L 29 B 215/08 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
29
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 99 AS 32123/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 29 B 215/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Januar 2008 wird zurückgewiesen. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt H beigeordnet. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Zahlung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der 1977 geborene Antragsteller ist schwedischer Staatsangehöriger. Nach eigenen Angaben hält er sich seit dem 25. Oktober 2004 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Am 17. August 2006 stellte er bei dem Antragsgegner einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Er legte eine "Bescheinigung über das gemeinschaftliche Aufenthaltsrecht gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU" vom 17. August 2006 vor, wonach er Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union und nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes zur Einreise und zum Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt ist. Er gab an, er habe sein Studium an der Kunsthochschule im Jahre 2004 abgeschlossen. Dann habe er seine Wohnung in Schweden verkauft, sei nach Berlin gefahren und habe von dem Verkaufserlös der Wohnung gelebt. Das Geld sei seit Februar 2006 verbraucht. Er habe jetzt Schulden.

Dem Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes wurde stattgegeben; mit Bescheid vom 14. Februar 2007 wurde die Leistung bis zum 31. August 2007 weiterbewilligt.

Den Fortzahlungsantrag vom 09. August 2007 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 14. August 2007 ab. Zur Begründung gab er an, dass sich der Antragsteller allein aus dem Zweck der Arbeitssuche in Deutschland aufhalte und daher Leistungen gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB II ausgeschlossen seien. Gegen diesen Bescheid legte der Antragsteller keinen Widerspruch ein.

Auf den Überprüfungsantrag des Antragstellers vom 26. Oktober 2007 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 30. Oktober 2007 die Rücknahme des Bescheides vom 14. August 2007 mit der Begründung ab, dass weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem falschen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Gegen den auf den Widerspruch des Antragstellers ergangenen Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 2007 hat der Antragsteller am 14. Januar 2008 Klage erhoben.

Am 07. Dezember 2007 hat der Antragsteller einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei dem Sozialgericht Berlin gestellt. Er hat vorgetragen, er lebe seit 01. Oktober 2007 mit seiner Freundin, Frau V A in einer Wohnung. Diese könne den Lebensunterhalt des Antragstellers nicht finanzieren, sie habe ebenfalls einen Antrag auf Arbeitslosengeld II gestellt. Der Antragsteller habe Schulden in Höhe von 835 EUR. Er habe versucht, bis zum erstmaligen Bezug von Arbeitslosengeld II als Künstler tätig zu sein, um auf diese Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die gemeinschaftsrechtliche Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ergebe, dass für Ausländer, die Unionsbürger seien, aufgrund der nach Art. 12 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) verbotenen Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit kein Leistungsausschluss bestehe, jedenfalls nicht nach Ablauf eines dreimonatigen Aufenthaltes.

Mit Beschluss vom 10. Januar 2008 hat das Sozialgericht Berlin den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt: Der Antragsteller könne ein Aufenthaltsrecht allenfalls aus der Regelung des § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU ableiten, so dass die Versagung der begehrten Leistungen durch den Antragsgegner zu Recht erfolgt sei.

Am 18. Januar 2008 hat der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin Beschwerde eingelegt und beantragt, ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten zu gewähren. Seine Begründung entspricht im Wesentlichen derjenigen im erstinstanzlichen Verfahren. Der Anordnungsgrund ergebe sich aus der Tatsache, dass der Antragsteller seinen Lebensunterhalt nicht finanzieren könne. Er habe mittlerweile Schulden bei Frau A in Höhe von 1140 EUR. Sofern dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage in angemessener Zeit nicht möglich sei, sei dem Antragsteller einstweilen ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II und eine weitere Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung in der Mstr. zuzugestehen. Denn eine Folgenabwägung würde zweifellos zu Gunsten des Antragstellers ausgehen. Eine solche Vorgehensweise habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Beschluss vom 12. Mai 2005 bestätigt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der eingereichten Schriftsätze der Beteiligten und den übrigen Akteninhalt verwiesen. Die den Antragsteller betreffende Verwaltungsakte des Antragsgegners (Az. ) hat dem Gericht vorgelegen und ist Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

II.

Die statthafte und zulässige Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (§ 174 SGG in der bis zum 31. März 2008 geltenden Fassung), ist nicht begründet.

Das Sozialgericht hat den Antrag, den Antragsgegner zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes des Antragstellers (weiterhin) zu zahlen, zu Recht abgelehnt.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen. Die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung - ZPO-).

In Bezug auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für die Zeit ab dem 07. Dezember 2007 bis zur Entscheidung des erkennenden Senates steht dem Antragsteller kein Anordnungsgrund zur Seite. Maßgebend sind - auch im Beschwerdeverfahren - die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (Schoch, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Rdnrn. 165, 166 m. w. N. zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann.

Dahinstehen kann, ob sich die Überprüfung gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nur auf den Zeitraum erstreckte, für den auf den Weiterzahlungsantrag vom 09. August 2007 gemäß § 41 SGB II - bei Vorliegen der Voraussetzungen - eine Weiterbewilligung hätte erfolgen sollen, also in der Regel für sechs Monate und damit bis zum 29. Februar 2008. Wäre dies der Fall, würde die Ablehnung des Antragsgegners zwar nicht auch den Zeitraum ab März 2008 umfassen, eine (erneute) Prüfung und gegebenenfalls Ablehnung durch den Antragsgegner durch Bescheid wäre jedoch für die Zulässigkeit des in der ersten Instanz gestellten zeitlich offenen Verpflichtungsantrages nicht notwendig, da der Antragsgegner in dem Bescheid vom 14. August 2007 und dem Bescheid vom 30. Oktober 2007 seine ablehnende Haltung bereits dargelegt hat und sich an der Sach- und Rechtslage seither nichts geändert hat.

