Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
2
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 2 KA 84/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist ein Regress wegen der Verordnung des Arzneimittels Equasym zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter.
Die Klägerin ist als Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie in L-M niedergelassen und zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. In den Quartalen 4/2004 und 1/2005 verordnete sie bei dem bei der Beigeladenen zu 1) Versicherten Dipl.-Ing. D, geb. 00.00.1967, Equasym 10 mg Tabletten (Wirkstoff: Methylphenidat) im Gesamtbetrag von netto 90,46 EUR. Auf Prüfanträge der Beigeladenen zu 1) verfügte der Prüfungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen Nordrhein mit Bescheid vom 27.11.2006, berichtigt durch Korrekturbescheid vom 04.12.2006, einen Regress in dieser Höhe wegen der unzulässigen Verordnung des Arzneimittels.
Mit Bescheid vom 25.06.2007 wies der Beklagte einen hiergegen eingelegten Widerspruch der Klägerin zurück: Die Voraussetzungen der Verordnung von Equasym nach Punkt 20.1.l der Arzneimittel-Richtlinien seien nicht gegeben, da es sich bei dem Versicherten nicht mehr um ein vorpubertäres Schulkind handele. Bei der vorliegenden Indikation sei auch eine Verordnung im Off-Label-Use nicht möglich gewesen.
Hiergegen richtet sich die am 03.07.2007 erhobene Klage.
Die Klägerin ist der Ansicht, alle Voraussetzungen, die das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R - an die Zulässigkeit des Off-Label-Use gestellt habe, seien erfüllt. Es habe sich bei der ADHS im konkreten Behandlungsfall D um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung gehandelt, für die keine andere Therapie verfügbar sei. Dies gelte namentlich für Concerta, welches ebenfalls den Wirkstoff Methylphenidat enthalte. Aufgrund der zur Verfügung stehenden Datenlage bestehe die begründete Aussicht, dass mit Equasym ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Dies ergebe sich insbesondere aus den Leitlinien für die Diagnostik und Therapie der ADHS im Erwachsenenalter und den Abhandlungen von J. Fritze & M. Schmauß ("Off-Label-Use: Der Fall Methylphenidat"), psycho 28 (2002) Nr. III/12 Sonderausgabe, Esther Sobanski ("Medikamentöse Behandlung der ADHS bei Erwachsenen"), Psychopharmakotherapie 2006, 100-106, sowie des Rechtsanwalts Dierks ("Rechtliche Aspekte der Off-Label-Verordnung in der Praxis"), Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6-2003, 458-461, und einem Artikel in der Ärzte-Zeitung vom 08.01.2007 ("Vier Prozent der Erwachsenen haben ADHS"). Zwischenzeitlich seien auch die Ergebnisse einer klinischen Prüfung der Phase III ("EMMA-Studie") ausweislich eines Artikels in der Ärzte-Zeitung vom 13.12.2006 veröffentlicht worden. Schließlich spräche die seit geraumer Zeit vorliegende Zulassung für eine Verordnung bei Kindern dafür, dass die Verordnung auch bei Erwachsenen im Rahmen des Off-Label-Use gerechtfertigt sei.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 25.06.2007 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes neu zu entscheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig.
Nach seiner Ansicht erfüllt das Krankheitsbild der ADHS schon nicht die Anforderungen an das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung, die durch eine auf die Krankheitsfolgen bezogene notstandsähnliche Situation charakterisiert sei. Im Übrigen sei bei einer Vorgeschichte mit aggressivem Verhalten oder Suizidgefährdung - für letztere könnten Versicherte nur eine spezifische Behandlung innerhalb des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung etwa mit den Mitteln der Psychiatrie beanspruchen - die Verabreichung von Methylphenidat kontraindiziert.
Die Beigeladene zu 1) beantragt ebenfalls,
die Klage abzuweisen.
Die übrigen Beteiligten stellen keine Anträge.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und des von dem Vertreter der Beigeladenen zu 1) in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer überreichten Schreibens der Fa. N Arzneimittel Q GmbH & Co. KG, J, vom 21.11.2007 zum Stand der Zulassung von Medikinet retard zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte in Abwesenheit von Vertretern der Beigeladenen zu 2) und 3) verhandeln und entscheiden, da auf diese Möglichkeit in den form- und fristgerecht zugestellten Terminbenachrichtigungen hingewiesen worden ist.
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Klägerin ist durch den Bescheid des Beklagten nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), da der verfügte Regress rechtmäßig ist.
