S 14 KA 272/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
14
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 14 KA 272/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens zu 2/3, der Beklagte zu 1/3.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Regresses wegen unzulässiger Arzneimittelverordnungen.

Die Kläger sind Fachärzte für Neurochirurgie und in Gemeinschaftspraxis in L tätig. In den Quartalen III/04, IV/04 und I/05 verordneten sie ölige Dronabinol-Tropfen 2,5% 30 ml als Rezepturarzneimittel für die Patientinnen T und F, die bei der Beigeladenen zu 9) versichert sind.

Auf Prüfanträge der Beigeladenen zu 9) setzte der Prüfungsausschuss mit Bescheid vom 19.12.2005 einen Regress in Höhe von insgesamt 7.106,66 Euro fest. Zur Begründung führte er aus, dass Dronabinol, ein Wirkstoff aus Cannabis, lediglich in den USA unter dem Handelsnamen Marinol für die Indikationen Anorexie mit Gewichtsverlust bei AIDS-Patienten, Übelkeit und Erbrechen infolge einer Chemotherapie vertrieben würde. Fertigarzneimittel unterlägen der Zulassungspflicht. Nach wie vor gebe es in Deutschland kein zugelassenes cannabinoidhaltiges Arzneimittel. Entsprechende Zulässungsanträge gebe es nicht. Cannabinoide seien aufgrund der fehlenden Bewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss derzeit nicht erstattungsfähig. Auch Rezepturen dürfen erst auf Kassenrezept verordnet werden, wenn diagnostischer und therapeutischer Nutzen sowie medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit durch den Gemeinsamen Bundesausschuss anerkannt seien.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch der Kläger wies der Beklagte mit Bescheid vom 21.08.2006 zurück. Auf die Versorgung mit Dronabinol habe der Versicherte vor dem Hintergrund der fehlenden Zulassung und der fehlenden Bewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses weder einen Anspruch noch könne die Verordnung durch Vertragsärzte zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erfolgen. Die Verordnung dieser Rezeptur sei unzulässig. Darüber hinaus weise er darauf hin, dass bevor im Einzelfall eine Dronabinol-Rezeptur verordnet werde, es sich empfehle, die Kostenübernahme durch die Krankenkassen abzuklären. Sollte die Krankenkasse die Therapie empfehlen, sei die Verordnung auf einem BTM-Rezept vorzunehmen.

Die Kläger haben am 24.08.2006 Klage erhoben.

Der Beklagte hat den Bescheid vom 21.08.2006 in Höhe von 2.294,72 Euro aufgehoben, nachdem die Beigeladene zu 9) die Verordnung von Dronabinol bei der Versicherten T im Hinblick auf ihre starke Abmagerung und die mangelnde Behandlungsalternative anerkannt hat. Die Kläger haben das Teilanerkenntnis des Beklagten angenommen.

Anschließend tragen die Kläger hinsichtlich der Patientin F vor, dass bei dieser ein chronifiziertes opioidpflichtiges Schmerzsyndrom nach mehrfachen Hüft-Operationen mit Hüft-TEP beidseits. und ausgeprägten degenerativen Veränderungen im HWS- u. LWS-Bereich (Chronifizierungsstadium III nach Gerbershagen) bestehe. Die Patientin befinde sich seit 1998 aufgrund eines ausgeprägten chronifizierten Schmerzsyndroms in ihrer regelmäßigen schmerztherapeutischen Behandlung. Nach mehrfachen uneffektiven und mit massiven Nebenwirkungen verbundenen Therapieversuchen mit verschiedenen Opiaten sei bereits Ende 2003 die Therapie mit Dronabinol eingeleitet worden. Darunter habe erstmalig eine adäquate Schmerzlinderung bei erträglichen Nebenwirkungen erzielt werden können. Die Patientin sei seit vielen Jahren wieder in der Lage gewesen, am Sozial- und Familienleben teilzunehmen. Diese sinnvolle Behandlung habe aufgrund der Regressandrohung leider eingestellt werden müssen, was in erster Linie zu einer erneuten Zustandsverschlechterung der Patientin geführt habe. Das Regressverfahren sei daher einzustellen.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid des Beklagten vom 21.08.2006 aufzuheben, hilfsweise, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 21.08.2006 zu verurteilen, über ihren Widerspruch erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Für die von den Klägern durchgeführte Schmerztherapie fehle es nach wie vor an der erforderlichen Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses. Ferner liege kein Ausnahmefall vor, der es rechtfertigen würde, die Leistungspflicht trotz fehlender Empfehlung für diese neuartige Therapie zu bejahen. Auf die Entscheidung des BSG vom 27.03.2007 - B 1 KR 30/06 R - werde verwiesen. Darin habe das BSG die Verordnungsfähigkeit von cannabinoidhaltigen Arzneimitteln zur Schmerztherapie zu Lasten der GKV verneint.

