L 2 U 122/01

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 67 U 388/99-15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 122/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 8. August 2001 sowie der Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. April 1999 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Sturz vom 23. Februar 1998 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob das Ereignis vom 23. Februar 1998 die Anforderungen für dessen Anerkennung als Arbeitsunfall erfüllt.

Der 1967 geborene Kläger ist seit Mai 1995 als Steward in der Seetouristik tätig. Er nahm in dieser Funktion am 23. Februar 1998 an Bord des Motorschiffes -MS- „Arkona“ an einem „Piratendinner“ teil, das im Restaurant des Schiffes stattfand. Bei dem Versuch, mit zwei Weinflaschen in der Hand einen Stuhl zu überspringen, stürzte der Stuhl um. Der Kläger, der stolperte, fiel mit dem Beckenboden auf ein Stuhlbein. Hierbei zog er sich eine von Dr. B, dem Chirurgen an Bord, diagnostizierte Harnröhrenruptur und eine Weichteilverletzung am anus zu. Eine erste stationäre Versorgung des Klägers erfolgte in der urologischen Abteilung des M-Hospitals in M (USA). Die Anschlussbehandlung übernahm die Ärztin für Urologie Dr. Sch in Berlin, die den Kläger in die urologische Abteilung des St. -Krankenhauses einwies. Dort wurde er nach den vorliegenden Unterlagen vom 8. bis 27. Juni 1998 und vom 31. August bis 5. September 1998 wegen eines Harnröhrenstriktur-Rezidivs stationär behandelt. Als Folge des Ereignisses vom 23. Februar 1998 verblieb u.a. eine komplette erektile Dysfunktion.

In der Unfallanzeige des Arbeitgebers des Klägers, der DS, vom 25. Februar 1998 an die Beklagte heißt es im Anschluss an die Schilderung des Unfallhergangs, der Unfall sei auf groben Unfug am Arbeitsplatz durch den Kläger zurückzuführen.

Der Kläger führte in seiner Schilderung des Hergangs des Ereignisses vom 23. März 1998 aus, das „Piratendinner“ auf der MS Arkona sei ein kulinarischer Höhepunkt mit außergewöhnlichen Serviceaktivitäten und hohem Unterhaltungswert für die Passagiere gewesen. Es habe kuriose Kostüme und Methoden vom Personal erfordert.

Der als Zeuge vom Kläger benannte Arbeitskollege TB gab auf schriftliche Anfrage der Beklagten an, er habe den Unfallhergang nicht beobachtet. Der Piratenabend habe wie immer in lockerer Atmosphäre stattgefunden. Bestimmt habe ein Teil Übermut bei dem Kläger eine Rolle gespielt.

Die Personalleiterin der Reederei, Frau W, erklärte der Beklagten laut eines telefonischen Vermerks vom 8. Juni 1998 (Bl. 26 der Verwaltungsakte), dass besondere Dinner-Veranstaltungen je nach Fahrtgebiet und Jahreszeit (z.B. Faschingszeit) häufiger durchgeführt würden. Von dem Bedienungspersonal werde dann schon etwas Ausgefallenes beim Service und bei der Kostümierung („alles jedoch im Rahmen“) erwartet. Die Aktivitäten des Bedienungspersonals sollten zur Unterhaltung der Passagiere beitragen. „ ... Wäre H. nicht verunglückt, hätte er mit seinem Sprung sicherlich zum Amüsement der Passagiere beigetragen“.

Die Beklagte führte anschließend weitere medizinische Ermittlungen durch und befragte außerdem noch einmal den Arbeitgeber des Klägers ausführlich zu dem Unfallhergang, zu dessen Vorstellungen über die Gestaltung eines „Piratendinners“ und über die „artistischen“ Einlagen der Mitarbeiter. Nach dem Vorliegen des Antwortschreibens vom 8. November 1998 lehnte es die Beklagte durch Bescheid vom 28. Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. April 1999 ab, Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen des Harnröhrenrisses anzuerkennen. Der Kläger habe sich in einem hohen Maße vernunftwidrig verhalten, als er mit zwei geöffneten Weinflaschen in der Hand über einen in unmittelbarer Nähe der Gäste aufgestellten Stuhl gesprungen sei. Er habe hierbei sich selbst und die Gäste gefährdet, so dass ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und Unfallereignis nicht mehr bestehe. Sein vernunftwidriges und gefährliches Verhalten (sogenannte selbst geschaffene Gefahr) sei die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls.

Das hiergegen vom Kläger angerufene Sozialgericht hat eine schriftliche Auskunft der D S vom 6. Februar 2001 eingeholt und einen am 6. Juni 2001 in Graz (Österreich) vom seinerzeitigen Obersteward H beantworteten Fragenkatalog vom 18. Dezember 2000 zur Gerichtsakte genommen.