Die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung und damit auch der Beklagte sind befugt, Regresse wegen unzulässiger Verordnung von Arzneimitteln festzusetzen. Dies ergibt sich aus § 15 Abs. 1 Nr. 3 der Gemeinsamen Prüfvereinbarung. Die Ermächtigungsgrundlage hierfür findet sich in § 106 Abs. 2 Satz 4 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V), nach dem die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen über die in § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V vorgesehenen Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungsarten vorsehen können. Demgemäß ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass den Prüfgremien die Zuständigkeit für Regresse wegen unzulässiger Arzneimittelverordnung durch gesamtvertragliche Vereinbarung übertragen werden darf (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr. 52; LSG NRW, Urteile vom 10.12.2003 - L 10 KA 79/02 - und vom 14.11.2007 - L 11 KA 112/06 -).
Der von dem Beklagten ausgesprochene Regress ist auch materiell-rechtlich begründet. Unstreitig hat die Klägerin das Arzneimittel Equasym, das arzneimittelrechtlich für die Behandlung der ADHS bei Kindern ab sechs Jahren zugelassen ist, außerhalb des Zulassungsrahmens und damit Off-Label verordnet. Die Voraussetzungen für einen zulässigen Off-Label-Use liegen indes nicht vor.
Nach der Rechtsprechung des BSG (grundlegend: Urteil vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R -) kommt die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet nur in Betracht, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.
Es ist bereits fraglich, ob bei dem Versicherten eine schwerwiegende Erkrankung in diesem Sinne vorlag. Dabei ist nicht die strengere Voraussetzung erforderlich, dass es sich um eine Krankheit handeln muss, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, wie es für die Verordnung von Arzneimitteln zu fordern ist, denen die arzneimittelrechtliche Zulassung gänzlich fehlt (BSG, Beschluss vom 14.05.2007 - B 1 KR 16/07 B - m.w.N.). Nach den Diagnosekriterien von DSM-IV (American Psychiatric Association 1994) und ICD-10 (WHO 1992) beginnt ADHS definitionsgemäß im frühen Kindesalter. Beim Übergang in das Erwachsenenalter bleiben die Symptome unter einem Symptomwandel in jeweils altersspezifischer Ausprägung bestehen. Die Störung kann leicht ausgeprägt sein und erscheint dann evtl. nur als Variante "normaler" Persönlichkeitsmerkmale, sie kann aber auch den Schweregrad einer Krankheit mit erheblicher Beeinträchtigung der Lebensführung erreichen. Erwachsene mit ADHS zeichnen sich einerseits durch Kreativität, Lebendigkeit und Spontaneität aus. Andererseits gelten sie als unberechenbar und unzuverlässig und leiden oft selbst erheblich unter ihrer Ablenkbarkeit, der inneren Unruhe und Impulsivität, den ausgeprägten Stimmungsschwankungen und den entsprechenden Auswirkungen auf ihr Selbstbild und ihre sozialen Beziehungen. Das Ausmaß der Beeinträchtigung ist erheblich durch den Schweregrad, die Komorbidität und die jeweiligen sozialen Bedingungen geprägt. Häufige klinische Symptome bei ADHS im Erwachsenenalter sind
- Motorische Unruhe wird weniger, innere Unruhe bleibt - Vergesslichkeit - Desorganisiertes Verhalten - Impulsivität - Stimmungsschwankungen - Bleibt hinter den Möglichkeiten zurück - Probleme mit Routine und Disziplin - Arbeitslosigkeit/häufige Arbeitsplatzwechsel - Beziehungsabbrüche - Komorbiditäten, z.B. Sucht, Depression, Angst, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen (nach A. Philipsen/B. Hesslinger, Freiburg i. Br., "ADHS, Erwachsene ‚zappeln’ anders", Info Neurologie & Psychiatrie, Ausgabe 06/2006, 38 ff. (www.info-neurologie-psychiatrie.de/2006/06/38.php)).