Die Beigeladene zu 9) trägt vor, dass nach den Ausführungen der Kläger zu der Patientin F- im Gegensatz zur Situation bei der Versicherten T - nicht von einer lebensbedrohlichen Erkrankung ausgegangen werden könne. Eine Leistungspflicht ergebe sich daher auch unter Berücksichtigung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 nicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte verhandeln und entscheiden, obwohl für die Beigeladenen zu 1) bis 8) niemand am Termin zur mündlichen Verhandlung erschienen ist. Die Beigeladenen zu 1) bis 8) sind in den ihnen ordnungsgemäß bekannt gegebenen Terminsmitteilungen auf diese verfahrensrechtliche Möglichkeit hingewiesen worden.

Die Klage ist unbegründet.

Die Kläger sind durch den angefochtenen Bescheid des Beklagten nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, denn dieser Bescheid ist nicht rechtswidrig. Nach der Teilaufhebung des Beklagten, hatte die Kammer nur noch die Rechtmäßigkeit der Regressfestsetzung bezogen auf die Patientin F zu prüfen. Die diesbezügliche Regressfestsetzung des Beklagten ist nicht zu beanstanden.

Die Gremien der Wirtschaftlichkeitsüberprüfung und damit auch der Beklagte sind im Rahmen der ihnen in § 106 SGB V übertragenen Verpflichtung, die Einhaltung des in den §§ 12 Abs. 1, 70 Abs. 1 Satz 2 SGB V normierten Wirtschaftlichkeitsgebots im Einzelfall zu gewährleisten, auch befugt, Regresse wegen unzulässiger Verordnung von Arzneimitteln festzusetzen. Die Prüfung der Wirtschaftlichkeit erfolgt nach den Bestimmungen der Prüfvereinbarung. Ermächtigungsgrundlage hierfür ist § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V. Danach können die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen über die in § 106 Abs. 1 SGB V vorgesehenen Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren.

Vorliegend gilt die zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNo) und den Krankenkassen geschlossene Prüfvereinbarung vom 01.01.2001, ergänzt durch zwei Nachträge, in der Fassung der sog. Übergangs- und Errichtungsvereinbarung vom 05.04.2004 (Rhein. Ärzteblatt 6/2001, S. 109ff; 6/2002, S. 75ff; 4/2003, S. 68; 6/2004, S. 72ff).

Gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 3 Prüfvereinbarung prüft der Prüfungsausschuss auf Antrag der Krankenkassen, ihrer Verbände, der von ihnen benannten Stellen oder der KVNo auch, ob der Vertragsarzt bei Verordnungen in ungerechtfertigter Weise Rechtsverordnungen oder Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (jetzt: Gemeinsamer Bundesausschuss) unbeachtet gelassen bzw. unwirtschaftliche Arzneimittelanwendungen veranlasst hat.

Die Verordnung von Dronabinol als Rezepturarzneimittel war in den streitigen Quartalen unzulässig.

Nach § 12 Abs. 1 Satz 2 SGB V dürfen Vertragsärzte keine Leistungen verordnen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind. Das gilt erst Recht für Leistungen, die nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen erfasst werden (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr. 52). Die Krankenbehandlung umfasst auch die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 SGB V). Die Leistungspflicht der Krankenkassen für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ist aber so lange ausgeschlossen, bis diese vom zuständigen Gemeinsamen Bundesausschuss als zweckmäßig anerkannt sind. Daran fehlt es für die Behandlung chronischer Schmerzpatienten mit dem Rezepturarzneimittel Dronabinol.

Der isolierte Hauptwirkstoff von Cannabis - Dronabinol - ist u.a. in den USA unter dem Handelsnamen Marinol als Fertigarzneimittel für die Behandlung chemotherapiebedingter Übelkeit sowie zur Therapie der Kachexie und zur Appetitstimulation von Aidspatienten zugelassen. Sowohl für Deutschland als auch für die übrigen EU-Staaten fehlt eine entsprechende Zulassung. Nach der Rechtsprechung des BSG fehlt es an der krankenversicherungsrechltichen Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) speziell einer Arzneimitteltherapie, wenn das verwendete Mittel nach den Regelungen des Arzneimittelrechts einer Zulassung bedarf und diese Zulassung nicht erteilt worden ist (vgl. BSG Urteil vom 27.09.2005 - B 1 KR 6/04 R -). Das gilt vor allem auch dann, wenn der Hersteller bislang eine Zulassung überhaupt nicht beantragt hat (vgl. BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 5). Die Zulassung eines Arzneimittels in einem anderen Staat und die arzneimittelrechtliche Möglichkeit, ein solches Mittel im Rahmen des Einzelimports gemäß § 73 Abs. 3 Satz 1 AMG nach Deutschland einzuführen, ersetzt den fehlenden Zulassungsstatus insoweit nicht (vgl. BSG Urteil vom 27.03.2007 - B 1 KR 30/06 R -). Demnach steht der Verordnung des Fertigarzneimittels zu Lasten der GKV bereits die fehlende Zulassung entgegen.

