Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Leipzig (FSS)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
21
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 21 SO 87/07 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Der gewöhnliche Aufenthalt eines minderjährigen, schwerbehinderten EU-Bürgers wird bei Einreise zu seinen in Deutschland lebenden Eltern grundsätzlich durch deren Wohnort bestimmt, wenn diese für ihr Kind zuvor an ihrem Wohnort Leistungen der Eingliederungshilfe beantragt haben. Für die Eingliederungshilfe ist mithin in der Regel der elterliche Wohnsitz maßgeblich, nicht der Ort der Heimunterbringung.
I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, vorläufig Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) für den Antragsteller in der Stiftung " ..." im Kinderwohnheim ..., Landkreis Sömmerda, nach dem Heimvertrag vom 28.03.2007 zu bewilligen. II. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über die Kosten für eine Heimunterbringung.
Der am ...1990 geborene Antragsteller ist griechischer Staatsangehöriger und ältester Sohn von insgesamt 4 Kindern. Laut übersetztem griechischem Gutachten vom 08.03.2005 des Gesundheitsausschusses 1. Grades in I ... leidet er unter schwerer geistiger Behinderung bei einem Intelligenzquotienten von 25, schwerer Verhaltensstörung und ist bei einer – für sein ganzes Leben geltenden – 100 %igen Invalidität berufsunfähig. Er ist auch nicht in der Lage, allein auf die Toilette zu gehen. Die Behinderung beruht auf einer Milchaspiration kurz nach der Geburt, nachdem er zu wenig Sauerstoff bekommen hatte und der Arzt verspätet eingetroffen war.
Mit seinen Eltern reiste er 1991 nach Deutschland ein, die seitdem in Leipzig eine griechische Gaststätte betreiben. Im Jahre 1993 kehrte der Antragsteller nach Griechenland zurück, wo er von seiner Großmutter gepflegt und von seinen Eltern nach deren Angaben regelmäßig besucht wurde. Nachdem die Großmutter gesundheitlich nicht mehr in der Lage war, ihn zu pflegen, erkundigten sich die Eltern am 01.12.2006 bei der Antragsgegnerin nach der Möglichkeit einer stationären Unterbringung. Am 27.02.2007 beantragten sie für ihn Heimunterbringung und zugleich Sozialhilfe. Ferner meldeten sie ihn am 01.03.2007 unter ihrer Wohnanschrift in Leipzig an.
Nach Einreise am 21.03.2007 wurde der Antragsteller unmittelbar in der Stiftung " ..." im Kinderwohnheim .../Thüringen, im Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen, untergebracht. Antragsgegnerin und Beigeladener konnten keine Einigung über die Zuständigkeit zur Kostentragung erzielen. Am 28.03.2007 schloss der Antragsteller, vertreten durch seine Eltern, mit Wirkung vom 22.03.2007 mit dem Einrichtungsträger einen Heimvertrag auf unbestimmte Zeit. Durch Bescheid vom 09.05.2007 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab. Nach sozialhilferechtlichen Vorschriften habe er in Deutschland keinen gewöhnlichen Aufenthalt (?), woran auch die "pro forma" vorgenommene Anmeldung vom 01.03.2007 nichts ändere. Für Leistungen an stationär untergebrachten Personen sei der Leistungsträger zuständig, in dessen Bereich sich die untergebrachte Person zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung oder in den letzten 2 Monaten davor gewöhnlich aufgehalten habe. Wenn ein derartiger gewöhnlicher Aufenthalt nicht feststellbar sei, falle die Leistungsgewährung in die Zuständigkeit des Leistungsträgers am tatsächlichen Aufenthaltsort. Die Weiterleitung des Antrages im Sinne einer zügigen Bearbeitung sei an der ablehnenden Haltung des zuständigen Trägers, dem Beigeladenen, gescheitert.
Hiergegen legte der Antragsteller am 27.05.2007 Widerspruch ein, den er am 26.07.2007 begründete.
Nachdem der Heimträger den Vater des Antragstellers auf Zahlung von Heimkosten für den Monat Juli 2007 in Höhe von insgesamt 9.910,83 EUR in Anspruch genommen hatte, hat der Antragsteller am 10.09.2007 vorläufigen Rechtsschutz zum Sozialgericht Leipzig begehrt. Laut eingereichtem Einkommensteuerbescheid haben seine Eltern im Jahr 2005 ein zu versteuerndes Einkommen in Höhe von 39.526,00 EUR erzielt, das zur Finanzierung der Heimunterbringung nicht ausreiche. Als Bürger der Europäischen Union sei er leistungsberechtigt und auch bedürftig. Da er schwerbehindert sei, bedürfe er der Unterbringung in einer stationären Einrichtung, ohne dass ihm ein Abwarten des Widerspruchsbescheides und der Ausgang eines möglichen Klageverfahrens zugemutet werden könne. Anderenfalls entstünden ihm schwerwiegende Nachteile. Eine gleichartige oder gleich geeignete andere Maßnahme stehe nicht zur Verfügung. In Leipzig habe – wie von den Eltern an Eides Statt versichert wurde - kein geeigneter Heimplatz zur Verfügung gestanden. Die Antragsgegnerin sei dennoch örtlich zuständig, weil der Aufenthalt in einer Einrichtung nicht den gewöhnlichen Aufenthalt begründe; entscheidend sei vielmehr, wo sich die Lebensverhältnisse, u. a. in familiärer Hinsicht, verfestigten. Die persönlichen Kontakte und die Fürsorge liege bei seiner Familie in Leipzig, Betreuung und Beherbergung in der stationären Einrichtung. Deshalb sei er nur mit Nebenwohnsitz in Rastenberg gemeldet, mit Hauptwohnsitz jedoch bei seiner Familie in Leipzig.