Die Klägerin hat zwar - durch anwaltliche Schriftsätze - im Verwaltungsverfahren um den vorliegend streitbefangenen Regress hierzu vorgetragen. Damit hat sie jedoch den Weg verlassen, der für einen - wie hier - medizinisch umstrittenen Off-Label-Use vorgezeichnet ist. Sie hätte vielmehr im Wege einer Vorab-Prüfung der zu 1) beigeladenen Krankenkasse die Prüfung ermöglichen müssen, ob tatsächlich medizinisch belegbar eine nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität auf Dauer bei dem Versicherten bestanden hatte. Dabei hätte die Beigeladene zu 1) ggf. detaillierte Angaben zu folgenden Punkten angefordert: Anamnestische Angaben zu Beginn und Dauer der Erkrankung; aktueller psychopathologischer Befund, aus dem sich die Schwere der Erkrankung im Einzelfall ableiten lässt; Angaben zur Dauer der Symptomatik und Ausprägungsgrad in den letzten zwei bis drei Jahren; konkrete Einzelfall-bezogene Angaben zu den Auswirkungen der Erkrankung auf Befinden, Partnerbeziehung, Beruf und soziales Umfeld als Gradmesser der Auswirkung der Störung und zur Abschätzung der Beeinträchtigung der Lebensqualität; Prognose hinsichtlich des weiteren Krankheitsverlaufes und seiner körperlichen und/oder psychosozialen Auswirkungen; Darlegung der bisherigen medikamentösen Therapien nach Dosis, Applikationsdauer, therapeutischen und unerwünschten Wirkungen; Darlegung der bisherigen Psychotherapien nach Art, Dauer, therapeutischen und unerwünschten Wirkungen; Mitteilung, ob die medikamentöse Behandlung mit der beantragten Wirksubstanz in ein multimodales Konzept eingebunden werden soll und worin dieses ggf. besteht (vgl. J. Fritze & M. Schmauß, a.a.O.).
Indem die Klägerin diese Vorab-Prüfung durch die Beigeladene zu 1) verhindert und damit das Risiko übernommen hat, dass später die Leistungspflicht der Krankenkasse verneint wird, kann ein entsprechender Regress nicht beanstandet werden (BSG, Beschluss vom 31.05.2006 - B 6 KA 53/05 B -).
Die Leistungspflicht der Beigeladenen zu 1) scheidet unbeschadet der Frage nach dem nicht zu ihrer fachlich-medizinischen Überprüfung gestellten Schweregrad der Erkrankung des Versicherten insbesondere auch deshalb aus, weil es bis heute keine gesicherte Datenlage für eine hinreichend begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg mit Methylphenidat zur Therapie der adulten ADHS gibt.
Von gesicherten Erfolgsaussichten kann dann ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG, Urteile vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R -; vom 26.09.2006 - B 1 KR 1/06 R -).
Eine Zulassung für Equasym ist bisher nicht beantragt worden. Außerhalb des Zulassungsverfahrens sind bisher keine Erkenntnisse veröffentlicht worden, die über Qualität und Wirksamkeit von Equasym im Anwendungsgebiet der Therapie der adulten ADHS zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen; insbesondere kann nach bisheriger Datenlage nicht davon ausgegangen werden, dass in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen besteht. Die Abhandlung von J. Fritze & M. Schmauß ("Off-Label-Use: Der Fall Methylphenidat"), a.a.O., kann insoweit nicht als Beleg herangezogen werden, auch wenn die Verfasser die Vergabe von Methylphenidat enthaltenden Medikamenten an Erwachsene empfehlen. Darin verweisen die Autoren nämlich darauf, dass nur wenige Studien zur Anwendung des Wirkstoffes Methylphenidat bei Erwachsenen vorliegen und diese an methodischen Mängeln leiden (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.12.2005 - L 11 KR 3018/05 -).
Daran hat sich in der Folgezeit nichts entscheidend geändert. Im vorgenannten Urteil zitiert das LSG Baden-Württemberg zwei im dortigen Verfahren eingeholte Auskünfte des BfArM. Im Juli 2003 habe das BfArM deutlich gemacht, dass zwar eine Reihe von veröffentlichten klinischen Berichten über den Einsatz von Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter existierten, seitens eines pharmazeutischen Unternehmers aber im Rahmen eines nach § 31 Abs. 3 AMG durchgeführten Verfahrens zur Verlängerung der Zulassung eines Methylphenidat-haltigen Innovatorpräparates keine ausreichenden klinischen Unterlagen und Studien zur therapeutischen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Wirkstoffes hätten vorgelegt werden können. Eine Veränderung des Sachstandes sei ausweislich der Auskunft des BfArM vom Oktober 2005 seither nicht eingetreten.
Damit existieren für den vorliegend streitbefangenen Zeitraum der Quartale 4/2004 und 1/2005 keine gesicherten konsentierten medizinischen Erkenntnisse über einen voraussichtlichen Behandlungserfolg der ADHS bei Erwachsenen mit Methylphenidat-haltigen Arzneimitteln. Selbst wenn dies gegenwärtig der Fall sein sollte, eröffnete dies Rechtsfolgen aber nur für die Zukunft, nicht jedoch für die Vergangenheit (dazu näher LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 31.01.2007 - L 5 KR 45/06 -; vgl. auch Bayer. LSG, Urteil vom 13.06.2006 - L 5 KR 93/06 -, das die Voraussetzungen für einen zulassungsübergreifenden Einsatz von Methylphenidat ab 27.12.2005 annimmt).
