.

Für die Zeit nach der Kapitulation bis November 1946, in der die Klägerin für das DRK als Schwester und Küchenleiterin im Lazarett Kriegshaberschule in A. tätig war, muß die Anwendung des § 3 Abs. 1 Buchst. f BVG bereits daran scheitern, daß die Vorschrift nach ihrem eindeutigen Wortlaut nur den "im Kriege” geleisteten Dienst der freiwilligen Krankenpflege erfaßt.

Die Klägerin kann ihren geltend gemachten Anspruch schließlich auch nicht auf eine entsprechende Anwendung des § 3 Abs. 1 Buchst. f BVG stützen. Es fehlt nämlich an einer Vergleichbarkeit der Sachverhalte.

Den Vorschriften der §§ 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG, 3 Abs. 1 BVG muß entnommen werden, daß der Gesetzgeber offensichtlich nicht jede beitragslose Zeit und nicht einmal jeden Dienst, zu dessen Ableistung ein Versicherter genötigt wurde, als Ersatzzeit gelten lassen wollte (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 8. September 1977 – 11 RA 100/76 –).

Andererseits ist dieses letztere Merkmal allen Tatbeständen gemeinsam, die im § 3 Abs. 1 BVG geregelt sind. In diesem wesentlichen Punkt unterscheidet sich aber der von der Klägerin geleistete Dienst. Denn die Klägerin wurde zur Ableistung dieses Dienstes nicht durch hoheitliche Maßnahmen gezwungen, sondern verrichtete den Dienst aus humanitären Gründen freiwillig. Daß sich dieser Dienst in seiner äußeren Ausgestaltung in gewissen militärähnlichen Formen vollzog (Tragen von Uniform und Rangabzeichen, Grußpflicht) kann unter diesen Umständen nicht als rechtserheblich angesehen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, da der Senat der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimißt.
Rechtskraft
Aus
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