Bezüglich der Zukunft dürfte ein Anordnungsgrund gegeben sein, da der Antragsteller vorgetragen hat, völlig mittellos zu sein.

Ob ein Anordnungsanspruch vorliegend gegeben ist, lässt sich im einstweiligen Anordnungsverfahren nicht abschließend klären. Der Senat hat zwar mit Beschluss vom 05. September 2007 (Az. L 29 B 828/07 AS ER, dokumentiert in Juris) in einem ähnlich gelagerten Fall die Auffassung vertreten, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II einer Leistungsgewährung entgegensteht und dass diese Vorschrift auch europarechtskonform ist. An dieser Auffassung hält der Senat nach erneuter Prüfung fest. Allerdings werden in Literatur und Rechtsprechung erhebliche Zweifel geäußert, ob der Ausschluss von Arbeit suchenden Unionsbürgern insbesondere mit der nach Art. 12 EGV verbotenen Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit vereinbar ist (vgl. z.B. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. April 2007, Aktenzeichen L 19 B 116/07 AS ER; Valgolio in Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB II, § 7 Rn. 30; Schreiber, "Der Arbeitslosengeld II-Anspruch von Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen", info also 2008, Seite 3 ff m.w.N.). Einige Landessozialgerichte sind diesen Zweifeln entgegengetreten (vgl. z.B. Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 13. September 2007, Az. L 9 AS 44/07 ER, dokumentiert in Juris; Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 02. August 2007, Az. L 9 AS 447/07 ER, dokumentiert in Juris). Das Sozialgericht Nürnberg hat mit Beschlüssen vom 18. Dezember 2007 (Az. S 19 AS 691/07 und S 19 AS 738/07) zwei Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vorgelegt, ob Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 29. April 2004 (der nach Auffassung des bundesdeutschen Gesetzgebers durch die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II umgesetzt wird) mit Art. 12 i.V.m. Art. 39 EG vereinbar ist.

Da mit einer Entscheidung des EuGH erfahrungsgemäß etwa nach zwei Jahren zu rechnen ist, kann zum jetzigen Zeitpunkt die Frage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II europarechtskonform ist, nicht abschließend beantwortet werden. Der Senat ist daher der Auffassung, dass entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) in diesem Fall eine Folgenabwägung vorzunehmen ist (die Möglichkeit einer Folgenabwägung in einem solchen Fall ebenfalls bejahend: Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 02. November 2007, Aktenzeichen L 6 AS 664/07 ER, dokumentiert in Juris). Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 12. Mai 2005 (1 BvR 569/05, dokumentiert in Juris, weitere Fundstelle NVwZ 2005, 927 bis 929) ausgeführt, dass Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (BVerfG, a.a.O., juris Rn. 24). Das BVerfG führt weiter aus: "Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (vgl. BVerfG, a.a.O., juris Rn. 26).

Die Folgenabwägung im vorliegenden Fall geht nicht zu Gunsten des Antragstellers aus. Es ist nicht ersichtlich, welche schweren und unzumutbaren, nicht anders abwendbaren Beeinträchtigungen, die mit Grundrechtsverletzungen, insbesondere im Hinblick auf die Wahrung der Menschenwürde einhergehen, dem Antragsteller entstehen würden, wenn seinem Begehren nicht vorläufig stattgegeben würde. Sofern der Antragsteller nicht mehr in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt in Deutschland sicherzustellen, müsste er nach Schweden zurückkehren, wo er Anspruch auf staatliche Unterstützung hätte. Es ist nicht erkennbar, warum eine solche Rückkehr nach Schweden für den Antragsteller unzumutbar sein sollte. Keiner langen Erläuterungen Bedarf es, dass Schweden ein Rechtsstaat ist, in dem keinerlei ungerechtfertigte Benachteiligungen oder gar Verletzungen von Grundrechten zu befürchten sind.

Bei einer Rückkehr nach Schweden wäre der einzige Nachteil, den der Antragsteller zu gewärtigen hätte, dass er möglicherweise für einen Zeitraum von ca. zwei Jahren, also bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes über die Vorlagebeschlüsse des Sozialgerichts Nürnberg, ein ihm möglicherweise zustehendes Freizügigkeitsrecht nicht wahrnehmen könnte. Nach Auffassung des Gerichts wiegt ein solcher Nachteil, da er vorübergehender Natur wäre, nicht schwerer als die fiskalischen Interessen des Antragsgegners, der andernfalls für etwa zwei Jahre den Lebensunterhalt des Antragstellers sicherstellen müsste, ohne - im Hinblick auf die finanzielle Situation des Antragstellers - die Gewähr zu haben, dass ihm dieses Geld, sofern die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II europarechtskonform wäre, zurückerstattet würde.

Die Beschwerde kann daher keinen Erfolg haben.

Dem Antragsteller war für das Verfahren vor dem Landessozialgericht gemäß § 73 a SGG i.V.m. § 114 ZPO Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu bewilligen, da er die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann. Die notwendige hinreichende Erfolgsaussicht war bei Einlegung der Beschwerde ebenfalls gegeben, da divergierende Meinungen in Rechtsprechung und Literatur bezüglich der hier in Rede stehenden Problematik bestehen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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