Der Antragsteller beantragt,
"die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) für den Antragsteller in der Stiftung ... im Kinderwohnbereich ... nach dem Heimvertrag vom 28.03.2007 zu gewähren".
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsteller besitze keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Sozialgesetzbuchs Erstes Buch (SGB I), weil nach dem subjektiven Willen des Einzelnen kein tatsächlicher Aufenthalt im Bundesgebiet feststellbar sei. Für die Hilfegewährung in stationären Einrichtungen sei der Träger der Sozialhilfe zuständig, in dessen Bereich der Leistungsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe oder in den 2 Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt habe. Wenn dieser nicht feststellbar sei oder ein Eilfall vorliege, sei der Sozialhilfeträger am Ort des tatsächlichen Aufenthaltes vorläufig zur Leistung zu verpflichten. Dieser habe ggf. einen Erstattungsanspruch. Die bloße Anmeldung im Sinne des Sächsischen Meldegesetzes begründe noch keinen gewöhnlichen Aufenthalt, weil es an der tatsächlichen Wohnsitzname fehle.
Der Beigeladene ist der Rechtsauffassung des Antragstellers insoweit beigetreten, als dessen gewöhnlicher Aufenthalt in Leipzig sei. Im Übrigen sei fraglich, ob er als Ausländer überhaupt Leistungen in Anspruch nehmen könne. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Akteninhalt, eine Gerichtsakte sowie einen Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
II.
Der statthafte und zulässige Antrag ist begründet.
Das Gericht kann nach Maßgabe des § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antagstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Da der Antragsteller vorläufig Leistungen der Eingliederungshilfe begehrt, erstrebt er vorläufigen Rechtsschutz entsprechend § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Denn anders als bei einer sogenannten Sicherungsanordnung (§ 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG), bei der die Sicherung eines status quo im Vordergrund steht, geht es bei einer sogenannten Regelungsanordnung, wie im vorliegenden Fall, um die Begründung einer neuen Rechtsposition.
Für die Regelungsanordnung sind (ebenso wie nach § 123 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)) der durch die einstweilige Anordnung zu sichernde Anspruch (Anordnungsanspruch) und der Grund, weshalb die einstweilige Anordnung ergehen soll (Anordnungsgrund), glaubhaft zu machen.
Die Voraussetzungen für einen Anordnungsanspruch sind im Falle der Vorwegnahme der Hauptsache nur glaubhaft gemacht, wenn eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für das Obsiegen im Hauptsacheverfahren besteht (so: OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 20.08.1992, DVBl. 93, 66). Andererseits muss die Anwendung des vorläufigen Rechtsschutzes unter Beachtung des jeweils betroffenen Grundrechtes und des Erfordernisses des effektiven Rechtsschutzes aus Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) erfolgen. Dann müssen jedoch gewichtige Anhaltspunkte dafür sprechen, dass das Rechtsmittel in der Hauptsache aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird (BVerfG, Beschluss vom 25.10.1988, NJW 89, 827).
Nimmt der Erlass der einstweiligen Anordnung die Hauptsache aber vorweg, sind an die Prognose der Erfolgsaussichten besondere Anforderungen zu stellen. Denn mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung darf grundsätzlich nicht etwas begehrt und im gerichtlichen Verfahren zugesprochen werden, was als Vorgriff auf den im Hauptsacheverfahren geltend zu machenden Anspruch anzusehen ist, weil das Gericht dem Wesen und dem Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend die Grenzen der vorläufigen Regelung grundsätzlich nicht überschreiten und damit das im Verwaltungs- und Klageverfahren verfolgte Ziel nicht vorwegnehmen darf (Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., § 123 Rdnr. 13 ff).
Zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes kann mit der einstweiligen Anordnung die Hauptsache ausnahmsweise nur vorweggenommen werden, wenn ohne die einstweilige Anordnung schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile für den Antragsteller entstehen (BVerfGE 46, 166 ff). Die Entscheidung, ob in Anbetracht der besonderen Umstände des Falles ausnahmsweise durch die einstweilige Anordnung die Hauptsache vorweggenommen werden darf, hängt damit wesentlich von der Bedeutung und Dringlichkeit des Anspruches und der Größe sowie Irreparabilität des Schadens für den Antragsteller bzw. die Allgemeinheit ab. Für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtes maßgeblich (BVerfGE 42, 299), wobei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss vom 12.05.2005, Az: 1 BvR 569/05) sich das Gericht bei der Ablehnung existenzieller Leistungen nicht auf eine lediglich summarische Prüfung beschränken, insbesondere die Anforderungen an eine Glaubhaftmachung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nicht überspannen darf. Eine Folgenabwägung führt dazu, dass die Antragsgegnerin die begehrte Eingliederungshilfe vorläufig zu leisten hat:
Entgegen der vom Beigeladenen geäußerten rechtlichen Bedenken dürfte ein Anspruch auf Sozialleistungen bestehen; insbesondere erscheint Sozialhilfe für Ausländer nicht nach Maßgabe des § 23 Abs. 3 SGB XII ausgeschlossen. Danach kommen Sozialleistungen für Ausländer nicht in Betracht, wenn sie eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen oder ihr Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Sind sie zum Zweck einer Behandlung oder Linderung einer Krankheit eingereist, soll Hilfe bei Krankheit insoweit nur zur Behebung eines akut lebensbedrohlichen Zustandes oder für eine unaufschiebbare oder unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren oder ansteckenden Erkrankung geleistet werden.
Wie sich aus der gesetzgeberischen Formulierung, "um Sozialhilfe zu erlangen", ergibt, ist zur Auslegung der Vorschrift wesentlich auf die Beweggründe abzustellen. Das Motiv, Sozialhilfe zu erhalten, muss demzufolge für die Einreise von prägender Bedeutung gewesen sein (BVerwGE 90, 212; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.06.2007, Az: L 9 B 80/07 AS ER), d. h. es muss ein finaler Zusammenhang bestehen (SG Darmstadt, Beschluss vom 01.11.2006, Az: S 16 SO 115/06 ER).