Bei aktueller Durchsicht veröffentlichter Publikationen erweist sich aber auch für die Gegenwart, dass keineswegs von einer gesicherten Datenlage über den Behandlungserfolg von Methylphenidat bei Erwachsenen ausgegangen werden kann.
Soweit die Klägerin auf die vom Unternehmen N unterstützte EMMA-Studie (klinische Studie Phase III zu Medikinet retard - Wirkstoff ebenfalls: Methylphenidat) verweist, sind deren Ergebnisse zwar auf einem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) am 24.11.2006 in Berlin vorgestellt worden (Ärzte-Zeitung vom 13.12.2006). Im vollen, der medizinischen Wissenschaft zugänglichen und bewertbaren Wortlaut ist diese Studie indes bislang nicht publiziert worden. Hinzu kommt, dass die Fa. N in ihrem Schreiben vom 21.11.2007 zum Stand der im März 2007 beantragten Zulassungserweiterung von Medikinet retard zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter selbst einräumt, Fazit eines persönlichen Gespräches zwischen N und der Zulassungsbehörde am 08.11.2007 sei gewesen, dass auf Grundlage der Studienergebnisse noch einige zusätzliche Daten zu erheben seien. Dabei gehe es um Fragen der Dosierung und geschlechtsspezifischer Unterschiede beim Ansprechen auf Methylphenidat. Nun werde das Unternehmen eine Replikations-Studie durchführen, um zwei vom BfArM generierte Hypothesen zu überprüfen. Momentan erarbeite das Unternehmen auf der Basis des geführten Gesprächs einen Vorschlag, wie diese Studie aussehen könnte. Der Zeitpunkt für eine Zulassungserweiterung sei damit nach wie vor nicht kalkulierbar.
Eine im Wege der Amtsermittlung (§§ 103, 106 Abs. 3 Nr. 3 SGG) von der Kammer durchgeführte Internet-Recherche hat zudem eine Dissertation von Miriam Alexandra Maier, Tübingen, aus dem Jahre 2007 zum Thema: "Die Behandlung der adulten ADHS mit Methylphenidat versus Atomoxetin: systematische Review" (http://tobias-lib.ub.uni-tuebingen.de/volltexte/2007/3053/pdf/Doktorarbeit ENDVERSION 27032007.pdf) zu Tage gefördert. Die Verfasserin hat für ihre Arbeit anhand vorliegender Evidenz hoher Qualität die Effektivität beider Medikamente zur Behandlung der adulten ADHS im Vergleich untersucht. Hierbei konnten zehn Studien zu Methylphenidat und drei zu Atomoxetin in den Suchmaschinen medline, Pubmed, Web of Science und PsycINFO identifiziert werden. Die Studien zu Methylphenidat waren großteils im Crossover-Design angelegt und wiesen Mängel wie kurze Dauer, kleine Stichproben, fehlende Intention-To-Treat-Analyse, uneinheitliche Ausschlusskriterien und ebensolche Messung der Response auf. Die Ergebnisse der Studien waren weit gestreut und teilweise konträr; Responseraten von 25-78 % sowie nicht signifikante Ergebnisse waren vertreten. Die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse der Methylphenidatstudien hätten auch andere Reviewer vor Probleme gestellt. Abschließend ließen sich für beide Medikamente Hinweise auf die Effektivität bei der Behandlung der adulten ADHS finden, wobei die Effektivität von Atomoxetin besser untersucht sei, wenn man die methodischen Mängel der Studien zu Methylphenidat in Rechnung stelle. Bevor eine Ablösung des Methylphenidates als Standardmedikation in Erwägung gezogen werden könne, sei eine Verbesserung der Methodik, vor allem auch eine Vereinheitlichung der Evaluation der Response, nötig mit dem Ziel, große, methodisch-qualitativ hochwertige Vergleichsstudien durchzuführen. Diese seien unabdingbar, eine definitive Aussage treffen zu können (vgl. die Zusammenfassung auf S. 55-58 der Arbeit).
Damit steht nach alledem zur Überzeugung der Kammer fest, dass bis in die jüngste Gegenwart keine Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit von Equasym im Anwendungsgebiet der Therapie der adulten ADHS zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und von den einschlägigen Fachkreisen in Bezug auf einen voraussichtlichen Nutzen konsentiert sind.
Der ausgesprochene Regress ist daher nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 183 SGG in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 Satz 2 des 6. SGG-ÄndG sowie § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache hat die Kammer die Berufung zugelassen (§ 144 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Tatbestand:
Streitig ist ein Regress wegen der Verordnung des Arzneimittels Equasym zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter.