Durch Gerichtsbescheid vom 8. August 2001 hat das Sozialgericht dann die Klage abgewiesen. Der Sturz vom 23. Februar 1998 stelle keinen Arbeitsunfall im Sinne von § 8 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch -SGB VII- dar. Rechtlich wesentlich ursächlich für den Sturz des Klägers und die dabei erlittenen Verletzungen sei eine nicht mehr vom Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung umfasste „selbst geschaffene Gefahr“ des Klägers. Sein Verhalten habe nicht mehr betrieblichen, sondern im Wesentlichen eigenen Zwecken gedient und sei so vernunftwidrig gewesen, dass mit großer Wahrscheinlichkeit mit einem Unfall zu rechnen gewesen sei. Das Risiko eines Unfalls sei nicht kalkulierbar gewesen, als der Kläger mit zwei vollen Weinflaschen in der Hand und dem dadurch beeinträchtigten Gleichgewicht den Stuhl überspringen wollte. Sein Verhalten sei im Wesentlichen von eigenen Interessen bestimmt gewesen und habe nicht mehr oder nur völlig untergeordnet betrieblichen Zwecken gedient. Sowohl der Kapitän als auch der Sicherheitsbeauftragte und die Bordvertretung hätten mehrfach dargelegt, dass ähnliche „artistische“ Aktionen wie diejenige des Klägers vom Personal trotz des besonders lockeren Charakters des "Piratendinners" weder erwartet worden noch üblich gewesen seien und - im Gegenteil - als „grober Unfug“ missbilligt worden seien. Das Verhalten des Klägers sei aus Sicht des erkennenden Gerichts nur als deutlich überzogene Selbstdarstellung und als Imponiergehabe erklärbar, mit dem er seine eigene Person und persönlichen Fähigkeiten gegenüber den anwesenden Gästen in den Vordergrund habe stellen wollen. Das sei kein betrieblicher, sondern ein privater Zweck und es sei auch nicht Bestandteil der Aufgabe des Klägers, die Gäste zu unterhalten.

Gegen den am 17. August 2001 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Klägers vom 17. September 2001, mit der er eine ungenügende Sachverhaltsaufklärung und eine fehlerhafte Beweiswürdigung rügt. Sein Verhalten während des „Piratendinners“ sei von seinen Vorgesetzten nicht nur geduldet, sondern ausdrücklich angeregt worden. So sei bei den Zeugen nicht erfragt worden, ob derartige „artistische“ Einlagen wie im vorliegenden Fall auch in der Vergangenheit stattgefunden hätten und geduldet worden wären. Er behaupte, dass derartige Einlagen schon wiederholt stattgefunden hätten. Hierüber seien die von ihm benannten Zeugen zu vernehmen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 8. August 2001 sowie den Bescheid vom 28. Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. April 1999 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Sturz vom 23. Februar 1998 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie folgt der für überzeugend gehaltenen Begründung im Gerichtsbescheid des Sozialgerichts.

Der Senat hat durch Beweisanordnung vom 8. Januar 2002 den Zeugen SP durch das Sozialgericht Karlsruhe vernehmen lassen. Die Niederschrift vom 20. Juni 2002 (Bl. 116 bis 119 Gerichtsakte) ist den Beteiligten bekannt. Außerdem hat er in der Sitzung vom 26. November 2002 den Kläger persönlich zu den Umständen des Ereignisses vom 23. Februar 1998 angehört und Herrn J W als Zeugen zu den Gepflogenheiten, die in der Regel bei einem „Piratendinner“ herrschten, vernommen (Bl. 131 Gerichtsakte).

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Verwiesen wird außerdem auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Der von ihm angegriffene Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. April 1999 hält einer Überprüfung ebenso wenig stand wie der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 8. August 2001. Das vom Kläger angeschuldigte Ereignis vom 23. Februar 1998 ist als Arbeitsunfall zu werten. Beklagte und Sozialgericht haben zu Unrecht die Annahme eines Unfalls im Sinne des § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO unter dem Gesichtspunkt der sogenannten selbst geschaffenen Gefahr verneint und argumentiert, dass den Kläger ausschließlich betriebsfremde Motive veranlasst hätten, den unfallverursachenden Sprung über einen Stuhl zu riskieren. Das würde voraussetzen, dass der Kläger bei seiner Tätigkeit als Steward anlässlich des „Piratendinners“ an Bord des MS Arkona am 23. Februar 1998 neben den betrieblichen auch private Interessen verfolgt hätte und hierbei die privaten Interessen zum Zeitpunkt des Unfalls ausschließlich (vgl. hierzu BSGE 64, 159 ff. m.w.N.).

Eine Wertung des Sachverhalts, wie er sich aus dem Vortrag des Klägers, dem Inhalt der Zeugenaussagen und dem sonstigen Akteninhalt ergibt, bietet für die Interpretation des Sozialgerichts des als Unfall umstrittenen Vorgangs keinen Raum. Nach Auffassung des Senats unterfällt der zum Unfall führende Vorgang der durch den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung erfassten Risikosphäre.