Dies ließ sich hier jedoch nicht feststellen, zumal die materielle Beweislast für dieses, Sozialleistungen ausschließende, Motiv beim Träger der Sozialhilfe liegt (so auch: Grube/Wahrendorf, SGB XII-Kommentar, § 23 Rdnr. 19). Hinzu kommt, dass der minderjährige und schwerbehinderte Antragsteller zu seinen Eltern nach Deutschland zurückgekehrt ist, nachdem er bereits zuvor bei ihnen bis zum Jahr 1993 gelebt hatte. Es dürfte deshalb davon auszugehen sein, dass – nachdem die Großmutter seine Pflege nicht mehr sicherstellen konnte – für die Rückkehr nach Deutschland die Familienzusammenführung (zumindest auch) prägendes Motiv für die (Wieder-) Einreise gewesen ist. Dem entspricht es, dass die gesetzlichen Vertreter des Antragstellers ihn zuvor am 01.03.2007 im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin polizeilich angemeldet hatten. Im Übrigen haben Bürger der Europäischen Union, solange ihnen – wie hier - ein Bleiberecht zusteht, grundsätzlich Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII, das heißt Hilfe zum Lebensunterhalt oder Hilfe bei Krankheit für Ausländer, die sich im Inland tatsächlich aufhalten (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, in: Breithaupt, 2007, 156 ff.).
Für die Gewährung der vorläufigen Sozialleistungen dürfte die Antragsgegnerin - und nicht der Beigeladene – örtlich und sachlich zuständig sein. Während sich die Antragsgegnerin auf den tatsächlichen Heimaufenthalt des Antragstellers im Landkreis Sömmerda/Freistaat Thüringen stützt, verweist die Beigeladene auf die gesetzgeberische Fiktion des § 109 SGB XII. Danach gilt als gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des Zwölften Kapitels und des Dreizehnten Kapitels, 2. Abschnitt, nicht der Aufenthalt in einer Einrichtung im Sinne von § 98 Abs. 2 SGB XII.
Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) kann aber für den Fall, dass ein Anspruch auf Sozialleistungen besteht und zwischen mehreren Leistungsträgern streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist, der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt. Vorleisten kann demzufolge derjenige Leistungsträger, der zuerst angegangen, d. h. mündlich oder schriftlich mit dem Leistungsbegehren befasst worden ist (BVerwGE 91, 177). Dieser hat dann nach Ermessensgesichtspunkten zu entscheiden, ob vorgeleistet wird, wobei der Norm nicht nur der Charakter einer bloßen Zuständigkeitsvorschrift, sondern ein leistungsrechtlicher Inhalt beizumessen ist (ebenso: Mrozynski, SGB I-Komm., 3. Aufl. , § 43 Rdnr. 15). § 43 SGB I ist mithin im Interesse des jeweiligen Hilfesuchenden geschaffen worden, um bei Auseinandersetzungen über die örtliche Zuständigkeit nicht zu einer unzumutbaren Verzögerung der Leistung zu gelangen (so auch: VG Braunschweig, Beschluss vom 12.06.2003, Az: 3 B 268/03; SG Oldenburg, Beschluss vom 19.12.2005, Az: S 2 SO 256/05 ER). Hier hat der Antragsteller indes zuerst – noch vor seiner Einreise – über seine Eltern Eingliederungs- und Sozialhilfe von der Antragsgegnerin beantragt, bevor er im Kinderwohnheim R ... im Landkreis Sömmerda untergebracht worden war.
Wenn die übrigen Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 SGB I vorliegen, steht die Gewährung von Sozialleistungen aber nicht mehr nur im Ermessen des zuerst angegangenen Trägers; vielmehr ist er dann sogar hierzu verpflichtet (so: Rolfs, in: Hauck/Noftz, SGB I-Komm., § 43 SGB I 22. Lfg. Rdnr. 13). Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I hat der zuerst angegangene Leistungsträger Leistungen nach Satz 1 der Vorschrift zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt; die vorläufigen Leistungen beginnen spätestens nach Ablauf des Kalendermonats nach Eingang des Antrages. Daraus folgt, dass die Antragsgegnerin als zuerst angegangener Sozialhilfeträger die begehrten Leistungen vorläufig erbringen muss.
Eine derartige Verpflichtung könnte nur dann entfallen, wenn nach materiellem Recht, unter keinen denkbaren Umständen, eine Leistungsgewährung ausscheidet (so: Mrozynski, in: SGb 1987, 140 (142)). Hiervon hat sich das Gericht jedoch nicht zu überzeugen vermocht:
Gemäß § 98 Abs. 2 Satz 1 SGB XII ist zwar für die stationäre Leistung der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Leistungsberechtigten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung haben oder in den 2 Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hatten. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort und in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I).
Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Kinderwohnheim R .../Landkreis Sömmerda und damit im Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen genommen hat. Denn der tatsächliche Aufenthalt muss mit dem gewöhnlichen Aufenthalt nicht übereinstimmen. Der gewöhnliche Aufenthalt liegt vielmehr immer dort, wo nicht nur vorübergehend der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen besteht. Dies setzt eine gewisse Verfestigung der Lebensverhältnisse an diesem Ort, vor allem in familiärer, sozialer und beruflicher Hinsicht voraus (BVerwGE 99, 158). Hier hat sich der Antragsteller vor Einreise nach Deutschland in Griechenland bei seiner ihn pflegenden Großmutter aufgehalten. Insbesondere nach Verlassen seines Heimatlandes, der für ihn gewohnten Umgebung einschließlich seiner Pflegeperson und Einreise in ein für ihn fremdes Land liegen seine familiären Bindungen und Beziehungen jedoch nunmehr ausschließlich bei seiner Familie in Leipzig. Eine weitere "Verfestigung" dieser Bindungen zu seiner Familie in Leipzig steht zu erwarten, zumal ihn seine Eltern bereits bei Besuchen in Griechenland nach eigenen Angaben regelmäßig besucht haben.