Die Klägerin ist als Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie in L-M niedergelassen und zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. In den Quartalen 4/2004 und 1/2005 verordnete sie bei dem bei der Beigeladenen zu 1) Versicherten Dipl.-Ing. D, geb. 00.00.1967, Equasym 10 mg Tabletten (Wirkstoff: Methylphenidat) im Gesamtbetrag von netto 90,46 EUR. Auf Prüfanträge der Beigeladenen zu 1) verfügte der Prüfungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen Nordrhein mit Bescheid vom 27.11.2006, berichtigt durch Korrekturbescheid vom 04.12.2006, einen Regress in dieser Höhe wegen der unzulässigen Verordnung des Arzneimittels.
Mit Bescheid vom 25.06.2007 wies der Beklagte einen hiergegen eingelegten Widerspruch der Klägerin zurück: Die Voraussetzungen der Verordnung von Equasym nach Punkt 20.1.l der Arzneimittel-Richtlinien seien nicht gegeben, da es sich bei dem Versicherten nicht mehr um ein vorpubertäres Schulkind handele. Bei der vorliegenden Indikation sei auch eine Verordnung im Off-Label-Use nicht möglich gewesen.
Hiergegen richtet sich die am 03.07.2007 erhobene Klage.
Die Klägerin ist der Ansicht, alle Voraussetzungen, die das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R - an die Zulässigkeit des Off-Label-Use gestellt habe, seien erfüllt. Es habe sich bei der ADHS im konkreten Behandlungsfall D um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung gehandelt, für die keine andere Therapie verfügbar sei. Dies gelte namentlich für Concerta, welches ebenfalls den Wirkstoff Methylphenidat enthalte. Aufgrund der zur Verfügung stehenden Datenlage bestehe die begründete Aussicht, dass mit Equasym ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Dies ergebe sich insbesondere aus den Leitlinien für die Diagnostik und Therapie der ADHS im Erwachsenenalter und den Abhandlungen von J. Fritze & M. Schmauß ("Off-Label-Use: Der Fall Methylphenidat"), psycho 28 (2002) Nr. III/12 Sonderausgabe, Esther Sobanski ("Medikamentöse Behandlung der ADHS bei Erwachsenen"), Psychopharmakotherapie 2006, 100-106, sowie des Rechtsanwalts Dierks ("Rechtliche Aspekte der Off-Label-Verordnung in der Praxis"), Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6-2003, 458-461, und einem Artikel in der Ärzte-Zeitung vom 08.01.2007 ("Vier Prozent der Erwachsenen haben ADHS"). Zwischenzeitlich seien auch die Ergebnisse einer klinischen Prüfung der Phase III ("EMMA-Studie") ausweislich eines Artikels in der Ärzte-Zeitung vom 13.12.2006 veröffentlicht worden. Schließlich spräche die seit geraumer Zeit vorliegende Zulassung für eine Verordnung bei Kindern dafür, dass die Verordnung auch bei Erwachsenen im Rahmen des Off-Label-Use gerechtfertigt sei.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 25.06.2007 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes neu zu entscheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig.
Nach seiner Ansicht erfüllt das Krankheitsbild der ADHS schon nicht die Anforderungen an das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung, die durch eine auf die Krankheitsfolgen bezogene notstandsähnliche Situation charakterisiert sei. Im Übrigen sei bei einer Vorgeschichte mit aggressivem Verhalten oder Suizidgefährdung - für letztere könnten Versicherte nur eine spezifische Behandlung innerhalb des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung etwa mit den Mitteln der Psychiatrie beanspruchen - die Verabreichung von Methylphenidat kontraindiziert.
Die Beigeladene zu 1) beantragt ebenfalls,
die Klage abzuweisen.
Die übrigen Beteiligten stellen keine Anträge.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und des von dem Vertreter der Beigeladenen zu 1) in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer überreichten Schreibens der Fa. N Arzneimittel Q GmbH & Co. KG, J, vom 21.11.2007 zum Stand der Zulassung von Medikinet retard zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte in Abwesenheit von Vertretern der Beigeladenen zu 2) und 3) verhandeln und entscheiden, da auf diese Möglichkeit in den form- und fristgerecht zugestellten Terminbenachrichtigungen hingewiesen worden ist.
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Klägerin ist durch den Bescheid des Beklagten nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), da der verfügte Regress rechtmäßig ist.