Die Verordnung von cannabinoidhaltigen Rezepturarzneimitteln wird ebenfalls nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung erfasst. Die Verordnung ist zwar betäubungsmittelrechtlich grundsätzlich zulässig (vgl. § 13 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) sowie Anlage III zu § 1 Abs. 1 BtMG). Nach der Rechtsprechung des BSG dürfen Krankenkassen indes ihren Versicherten eine neuartige Therapie mit einem Rezepturarzneimittel, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss bisher nicht empfohlen ist, grundsätzlich nicht gewähren, weil sie an das Verbot des § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V und die das Verbot konkretisierenden Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gebunden sind (BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 5; SozR 3-2500 § 135 Nr. 14). Die Kläger haben Dronabinol für die Behandlung des chronifizierten Schmerzsyndroms der Patientin F verordnet. Für diese Therapie fehlt es jedoch an der erforderlichen Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses.

Die in der Rechtsprechung des BSG und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hierzu entwickelten Ausnahmefälle sind vorliegend nicht gegeben. Das BSG hatte in seiner Entscheidung vom 27.03.2007 - B 1 KR 30/06 R - die Verordnungsfähigkeit von Dronabinol für die Behandlung eines chronischen Schmerzsyndroms zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu beurteilen. Das BSG hat darin ausgeführt, dass weder ein sogenannter Seltenheitsfall, der sich systematischer Erforschung entzieht, vorliegt, noch die Voraussetzungen eines sogenannten Systemversagens erfüllt sind. Denn dem Einsatz cannabinoidhaltiger Arzneimittel zur Schmerztherapie fehlt es derzeit an der allgemeinen wissenschaftlichen Anerkennung, weswegen in Würdigung der gesetzlichen Anforderungen an Qualität und Wirksamkeit der Leistungen kein Raum für die Annahme ist, es liege ein Systemversagen vor (vgl. BSG a.a.O.). Diesen Ausführungen des BSG schließt sich die Kammer nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage an. Dabei macht es keinen Unterschied, dass die Entscheidung des BSG im Leistungsrecht, d.h. im Verhältnis Versicherter - Kläger und Krankenkasse - Beklagte, ergangen ist. Denn der Vertragsarzt kann Arzneimittel nur dann zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnen, wenn der Versicherte hierauf einen Anspruch hat. Insofern sind die obigen Ausführungen in gleicher Weise im Leistungserbringerrecht von Bedeutung.

Auch in Anbetracht der Grundsätze, die das BVerfG in seinem Beschluss vom 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25ff) aufgestellt hat, kann die Verordnung von Dronabinol vorliegend nicht als zulässig angesehen werden. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung beanstandet, dass es mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar sei, einem gesetzlich Krankenversicherten bei einer lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden Krankheit, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungsmethode nicht existiert, die Leistung einer selbst gewählten Behandlungsmethode zu verweigern, wenn eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht (BVerfG a.a.O.). In Abgrenzung zu den Voraussetzungen für den sog. Off-Label-Use, der das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung verlangt, hat das BSG in der Folge die Erfüllung des Ausnahmetatbestandes davon abhängig gemacht, ob sich die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs schon in näherer oder erst in ganz ferner, noch nicht genau absehbarer Zeit zu konkretisieren droht, und eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik besteht (BSG Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R -; Beschluss vom 14.05.2007 - B 1 KR 16/07 B -). Damit sind für die verfassungskonforme Leistungserweiterung strengere Voraussetzungen umschrieben, als für den sog. Off-Label-Use (vgl. BSG a.a.O.).

Die Voraussetzungen für eine verfassungskonforme Leistungserweiterung sind indes vorliegend nicht erfüllt. Das von den Klägern beschriebene Krankheitsbild der Patientin stellt nach Auffassung der Kammer zwar eine schwerwiegende, aber keine eine notstandsähnliche Situation begründende Erkrankung dar (vgl. insoweit auch BSG Urteil vom 27.03.2007 - B 1 KR 30/06 R - zum chronischen Schmerzsyndrom in Folge einer durch Unfall eingetretenen Querschnittslähmung).

Die Verordnung von Dronabinol als Rezepturarzneimittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung war somit unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zulässig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und berücksichtigt das Teilanerkenntnis des Beklagten.
Rechtskraft
Aus
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