Dem wird die Antragsgegnerin nicht mit Erfolg § 98 Abs. 2 Satz 3 SGB XII entgegenhalten können. Danach hat der nach Abs. 1 zuständige Träger der Sozialhilfe, d. h. der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich die Leistungsberechtigten tatsächlich aufhalten, über die Leistung unverzüglich zu entscheiden und sie vorläufig zu erbringen, wenn innerhalb von 4 Wochen nicht feststeht, ob und wo der gewöhnliche Aufenthalt nach Satz 1 oder 2 begründet worden oder ein gewöhnlicher Aufenthaltsort nicht vorhanden oder nicht zu ermitteln ist oder ein Eilfall vorliegt. Der tatsächliche (Heim-)Aufenthaltsort soll demzufolge im Eilfall oder bei Zuständigkeitszweifeln maßgeblich sein.
Ein "Eilfall" besteht nicht, weil der Antragsteller bereits über seine gesetzlichen Vertreter am 01.12.2006 wegen der begehrten Leistungen bei der Antragsgegnerin angefragt und diese bereits am 27.02.2007 beantragt hatte, mithin mehrere Wochen vor seiner Einreise. Nach § 18 Abs. 1 SGB XII setzt die Sozialhilfe aber bereits ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. Wird einem nicht zuständigen Träger der Sozialhilfe oder einer nicht zuständigen Gemeinde im Einzelfall bekannt, dass Sozialhilfe beansprucht wird, so sind die darüber bekannten Umstände dem zuständigen Träger der Sozialhilfe oder der von ihm beauftragten Stelle unverzüglich mitzuteilen und vorhandene Unterlagen zu übersenden. Ergeben sich daraus die Voraussetzungen für die Leistung, setzt die Sozialhilfe zu dem nach Satz 1 maßgebenden Zeitpunkt ein (Abs. 2 der Vorschrift).
Zuständigkeitszweifel dürften ebenfalls nicht vorliegen. Zwar wurde der Antragsteller nach unbestrittenen Angaben nach Ausreise aus Griechenland und unmittelbar nach seiner Einreise in die Einrichtung im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen verbracht; der gewöhnliche Aufenthalt muss aber – wie aufgezeigt – mit dem tatsächlichen nicht übereinstimmen, zumal ihn seine Eltern zuvor mit erstem Wohnsitz bei seiner Familie in Leipzig angemeldet hatten. Nach bürgerlichrechtlichen Maßstäben teilt aber das minderjährige Kind grundsätzlich den Wohnsitz der Eltern (vgl. § 11 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)). Wenn § 98 Abs. 2 Satz 3 SGB XII auch auf Fälle anzuwenden sein soll, bei denen der gewöhnliche Aufenthalt vor Aufnahme in die stationäre Einrichtung zwar vorhanden war, aber außerhalb der Bundesrepublik Deutschland lag (so: Schoch, in: LPK-SGB XII, 7. Aufl. , § 98 Rdnr. 44), kann dies einschränkend nur für diejenigen gelten, die, mangels verfestigter beruflicher, familiärer oder sozialer Bindungen, keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet vor ihrer Heimunterbringung zu begründen vermochten. Dies dürfte vorliegend indes ausscheiden.
Des Weiteren dürfte ein gewöhnlicher Aufenthalt am Ort des tatsächlichen (Heim-) Aufenthalts nach Maßgabe des § 109 SGB XII hier außer Betracht bleiben. Die Vorschrift unterstellt fiktiv, dass als gewöhnlicher Aufenthalt nicht der Aufenthalt in einer Einrichtung im Sinne des § 98 Abs. 2 SGB XII gilt. Hiermit soll erreicht werden, dass der Träger der Sozialhilfe des Einrichtungsortes vor weiteren Zahlungsinanspruchnahmen bewahrt wird (vgl. dazu: Schoch, in: LPG-SGB XII, 7. Aufl. , § 109 Rdnr. 2 ff; Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII-Komm., 17. Aufl., Rdnr. 3f). Dieser Schutz des Einrichtungsträgers vor (weiteren) Heimunterbringungskosten ist vom früheren Bundessozialhilfegesetz (BSHG, § 109) übernommen worden. Ebenso wie nach § 98 Abs. 5 SGB XII soll der örtliche Träger, in dessen Gebiet ein freier Träger als Anbieter in ambulant betreuten Wohnformen seinen Sitz hat, vor einer stärkeren Kostenbelastung geschützt werden, und zwar dadurch, dass an die örtliche Zuständigkeit des Leistungsträgers angeknüpft wird, wo sich der Hilfesuchende vor Eintritt in diese Wohnform aufgehalten hat (ebenso: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21.06.2007, Az: L 13 SO 5/07 ER). Zwar hat sich der Antragsteller tatsächlich vor seiner Einreise in Griechenland und nicht im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin aufgehalten; gleichwohl ist diese – wie aufgezeigt – als zuerst angegangener Sozialhilfeträger und Ort der familiären Bindungen des Antragstellers vorläufig zur Zahlung von Eingliederungshilfe verpflichtet. Ferner hatte sich der gewöhnliche Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland, vor Ausreise im Jahr 1993, zuletzt in Leipzig befunden.