Es bestand nicht nur ein örtlicher und ein zeitlicher Zusammenhang des zum Unfall führenden Vorgangs mit der versicherten Tätigkeit des Klägers als Steward, sondern auch ein innerer Zusammenhang. Dieser ist von dem kausalen Zusammenhang zu unterscheiden und bezeichnet den rein normativen Zusammenhang zwischen dem konkreten unfallbringenden Verhalten und dem generell versicherten Tätigkeitsbereich des Versicherten (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Anm. 6 zu § 8 SGB VII). Der durch die §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO (= §§ 2, 3 und 6 SGB VII) erfasste Personenkreis ist nicht umfassend gegen Unfälle geschützt, sondern nur gegen solche, die in den Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung fallen. Es ist wertend zu ermitteln, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (vgl. u.a. BSG SozR 3-2200 § 548 Nrn. 19 sowie Mehrtens a.a.O. und Hauck-Keller, SGB VII, K § 8 Rdnr. 16). Hierbei entstehen besondere Zurechnungsprobleme, wenn das versicherte Tätigkeitsfeld gesetzlich oder vertraglich nicht näher umschrieben ist. Fällt die zu beurteilende Handlung des Versicherten nicht unter den versicherten Bereich, wird sie als eigenwirtschaftliche (a.a.O.: private Tätigkeit, vgl. Hauck-Keller a.a.O.) bezeichnet. Diese hier vom Sozialgericht favorisierte Lösung überzeugt den Senat bei der gegebenen Sachlage nicht.

Die Zurechnung von zum Unfall führenden Verrichtungen zur versicherten Tätigkeit erfolgt im Regelfall durch die wertende Feststellung der Handlungstendenz des Betroffenen, so wie sie insbesondere durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt wird (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 90). Bedeutsam ist hierbei, ob sich der Betroffene in seiner finalen Zielsetzung sozial- wie auch arbeitsrechtlich norm- und vertragsgerecht verhält (BSG SozR 3-2200 § 550 Nr. 1).

Unter Anwendung dieser durch die Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Grundsätze kann nach Auffassung des Senats nicht festgestellt werden, dass der Kläger grundlos und ohne innere Beziehung zu seinen Aufgaben als Steward durch einen - dann missglückten - Sprung über einen Stuhl eine besondere Gefahr auf sich nahm, die seinen beruflichen Aufgaben am 23. Februar 1998 nicht entsprach. Nach den durch die telefonischen Erläuterungen der Personalleiterin Frau W bestätigten Angaben des Klägers handelte es sich bei dem am Tage des Unfalls stattfindenden „Piratendinner“ um einen Höhepunkt einer Kreuzfahrt, bei dem vom Bedienungspersonal, also auch vom Kläger, ausgefallene Ideen beim Service und bei der Kostümierung erwartet wurden. An artistische Aktivitäten mag hierbei nicht gedacht gewesen sein, sie wurden aber auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen. So hat der Zeuge W dem Senat in der mündlichen Verhandlung am 26. November 2002 erläutert, dass von den Stewards u.a. Handstandlaufen und Radschlagen vorgeführt wurde, ohne dass diese Aktivitäten zu Einsprüchen der Schiffsleitung geführt hätten. Als besondere „artistische“ Leistung kann deshalb auch der vom Kläger - nach eigenen Angaben schon mehrfach demonstrierte - erneut vorgesehene Sprung über einen Stuhl mit Lehne von insgesamt 60 cm Höhe nicht angesehen werden. Er hielt diesen Sprung, dessen Gelingen er voraussetzte, für eine einfache, in die sonstigen Aktivitäten passende Juxeinlage. Da der Kläger sich selbst als sportlich einschätzt und sich den Sprung ungeachtet des zugleich stattfindenden Transports von zwei Weinflaschen zutraute und nach seiner festen Überzeugung auch problemlos bewältigen konnte, sieht der Senat in seinem Verhalten - vom Ansatz her - keine besonders gefährliche Herausforderung, die den Schluss rechtfertigt, dahinter verberge sich ein die Grenzen des Verträglichen sprengendes Imponiergehabe, das ausschließlich von betriebsfremden Motiven getragen worden sei.

Es wurde zwar vom Bedienungspersonal eine korrekte Arbeitsweise verlangt (Zeuge H in seiner schriftlichen Aussage vom 6. Juni 2001), andererseits aber ein individueller Einfallsreichtum bei der Gestaltung der generell als „locker“ charakterisierten Atmosphäre der Veranstaltung (vgl. die Aussage des Zeugen P vom 17. Mai 2002) durchaus geschätzt. Bei diesen Umständen konnte der Kläger von seinem Standpunkt aus annehmen, sein Sprung über einen Stuhl erhöhe den Unterhaltungswert des Abends. Sein Verhalten kann deshalb nicht als in so hohem Maße vernunftwidrig und gefährlich beurteilt werden, dass es durch den Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht mehr gedeckt ist.

Die Beklagte war deshalb unter Aufhebung der Vorentscheidungen antragsgemäß zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz -SGG-.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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