Die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung und damit auch der Beklagte sind befugt, Regresse wegen unzulässiger Verordnung von Arzneimitteln festzusetzen. Dies ergibt sich aus § 15 Abs. 1 Nr. 3 der Gemeinsamen Prüfvereinbarung. Die Ermächtigungsgrundlage hierfür findet sich in § 106 Abs. 2 Satz 4 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V), nach dem die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen über die in § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V vorgesehenen Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungsarten vorsehen können. Demgemäß ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass den Prüfgremien die Zuständigkeit für Regresse wegen unzulässiger Arzneimittelverordnung durch gesamtvertragliche Vereinbarung übertragen werden darf (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr. 52; LSG NRW, Urteile vom 10.12.2003 - L 10 KA 79/02 - und vom 14.11.2007 - L 11 KA 112/06 -).
Der von dem Beklagten ausgesprochene Regress ist auch materiell-rechtlich begründet. Unstreitig hat die Klägerin das Arzneimittel Equasym, das arzneimittelrechtlich für die Behandlung der ADHS bei Kindern ab sechs Jahren zugelassen ist, außerhalb des Zulassungsrahmens und damit Off-Label verordnet. Die Voraussetzungen für einen zulässigen Off-Label-Use liegen indes nicht vor.
Nach der Rechtsprechung des BSG (grundlegend: Urteil vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R -) kommt die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet nur in Betracht, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.
Es ist bereits fraglich, ob bei dem Versicherten eine schwerwiegende Erkrankung in diesem Sinne vorlag. Dabei ist nicht die strengere Voraussetzung erforderlich, dass es sich um eine Krankheit handeln muss, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, wie es für die Verordnung von Arzneimitteln zu fordern ist, denen die arzneimittelrechtliche Zulassung gänzlich fehlt (BSG, Beschluss vom 14.05.2007 - B 1 KR 16/07 B - m.w.N.). Nach den Diagnosekriterien von DSM-IV (American Psychiatric Association 1994) und ICD-10 (WHO 1992) beginnt ADHS definitionsgemäß im frühen Kindesalter. Beim Übergang in das Erwachsenenalter bleiben die Symptome unter einem Symptomwandel in jeweils altersspezifischer Ausprägung bestehen. Die Störung kann leicht ausgeprägt sein und erscheint dann evtl. nur als Variante "normaler" Persönlichkeitsmerkmale, sie kann aber auch den Schweregrad einer Krankheit mit erheblicher Beeinträchtigung der Lebensführung erreichen. Erwachsene mit ADHS zeichnen sich einerseits durch Kreativität, Lebendigkeit und Spontaneität aus. Andererseits gelten sie als unberechenbar und unzuverlässig und leiden oft selbst erheblich unter ihrer Ablenkbarkeit, der inneren Unruhe und Impulsivität, den ausgeprägten Stimmungsschwankungen und den entsprechenden Auswirkungen auf ihr Selbstbild und ihre sozialen Beziehungen. Das Ausmaß der Beeinträchtigung ist erheblich durch den Schweregrad, die Komorbidität und die jeweiligen sozialen Bedingungen geprägt. Häufige klinische Symptome bei ADHS im Erwachsenenalter sind
- Motorische Unruhe wird weniger, innere Unruhe bleibt - Vergesslichkeit - Desorganisiertes Verhalten - Impulsivität - Stimmungsschwankungen - Bleibt hinter den Möglichkeiten zurück - Probleme mit Routine und Disziplin - Arbeitslosigkeit/häufige Arbeitsplatzwechsel - Beziehungsabbrüche - Komorbiditäten, z.B. Sucht, Depression, Angst, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen (nach A. Philipsen/B. Hesslinger, Freiburg i. Br., "ADHS, Erwachsene ‚zappeln’ anders", Info Neurologie & Psychiatrie, Ausgabe 06/2006, 38 ff. (www.info-neurologie-psychiatrie.de/2006/06/38.php)).