Es besteht auch ein Anordnungsgrund. Wegen bereits aufgelaufener Pflegekosten, zu deren Tragung die gesetzlichen Vertreter des Antragstellers derzeit glaubhaft nicht in der Lage sind, steht zu befürchten, dass er aus der Einrichtung entlassen wird. So hat die Stiftung " ..." dem Vater des Antragstellers bereits wegen aufgelaufener Beträge für die Monate Mai bis Juli 2007 Kosten in Höhe von 19.821,66 EUR in Rechnung gestellt und gemahnt. Sein Bedarf an Pflege- und Eingliederungsleistungen muss jedoch fortlaufend durch eine Einrichtung gedeckt werden.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über die Kosten für eine Heimunterbringung.
Der am ...1990 geborene Antragsteller ist griechischer Staatsangehöriger und ältester Sohn von insgesamt 4 Kindern. Laut übersetztem griechischem Gutachten vom 08.03.2005 des Gesundheitsausschusses 1. Grades in I ... leidet er unter schwerer geistiger Behinderung bei einem Intelligenzquotienten von 25, schwerer Verhaltensstörung und ist bei einer – für sein ganzes Leben geltenden – 100 %igen Invalidität berufsunfähig. Er ist auch nicht in der Lage, allein auf die Toilette zu gehen. Die Behinderung beruht auf einer Milchaspiration kurz nach der Geburt, nachdem er zu wenig Sauerstoff bekommen hatte und der Arzt verspätet eingetroffen war.
Mit seinen Eltern reiste er 1991 nach Deutschland ein, die seitdem in Leipzig eine griechische Gaststätte betreiben. Im Jahre 1993 kehrte der Antragsteller nach Griechenland zurück, wo er von seiner Großmutter gepflegt und von seinen Eltern nach deren Angaben regelmäßig besucht wurde. Nachdem die Großmutter gesundheitlich nicht mehr in der Lage war, ihn zu pflegen, erkundigten sich die Eltern am 01.12.2006 bei der Antragsgegnerin nach der Möglichkeit einer stationären Unterbringung. Am 27.02.2007 beantragten sie für ihn Heimunterbringung und zugleich Sozialhilfe. Ferner meldeten sie ihn am 01.03.2007 unter ihrer Wohnanschrift in Leipzig an.
Nach Einreise am 21.03.2007 wurde der Antragsteller unmittelbar in der Stiftung " ..." im Kinderwohnheim .../Thüringen, im Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen, untergebracht. Antragsgegnerin und Beigeladener konnten keine Einigung über die Zuständigkeit zur Kostentragung erzielen. Am 28.03.2007 schloss der Antragsteller, vertreten durch seine Eltern, mit Wirkung vom 22.03.2007 mit dem Einrichtungsträger einen Heimvertrag auf unbestimmte Zeit. Durch Bescheid vom 09.05.2007 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab. Nach sozialhilferechtlichen Vorschriften habe er in Deutschland keinen gewöhnlichen Aufenthalt (?), woran auch die "pro forma" vorgenommene Anmeldung vom 01.03.2007 nichts ändere. Für Leistungen an stationär untergebrachten Personen sei der Leistungsträger zuständig, in dessen Bereich sich die untergebrachte Person zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung oder in den letzten 2 Monaten davor gewöhnlich aufgehalten habe. Wenn ein derartiger gewöhnlicher Aufenthalt nicht feststellbar sei, falle die Leistungsgewährung in die Zuständigkeit des Leistungsträgers am tatsächlichen Aufenthaltsort. Die Weiterleitung des Antrages im Sinne einer zügigen Bearbeitung sei an der ablehnenden Haltung des zuständigen Trägers, dem Beigeladenen, gescheitert.
Hiergegen legte der Antragsteller am 27.05.2007 Widerspruch ein, den er am 26.07.2007 begründete.
Nachdem der Heimträger den Vater des Antragstellers auf Zahlung von Heimkosten für den Monat Juli 2007 in Höhe von insgesamt 9.910,83 EUR in Anspruch genommen hatte, hat der Antragsteller am 10.09.2007 vorläufigen Rechtsschutz zum Sozialgericht Leipzig begehrt. Laut eingereichtem Einkommensteuerbescheid haben seine Eltern im Jahr 2005 ein zu versteuerndes Einkommen in Höhe von 39.526,00 EUR erzielt, das zur Finanzierung der Heimunterbringung nicht ausreiche. Als Bürger der Europäischen Union sei er leistungsberechtigt und auch bedürftig. Da er schwerbehindert sei, bedürfe er der Unterbringung in einer stationären Einrichtung, ohne dass ihm ein Abwarten des Widerspruchsbescheides und der Ausgang eines möglichen Klageverfahrens zugemutet werden könne. Anderenfalls entstünden ihm schwerwiegende Nachteile. Eine gleichartige oder gleich geeignete andere Maßnahme stehe nicht zur Verfügung. In Leipzig habe – wie von den Eltern an Eides Statt versichert wurde - kein geeigneter Heimplatz zur Verfügung gestanden. Die Antragsgegnerin sei dennoch örtlich zuständig, weil der Aufenthalt in einer Einrichtung nicht den gewöhnlichen Aufenthalt begründe; entscheidend sei vielmehr, wo sich die Lebensverhältnisse, u. a. in familiärer Hinsicht, verfestigten. Die persönlichen Kontakte und die Fürsorge liege bei seiner Familie in Leipzig, Betreuung und Beherbergung in der stationären Einrichtung. Deshalb sei er nur mit Nebenwohnsitz in Rastenberg gemeldet, mit Hauptwohnsitz jedoch bei seiner Familie in Leipzig.
Der Antragsteller beantragt,
"die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) für den Antragsteller in der Stiftung ... im Kinderwohnbereich ... nach dem Heimvertrag vom 28.03.2007 zu gewähren".
