L 7 AS 2955/08 ER

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 11 AS 2426/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AS 2955/08 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung bedarf einer Interessen- und Folgenabwägung. Im Streit über existenzsichernde Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch ist regelmäßig davon auszugehen, dass die Nachteile, die dem Antragsteller bei Versagung der erstinstanzlich zugesprochenen Leistungen entstünden, die Nachteile überwiegen, die einen Leistungsträger durch die vorläufige Gewährung von Leistungen entstehen.
Der Antrag der Antragsgegnerin, die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 18. Juni 2008 - Az. S 11 AS 2426/08 ER - durch einstweilige Anordnung auszusetzen, wird abgelehnt.

Die Antragsgegnerin hat den Antragstellerinnen die außergerichtlichen Kosten des Aussetzungsverfahrens zu erstatten; im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

Gründe:

Der Aussetzungsantrag ist statthaft und zulässig. Gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat, der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen. Vollstreckt wird aus einstweiligen Anordnungen (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG); demgegenüber haben Beschlüsse über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG) rechtsgestaltende Wirkung und sonach keinen vollstreckungsfähigen Inhalt (vgl. Bundessozialgericht (BSG) BSGE 27, 31, 33; Binder in Hk-SGG, 2. Auflage, § 86b Rdnr. 28; Leitherer in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 8. Auflage, § 198 Rdnr. 3a; Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, Rdnr. 237).

Ein vollstreckbarer Titel liegt nunmehr in Form des Beschlusses des Sozialgerichts Karlsruhe (SG) vom 18. Juni 2008 (S 11 AS 2426/08 ER) vor, in welchem das SG die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet hat, ab dem 7. Mai 2008 bis zum 31. August 2008, längstens jedoch bis zur Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren L 7 AS 2813/08 ER-B, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von 410,40 Euro monatlich darlehensweise an die Antragstellerinnen zu zahlen. Dagegen ist der im Verfahren L 7 AS 2813/08 ER-B angefochtene Beschluss des SG vom 15. Mai 2008 (S 11 AS 2013/08 ER) über die (teilweise) Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerinnen gegen den Rücknahmebescheid vom 21. April 2008 nicht vollstreckbar, sodass diesen als einziges Mittel zur Durchsetzung ihres aus diesem Beschluss rührenden einstweiligen Zahlungsanspruchs nur die einstweilige Anordnung verblieb (vgl. hierzu Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen, Beschluss vom 8. Juli 1997 - L 1 RlW 20/97 eR -; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Juli 2004 - L 13 RJ 2467/04 ER-B - (beide juris); Binder in Hk-SGG, a.a.O.; ferner BSGE 76, 16, 17 = SozR 3-1200 § 66 Nr. 3; BSGE 91, 68, 70 = SozR 4-1300 § 31 Nr. 1; Keller in Meyer-Ladewig u.a., a.a.O. § 54 Rdnr. 38).

Die gegen den oben bezeichneten Beschluss des SG vom 18. Juni 2008 (S 11 AS 2426/08 ER) eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin zum LSG (L 7 AS 2948/08 ER-B) hat keine aufschiebende Wirkung; keiner der in § 175 SGG abschließend aufgezählten Gründe liegt hier vor. Der Aussetzungsantrag ist sonach gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGG statthaft und zulässig (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. auch Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., § 175 Rdnr. 3). Der Antrag ist jedoch nicht begründet.

Zur Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung bedarf es einer Interessen- und Folgenabwägung, bei der einerseits das Interesse an der Vollziehung, andererseits das Interesse des Schuldners daran, dass nicht vor endgültiger Klarstellung der Rechtslage geleistet wird, gegeneinander abzuwägen sind (vgl. Leiherer in Meyer-Ladewig, a.a.O., § 199 Rdnr. 8; Ruppelt in Hennig u.a., SGG, § 199 Rdnr. 20). Die Beteiligten haben die für ihre Interessen bedeutsamen Tatsachen, soweit nicht den Akten entnehmbar, mitzuteilen und glaubhaft zu machen (vgl. nochmals BSG SozR 3-1500 § 199 Nr. 1; BSG, Beschluss vom 5. September 2001 a.a.O.). Selbst wenn im Rahmen der Interessenabwägung auch die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels ausnahmsweise eine Rolle spielen können (vgl. BSG, Beschluss vom 5. September 2001 - B 3 KR 47/01 R - (juris); a.A. BSG SozR 3-1500 § 199 Nr. 1), sind indessen in existenzsichernden Eilverfahren - namentlich in Angelegenheiten nach dem SGB II und dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - Besonderheiten zu beachten. Hier hat sich der Vorsitzende im Rahmen der Entscheidung nach § 199 Abs. 2 SGG - gerade mit Blick auf die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Grundrechtsrelevanz besonders schwerer Beeinträchtigungen (vgl. BVerfG NVWZ 1997, 479; NJW 2003, 1236 und NVwZ 2005, 927 = Breithaupt 2005, 803) - wesentlich und maßgeblich an den Folgen für die Hilfesuchenden zu orientieren (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. z.B. Beschluss vom 31. Januar 2008 - L 7 AS 441/08 ER -). Im Streit über existenzsichernde Leistungen ist deshalb regelmäßig davon auszugehen, dass die Nachteile, die dem Antragsteller bei Versagung der erstinstanzlich zugesprochenen existenzsichernden Leistungen entstünden, die Nachteile überwiegen, die einem Leistungsträger durch die vorläufige Gewährung von Leistungen entstehen (so auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 8. Februar 2006 - L 10 AS 17/06 ER -, Breithaupt 2006, 418).

Das ist auch hier der Fall. Durch den vollständigen Entzug der existenzsichernden Leistungen stehen gravierende Rechtsbeeinträchtigungen der Antragstellerinnen im Raume. Diese Nachteile überwiegen eindeutig die Nachteile, welche der Antragsgegnerin dadurch entstünden, dass die Antragstellerinnen einer etwaigen späteren Rückzahlungsverpflichtung nicht nachkommen könnten. Dessen ungeachtet sei die Antragsgegnerin darauf hingewiesen, dass das SG der Ungewissheit der Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs bereits im Beschluss vom 15. Mai 2008 (S 11 AS 2013/08 ER) insoweit Rechnung getragen hat, als es im Rahmen seiner Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs die sich aus dem Bewilligungsbescheid vom 29. Januar 2008 ergebende Zahlungsverpflichtung um 20 v.H. reduziert hat. Eine Anordnung der Vollstreckung nur gegen Sicherheitsleistung (vgl. § 199 Abs. 2 Satz 2 SGG) ist nach allem nicht angezeigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Da es sich bei dem Verfahren nach § 199 Abs. 2 SGG um ein selbständiges Verfahren handelt (vgl. BSG SozR 3-1500 § 199 Nr. 1), war über die Kosten dieses Verfahrens gesondert zu entscheiden.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar; er kann jederzeit aufgehoben werden (§ 199 Abs. 2 Satz 3 SGG).
Rechtskraft
Aus
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