Die Klägerin hat zwar - durch anwaltliche Schriftsätze - im Verwaltungsverfahren um den vorliegend streitbefangenen Regress hierzu vorgetragen. Damit hat sie jedoch den Weg verlassen, der für einen - wie hier - medizinisch umstrittenen Off-Label-Use vorgezeichnet ist. Sie hätte vielmehr im Wege einer Vorab-Prüfung der zu 1) beigeladenen Krankenkasse die Prüfung ermöglichen müssen, ob tatsächlich medizinisch belegbar eine nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität auf Dauer bei dem Versicherten bestanden hatte. Dabei hätte die Beigeladene zu 1) ggf. detaillierte Angaben zu folgenden Punkten angefordert: Anamnestische Angaben zu Beginn und Dauer der Erkrankung; aktueller psychopathologischer Befund, aus dem sich die Schwere der Erkrankung im Einzelfall ableiten lässt; Angaben zur Dauer der Symptomatik und Ausprägungsgrad in den letzten zwei bis drei Jahren; konkrete Einzelfall-bezogene Angaben zu den Auswirkungen der Erkrankung auf Befinden, Partnerbeziehung, Beruf und soziales Umfeld als Gradmesser der Auswirkung der Störung und zur Abschätzung der Beeinträchtigung der Lebensqualität; Prognose hinsichtlich des weiteren Krankheitsverlaufes und seiner körperlichen und/oder psychosozialen Auswirkungen; Darlegung der bisherigen medikamentösen Therapien nach Dosis, Applikationsdauer, therapeutischen und unerwünschten Wirkungen; Darlegung der bisherigen Psychotherapien nach Art, Dauer, therapeutischen und unerwünschten Wirkungen; Mitteilung, ob die medikamentöse Behandlung mit der beantragten Wirksubstanz in ein multimodales Konzept eingebunden werden soll und worin dieses ggf. besteht (vgl. J. Fritze & M. Schmauß, a.a.O.).
Indem die Klägerin diese Vorab-Prüfung durch die Beigeladene zu 1) verhindert und damit das Risiko übernommen hat, dass später die Leistungspflicht der Krankenkasse verneint wird, kann ein entsprechender Regress nicht beanstandet werden (BSG, Beschluss vom 31.05.2006 - B 6 KA 53/05 B -).
Die Leistungspflicht der Beigeladenen zu 1) scheidet unbeschadet der Frage nach dem nicht zu ihrer fachlich-medizinischen Überprüfung gestellten Schweregrad der Erkrankung des Versicherten insbesondere auch deshalb aus, weil es bis heute keine gesicherte Datenlage für eine hinreichend begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg mit Methylphenidat zur Therapie der adulten ADHS gibt.
Von gesicherten Erfolgsaussichten kann dann ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG, Urteile vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R -; vom 26.09.2006 - B 1 KR 1/06 R -).
Eine Zulassung für Equasym ist bisher nicht beantragt worden. Außerhalb des Zulassungsverfahrens sind bisher keine Erkenntnisse veröffentlicht worden, die über Qualität und Wirksamkeit von Equasym im Anwendungsgebiet der Therapie der adulten ADHS zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen; insbesondere kann nach bisheriger Datenlage nicht davon ausgegangen werden, dass in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen besteht. Die Abhandlung von J. Fritze & M. Schmauß ("Off-Label-Use: Der Fall Methylphenidat"), a.a.O., kann insoweit nicht als Beleg herangezogen werden, auch wenn die Verfasser die Vergabe von Methylphenidat enthaltenden Medikamenten an Erwachsene empfehlen. Darin verweisen die Autoren nämlich darauf, dass nur wenige Studien zur Anwendung des Wirkstoffes Methylphenidat bei Erwachsenen vorliegen und diese an methodischen Mängeln leiden (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.12.2005 - L 11 KR 3018/05 -).
Daran hat sich in der Folgezeit nichts entscheidend geändert. Im vorgenannten Urteil zitiert das LSG Baden-Württemberg zwei im dortigen Verfahren eingeholte Auskünfte des BfArM. Im Juli 2003 habe das BfArM deutlich gemacht, dass zwar eine Reihe von veröffentlichten klinischen Berichten über den Einsatz von Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter existierten, seitens eines pharmazeutischen Unternehmers aber im Rahmen eines nach § 31 Abs. 3 AMG durchgeführten Verfahrens zur Verlängerung der Zulassung eines Methylphenidat-haltigen Innovatorpräparates keine ausreichenden klinischen Unterlagen und Studien zur therapeutischen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Wirkstoffes hätten vorgelegt werden können. Eine Veränderung des Sachstandes sei ausweislich der Auskunft des BfArM vom Oktober 2005 seither nicht eingetreten.
Damit existieren für den vorliegend streitbefangenen Zeitraum der Quartale 4/2004 und 1/2005 keine gesicherten konsentierten medizinischen Erkenntnisse über einen voraussichtlichen Behandlungserfolg der ADHS bei Erwachsenen mit Methylphenidat-haltigen Arzneimitteln. Selbst wenn dies gegenwärtig der Fall sein sollte, eröffnete dies Rechtsfolgen aber nur für die Zukunft, nicht jedoch für die Vergangenheit (dazu näher LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 31.01.2007 - L 5 KR 45/06 -; vgl. auch Bayer. LSG, Urteil vom 13.06.2006 - L 5 KR 93/06 -, das die Voraussetzungen für einen zulassungsübergreifenden Einsatz von Methylphenidat ab 27.12.2005 annimmt).