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsteller besitze keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Sozialgesetzbuchs Erstes Buch (SGB I), weil nach dem subjektiven Willen des Einzelnen kein tatsächlicher Aufenthalt im Bundesgebiet feststellbar sei. Für die Hilfegewährung in stationären Einrichtungen sei der Träger der Sozialhilfe zuständig, in dessen Bereich der Leistungsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe oder in den 2 Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt habe. Wenn dieser nicht feststellbar sei oder ein Eilfall vorliege, sei der Sozialhilfeträger am Ort des tatsächlichen Aufenthaltes vorläufig zur Leistung zu verpflichten. Dieser habe ggf. einen Erstattungsanspruch. Die bloße Anmeldung im Sinne des Sächsischen Meldegesetzes begründe noch keinen gewöhnlichen Aufenthalt, weil es an der tatsächlichen Wohnsitzname fehle.
Der Beigeladene ist der Rechtsauffassung des Antragstellers insoweit beigetreten, als dessen gewöhnlicher Aufenthalt in Leipzig sei. Im Übrigen sei fraglich, ob er als Ausländer überhaupt Leistungen in Anspruch nehmen könne. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Akteninhalt, eine Gerichtsakte sowie einen Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
II.
Der statthafte und zulässige Antrag ist begründet.
Das Gericht kann nach Maßgabe des § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antagstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Da der Antragsteller vorläufig Leistungen der Eingliederungshilfe begehrt, erstrebt er vorläufigen Rechtsschutz entsprechend § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Denn anders als bei einer sogenannten Sicherungsanordnung (§ 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG), bei der die Sicherung eines status quo im Vordergrund steht, geht es bei einer sogenannten Regelungsanordnung, wie im vorliegenden Fall, um die Begründung einer neuen Rechtsposition.
Für die Regelungsanordnung sind (ebenso wie nach § 123 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)) der durch die einstweilige Anordnung zu sichernde Anspruch (Anordnungsanspruch) und der Grund, weshalb die einstweilige Anordnung ergehen soll (Anordnungsgrund), glaubhaft zu machen.
Die Voraussetzungen für einen Anordnungsanspruch sind im Falle der Vorwegnahme der Hauptsache nur glaubhaft gemacht, wenn eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für das Obsiegen im Hauptsacheverfahren besteht (so: OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 20.08.1992, DVBl. 93, 66). Andererseits muss die Anwendung des vorläufigen Rechtsschutzes unter Beachtung des jeweils betroffenen Grundrechtes und des Erfordernisses des effektiven Rechtsschutzes aus Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) erfolgen. Dann müssen jedoch gewichtige Anhaltspunkte dafür sprechen, dass das Rechtsmittel in der Hauptsache aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird (BVerfG, Beschluss vom 25.10.1988, NJW 89, 827).
Nimmt der Erlass der einstweiligen Anordnung die Hauptsache aber vorweg, sind an die Prognose der Erfolgsaussichten besondere Anforderungen zu stellen. Denn mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung darf grundsätzlich nicht etwas begehrt und im gerichtlichen Verfahren zugesprochen werden, was als Vorgriff auf den im Hauptsacheverfahren geltend zu machenden Anspruch anzusehen ist, weil das Gericht dem Wesen und dem Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend die Grenzen der vorläufigen Regelung grundsätzlich nicht überschreiten und damit das im Verwaltungs- und Klageverfahren verfolgte Ziel nicht vorwegnehmen darf (Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., § 123 Rdnr. 13 ff).
Zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes kann mit der einstweiligen Anordnung die Hauptsache ausnahmsweise nur vorweggenommen werden, wenn ohne die einstweilige Anordnung schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile für den Antragsteller entstehen (BVerfGE 46, 166 ff). Die Entscheidung, ob in Anbetracht der besonderen Umstände des Falles ausnahmsweise durch die einstweilige Anordnung die Hauptsache vorweggenommen werden darf, hängt damit wesentlich von der Bedeutung und Dringlichkeit des Anspruches und der Größe sowie Irreparabilität des Schadens für den Antragsteller bzw. die Allgemeinheit ab. Für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtes maßgeblich (BVerfGE 42, 299), wobei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss vom 12.05.2005, Az: 1 BvR 569/05) sich das Gericht bei der Ablehnung existenzieller Leistungen nicht auf eine lediglich summarische Prüfung beschränken, insbesondere die Anforderungen an eine Glaubhaftmachung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nicht überspannen darf. Eine Folgenabwägung führt dazu, dass die Antragsgegnerin die begehrte Eingliederungshilfe vorläufig zu leisten hat:
Entgegen der vom Beigeladenen geäußerten rechtlichen Bedenken dürfte ein Anspruch auf Sozialleistungen bestehen; insbesondere erscheint Sozialhilfe für Ausländer nicht nach Maßgabe des § 23 Abs. 3 SGB XII ausgeschlossen. Danach kommen Sozialleistungen für Ausländer nicht in Betracht, wenn sie eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen oder ihr Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Sind sie zum Zweck einer Behandlung oder Linderung einer Krankheit eingereist, soll Hilfe bei Krankheit insoweit nur zur Behebung eines akut lebensbedrohlichen Zustandes oder für eine unaufschiebbare oder unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren oder ansteckenden Erkrankung geleistet werden.
Wie sich aus der gesetzgeberischen Formulierung, "um Sozialhilfe zu erlangen", ergibt, ist zur Auslegung der Vorschrift wesentlich auf die Beweggründe abzustellen. Das Motiv, Sozialhilfe zu erhalten, muss demzufolge für die Einreise von prägender Bedeutung gewesen sein (BVerwGE 90, 212; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.06.2007, Az: L 9 B 80/07 AS ER), d. h. es muss ein finaler Zusammenhang bestehen (SG Darmstadt, Beschluss vom 01.11.2006, Az: S 16 SO 115/06 ER).
Dies ließ sich hier jedoch nicht feststellen, zumal die materielle Beweislast für dieses, Sozialleistungen ausschließende, Motiv beim Träger der Sozialhilfe liegt (so auch: Grube/Wahrendorf, SGB XII-Kommentar, § 23 Rdnr. 19). Hinzu kommt, dass der minderjährige und schwerbehinderte Antragsteller zu seinen Eltern nach Deutschland zurückgekehrt ist, nachdem er bereits zuvor bei ihnen bis zum Jahr 1993 gelebt hatte. Es dürfte deshalb davon auszugehen sein, dass – nachdem die Großmutter seine Pflege nicht mehr sicherstellen konnte – für die Rückkehr nach Deutschland die Familienzusammenführung (zumindest auch) prägendes Motiv für die (Wieder-) Einreise gewesen ist. Dem entspricht es, dass die gesetzlichen Vertreter des Antragstellers ihn zuvor am 01.03.2007 im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin polizeilich angemeldet hatten. Im Übrigen haben Bürger der Europäischen Union, solange ihnen – wie hier - ein Bleiberecht zusteht, grundsätzlich Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII, das heißt Hilfe zum Lebensunterhalt oder Hilfe bei Krankheit für Ausländer, die sich im Inland tatsächlich aufhalten (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, in: Breithaupt, 2007, 156 ff.).
Für die Gewährung der vorläufigen Sozialleistungen dürfte die Antragsgegnerin - und nicht der Beigeladene – örtlich und sachlich zuständig sein. Während sich die Antragsgegnerin auf den tatsächlichen Heimaufenthalt des Antragstellers im Landkreis Sömmerda/Freistaat Thüringen stützt, verweist die Beigeladene auf die gesetzgeberische Fiktion des § 109 SGB XII. Danach gilt als gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des Zwölften Kapitels und des Dreizehnten Kapitels, 2. Abschnitt, nicht der Aufenthalt in einer Einrichtung im Sinne von § 98 Abs. 2 SGB XII.
Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) kann aber für den Fall, dass ein Anspruch auf Sozialleistungen besteht und zwischen mehreren Leistungsträgern streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist, der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt. Vorleisten kann demzufolge derjenige Leistungsträger, der zuerst angegangen, d. h. mündlich oder schriftlich mit dem Leistungsbegehren befasst worden ist (BVerwGE 91, 177). Dieser hat dann nach Ermessensgesichtspunkten zu entscheiden, ob vorgeleistet wird, wobei der Norm nicht nur der Charakter einer bloßen Zuständigkeitsvorschrift, sondern ein leistungsrechtlicher Inhalt beizumessen ist (ebenso: Mrozynski, SGB I-Komm., 3. Aufl. , § 43 Rdnr. 15). § 43 SGB I ist mithin im Interesse des jeweiligen Hilfesuchenden geschaffen worden, um bei Auseinandersetzungen über die örtliche Zuständigkeit nicht zu einer unzumutbaren Verzögerung der Leistung zu gelangen (so auch: VG Braunschweig, Beschluss vom 12.06.2003, Az: 3 B 268/03; SG Oldenburg, Beschluss vom 19.12.2005, Az: S 2 SO 256/05 ER). Hier hat der Antragsteller indes zuerst – noch vor seiner Einreise – über seine Eltern Eingliederungs- und Sozialhilfe von der Antragsgegnerin beantragt, bevor er im Kinderwohnheim R ... im Landkreis Sömmerda untergebracht worden war.
Wenn die übrigen Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 SGB I vorliegen, steht die Gewährung von Sozialleistungen aber nicht mehr nur im Ermessen des zuerst angegangenen Trägers; vielmehr ist er dann sogar hierzu verpflichtet (so: Rolfs, in: Hauck/Noftz, SGB I-Komm., § 43 SGB I 22. Lfg. Rdnr. 13). Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I hat der zuerst angegangene Leistungsträger Leistungen nach Satz 1 der Vorschrift zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt; die vorläufigen Leistungen beginnen spätestens nach Ablauf des Kalendermonats nach Eingang des Antrages. Daraus folgt, dass die Antragsgegnerin als zuerst angegangener Sozialhilfeträger die begehrten Leistungen vorläufig erbringen muss.
Eine derartige Verpflichtung könnte nur dann entfallen, wenn nach materiellem Recht, unter keinen denkbaren Umständen, eine Leistungsgewährung ausscheidet (so: Mrozynski, in: SGb 1987, 140 (142)). Hiervon hat sich das Gericht jedoch nicht zu überzeugen vermocht:
Gemäß § 98 Abs. 2 Satz 1 SGB XII ist zwar für die stationäre Leistung der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Leistungsberechtigten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung haben oder in den 2 Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hatten. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort und in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I).
Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Kinderwohnheim R .../Landkreis Sömmerda und damit im Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen genommen hat. Denn der tatsächliche Aufenthalt muss mit dem gewöhnlichen Aufenthalt nicht übereinstimmen. Der gewöhnliche Aufenthalt liegt vielmehr immer dort, wo nicht nur vorübergehend der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen besteht. Dies setzt eine gewisse Verfestigung der Lebensverhältnisse an diesem Ort, vor allem in familiärer, sozialer und beruflicher Hinsicht voraus (BVerwGE 99, 158). Hier hat sich der Antragsteller vor Einreise nach Deutschland in Griechenland bei seiner ihn pflegenden Großmutter aufgehalten. Insbesondere nach Verlassen seines Heimatlandes, der für ihn gewohnten Umgebung einschließlich seiner Pflegeperson und Einreise in ein für ihn fremdes Land liegen seine familiären Bindungen und Beziehungen jedoch nunmehr ausschließlich bei seiner Familie in Leipzig. Eine weitere "Verfestigung" dieser Bindungen zu seiner Familie in Leipzig steht zu erwarten, zumal ihn seine Eltern bereits bei Besuchen in Griechenland nach eigenen Angaben regelmäßig besucht haben.