Bei aktueller Durchsicht veröffentlichter Publikationen erweist sich aber auch für die Gegenwart, dass keineswegs von einer gesicherten Datenlage über den Behandlungserfolg von Methylphenidat bei Erwachsenen ausgegangen werden kann.
Soweit die Klägerin auf die vom Unternehmen N unterstützte EMMA-Studie (klinische Studie Phase III zu Medikinet retard - Wirkstoff ebenfalls: Methylphenidat) verweist, sind deren Ergebnisse zwar auf einem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) am 24.11.2006 in Berlin vorgestellt worden (Ärzte-Zeitung vom 13.12.2006). Im vollen, der medizinischen Wissenschaft zugänglichen und bewertbaren Wortlaut ist diese Studie indes bislang nicht publiziert worden. Hinzu kommt, dass die Fa. N in ihrem Schreiben vom 21.11.2007 zum Stand der im März 2007 beantragten Zulassungserweiterung von Medikinet retard zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter selbst einräumt, Fazit eines persönlichen Gespräches zwischen N und der Zulassungsbehörde am 08.11.2007 sei gewesen, dass auf Grundlage der Studienergebnisse noch einige zusätzliche Daten zu erheben seien. Dabei gehe es um Fragen der Dosierung und geschlechtsspezifischer Unterschiede beim Ansprechen auf Methylphenidat. Nun werde das Unternehmen eine Replikations-Studie durchführen, um zwei vom BfArM generierte Hypothesen zu überprüfen. Momentan erarbeite das Unternehmen auf der Basis des geführten Gesprächs einen Vorschlag, wie diese Studie aussehen könnte. Der Zeitpunkt für eine Zulassungserweiterung sei damit nach wie vor nicht kalkulierbar.
Eine im Wege der Amtsermittlung (§§ 103, 106 Abs. 3 Nr. 3 SGG) von der Kammer durchgeführte Internet-Recherche hat zudem eine Dissertation von Miriam Alexandra Maier, Tübingen, aus dem Jahre 2007 zum Thema: "Die Behandlung der adulten ADHS mit Methylphenidat versus Atomoxetin: systematische Review" (http://tobias-lib.ub.uni-tuebingen.de/volltexte/2007/3053/pdf/Doktorarbeit ENDVERSION 27032007.pdf) zu Tage gefördert. Die Verfasserin hat für ihre Arbeit anhand vorliegender Evidenz hoher Qualität die Effektivität beider Medikamente zur Behandlung der adulten ADHS im Vergleich untersucht. Hierbei konnten zehn Studien zu Methylphenidat und drei zu Atomoxetin in den Suchmaschinen medline, Pubmed, Web of Science und PsycINFO identifiziert werden. Die Studien zu Methylphenidat waren großteils im Crossover-Design angelegt und wiesen Mängel wie kurze Dauer, kleine Stichproben, fehlende Intention-To-Treat-Analyse, uneinheitliche Ausschlusskriterien und ebensolche Messung der Response auf. Die Ergebnisse der Studien waren weit gestreut und teilweise konträr; Responseraten von 25-78 % sowie nicht signifikante Ergebnisse waren vertreten. Die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse der Methylphenidatstudien hätten auch andere Reviewer vor Probleme gestellt. Abschließend ließen sich für beide Medikamente Hinweise auf die Effektivität bei der Behandlung der adulten ADHS finden, wobei die Effektivität von Atomoxetin besser untersucht sei, wenn man die methodischen Mängel der Studien zu Methylphenidat in Rechnung stelle. Bevor eine Ablösung des Methylphenidates als Standardmedikation in Erwägung gezogen werden könne, sei eine Verbesserung der Methodik, vor allem auch eine Vereinheitlichung der Evaluation der Response, nötig mit dem Ziel, große, methodisch-qualitativ hochwertige Vergleichsstudien durchzuführen. Diese seien unabdingbar, eine definitive Aussage treffen zu können (vgl. die Zusammenfassung auf S. 55-58 der Arbeit).
Damit steht nach alledem zur Überzeugung der Kammer fest, dass bis in die jüngste Gegenwart keine Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit von Equasym im Anwendungsgebiet der Therapie der adulten ADHS zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und von den einschlägigen Fachkreisen in Bezug auf einen voraussichtlichen Nutzen konsentiert sind.
Der ausgesprochene Regress ist daher nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 183 SGG in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 Satz 2 des 6. SGG-ÄndG sowie § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache hat die Kammer die Berufung zugelassen (§ 144 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
Login
NRW
Saved