Dem wird die Antragsgegnerin nicht mit Erfolg § 98 Abs. 2 Satz 3 SGB XII entgegenhalten können. Danach hat der nach Abs. 1 zuständige Träger der Sozialhilfe, d. h. der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich die Leistungsberechtigten tatsächlich aufhalten, über die Leistung unverzüglich zu entscheiden und sie vorläufig zu erbringen, wenn innerhalb von 4 Wochen nicht feststeht, ob und wo der gewöhnliche Aufenthalt nach Satz 1 oder 2 begründet worden oder ein gewöhnlicher Aufenthaltsort nicht vorhanden oder nicht zu ermitteln ist oder ein Eilfall vorliegt. Der tatsächliche (Heim-)Aufenthaltsort soll demzufolge im Eilfall oder bei Zuständigkeitszweifeln maßgeblich sein.
Ein "Eilfall" besteht nicht, weil der Antragsteller bereits über seine gesetzlichen Vertreter am 01.12.2006 wegen der begehrten Leistungen bei der Antragsgegnerin angefragt und diese bereits am 27.02.2007 beantragt hatte, mithin mehrere Wochen vor seiner Einreise. Nach § 18 Abs. 1 SGB XII setzt die Sozialhilfe aber bereits ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. Wird einem nicht zuständigen Träger der Sozialhilfe oder einer nicht zuständigen Gemeinde im Einzelfall bekannt, dass Sozialhilfe beansprucht wird, so sind die darüber bekannten Umstände dem zuständigen Träger der Sozialhilfe oder der von ihm beauftragten Stelle unverzüglich mitzuteilen und vorhandene Unterlagen zu übersenden. Ergeben sich daraus die Voraussetzungen für die Leistung, setzt die Sozialhilfe zu dem nach Satz 1 maßgebenden Zeitpunkt ein (Abs. 2 der Vorschrift).
Zuständigkeitszweifel dürften ebenfalls nicht vorliegen. Zwar wurde der Antragsteller nach unbestrittenen Angaben nach Ausreise aus Griechenland und unmittelbar nach seiner Einreise in die Einrichtung im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beigeladenen verbracht; der gewöhnliche Aufenthalt muss aber – wie aufgezeigt – mit dem tatsächlichen nicht übereinstimmen, zumal ihn seine Eltern zuvor mit erstem Wohnsitz bei seiner Familie in Leipzig angemeldet hatten. Nach bürgerlichrechtlichen Maßstäben teilt aber das minderjährige Kind grundsätzlich den Wohnsitz der Eltern (vgl. § 11 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)). Wenn § 98 Abs. 2 Satz 3 SGB XII auch auf Fälle anzuwenden sein soll, bei denen der gewöhnliche Aufenthalt vor Aufnahme in die stationäre Einrichtung zwar vorhanden war, aber außerhalb der Bundesrepublik Deutschland lag (so: Schoch, in: LPK-SGB XII, 7. Aufl. , § 98 Rdnr. 44), kann dies einschränkend nur für diejenigen gelten, die, mangels verfestigter beruflicher, familiärer oder sozialer Bindungen, keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet vor ihrer Heimunterbringung zu begründen vermochten. Dies dürfte vorliegend indes ausscheiden.
Des Weiteren dürfte ein gewöhnlicher Aufenthalt am Ort des tatsächlichen (Heim-) Aufenthalts nach Maßgabe des § 109 SGB XII hier außer Betracht bleiben. Die Vorschrift unterstellt fiktiv, dass als gewöhnlicher Aufenthalt nicht der Aufenthalt in einer Einrichtung im Sinne des § 98 Abs. 2 SGB XII gilt. Hiermit soll erreicht werden, dass der Träger der Sozialhilfe des Einrichtungsortes vor weiteren Zahlungsinanspruchnahmen bewahrt wird (vgl. dazu: Schoch, in: LPG-SGB XII, 7. Aufl. , § 109 Rdnr. 2 ff; Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII-Komm., 17. Aufl., Rdnr. 3f). Dieser Schutz des Einrichtungsträgers vor (weiteren) Heimunterbringungskosten ist vom früheren Bundessozialhilfegesetz (BSHG, § 109) übernommen worden. Ebenso wie nach § 98 Abs. 5 SGB XII soll der örtliche Träger, in dessen Gebiet ein freier Träger als Anbieter in ambulant betreuten Wohnformen seinen Sitz hat, vor einer stärkeren Kostenbelastung geschützt werden, und zwar dadurch, dass an die örtliche Zuständigkeit des Leistungsträgers angeknüpft wird, wo sich der Hilfesuchende vor Eintritt in diese Wohnform aufgehalten hat (ebenso: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21.06.2007, Az: L 13 SO 5/07 ER). Zwar hat sich der Antragsteller tatsächlich vor seiner Einreise in Griechenland und nicht im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin aufgehalten; gleichwohl ist diese – wie aufgezeigt – als zuerst angegangener Sozialhilfeträger und Ort der familiären Bindungen des Antragstellers vorläufig zur Zahlung von Eingliederungshilfe verpflichtet. Ferner hatte sich der gewöhnliche Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland, vor Ausreise im Jahr 1993, zuletzt in Leipzig befunden.
Es besteht auch ein Anordnungsgrund. Wegen bereits aufgelaufener Pflegekosten, zu deren Tragung die gesetzlichen Vertreter des Antragstellers derzeit glaubhaft nicht in der Lage sind, steht zu befürchten, dass er aus der Einrichtung entlassen wird. So hat die Stiftung " ..." dem Vater des Antragstellers bereits wegen aufgelaufener Beträge für die Monate Mai bis Juli 2007 Kosten in Höhe von 19.821,66 EUR in Rechnung gestellt und gemahnt. Sein Bedarf an Pflege- und Eingliederungsleistungen muss jedoch fortlaufend durch eine Einrichtung gedeckt werden.
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