L 15 VG 2/11 WA

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 15 VG 7/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 VG 2/11 WA
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 21/11 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Statthaft ist eine Wiederaufnahmeklage nur dann, wenn ein Wiederaufnahmegrund schlüssig behauptet wird. In diesem Zusammenhang bedeutet schlüssiges Behaupten, dass bei Unterstellung, die tatsächlichen Behauptungen des Wiederaufnahmeklägers würden zutreffen, ein Wiederaufnahmegrund gegeben wäre.
I. Die Restitutionsklage wird als unzulässig verworfen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im vorliegenden Verfahren streben die Klägerinnen, Mutter und Tochter, die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens vor dem Bayerischen Landessozialgericht (Aktenzeichen L 15 VG 8/07) an, das auf Gewährung einer Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) gerichtet war.

Ausgangspunkt für das Begehren auf Opferentschädigung war die am 19.08.2002 erfolgte Herausnahme der 1996 geborenen Klägerin zu 2 aus dem gemeinsamen Haushalt mit ihrer Mutter, der Klägerin zu 1. Dies geschah durch Vertreter des Jugendamtes unter Zuhilfenahme der Polizei. Rechtliche Grundlage dafür war ein das elterliche Sorgerecht der Klägerin zu 1 einschränkender Beschluss des Amtsgerichts A-Stadt vom 18.02.2002. Die Klägerin zu 2 wurde sodann in eine stationäre Einrichtung nach B-Stadt gebracht, in der sie auch heute noch lebt. Gegen die Herausnahme der Klägerin zu 2 ging die Klägerin zu 1 durch strafrechtliche Anzeigen vor (Hausfriedensbruch, Diebstahl, vorsätzliche Körperverletzung, Freiheitsberaubung). Jedoch wurden die Ermittlungsverfahren eingestellt.

Am 14.08.2003 beantragte die Klägerin zu 1 für sich und die Klägerin zu 2 Opferentschädigung. Der Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 21.01.2004 und Widerspruchsbescheid vom 05.04.2004 ab. Das folgende Klageverfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg endete mit einer Klageabweisung (Urteil vom 16.01.2007). Die dagegen eingelegte Berufung (Aktenzeichen L 15 VG 8/07) wies der Senat mit Urteil vom 04.03.2008 zurück. Zur Begründung führte er aus, ein vorsätzlicher, rechtswidriger Angriff im Sinn von § 1 Abs. 1 OEG habe nicht vorgelegen. Das Jugendamt sei seinerzeit berechtigt gewesen, die Klägerin zu 2 aus der Wohnung herauszuholen. Das Urteil wurde rechtskräftig.

Am 03.11.2011 haben die Klägerinnen die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt. Als Grund haben sie angegeben, bei einem Besuch in der stationären Einrichtung B-Stadt hätte die Klägerin zu 1 bei der Klägerin zu 2 schwere gesundheitliche Störungen festgestellt. Sie haben ein Schreiben der Klägerin zu 1 an das Amtsgericht A-Stadt beigefügt, das dort am 10.12.2010 eingegangen war. Darin hatte die Klägerin zu 1 die von ihr beobachteten gesundheitlichen Abnormitäten bei der Klägerin zu 2 im Einzelnen aufgezählt. Erst jetzt, so die Klägerin zu 1 in diesem Brief, sei ihre Tochter ein behinderter Mensch. Sie habe nichts dazu gelernt, sondern im Gegenteil Vieles verlernt. Auf den gerichtlichen Hinweis, ein Wiederaufnahmegrund sei daraus nicht ersichtlich, haben die Klägerinnen unter dem Datum 21.02.2011 vorgetragen, der Wiederaufnahmegrund liege gerade in den schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin zu 2, wie sie die Klägerin zu 1 im Schreiben vom 10.12.2010 beschrieben habe. Sinngemäß haben sie darzulegen versucht, früher sei die Klägerin zu 2 gesund gewesen, was aus ärztlichen Befunden aus den 1990er Jahren hervorgehe; in diesem Zusammenhang haben sie Arztberichte vom 16.01.1996 und vom 21.09.1999 vorgelegt.

Die Klägerinnen beantragen im Wege der Restitutionsklage sinngemäß,
das Berufungsverfahren L 15 VG 8/07 wieder aufzunehmen und den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.01.2007 sowie des Bescheids vom 21.01.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.04.2004 zu verurteilen, ihnen Versorgung nach dem OEG zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Restitutionsklage als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Akten des Beklagten, des Sozialgerichts und des Bayerischen Landessozialgerichts (auch L 15 VG 8/07, L 15 VG 14/08 C) verwiesen. Diese haben allesamt vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Wiederaufnahmeklage in Form der Restitutionsklage der Klägerinnen ist nicht zulässig, so dass sie als unzulässig zu verwerfen ist (§ 179 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 589 Abs. 1 Satz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO)). Es verbleibt damit bei der Rechtskraft des Urteils vom 04.03.2008 - L 15 VG 8/07.

Der Senat war nicht gehindert, trotz des Ausbleibens der Klägerinnen mündlich zu verhandeln und durch Urteil zu entscheiden. In der ordnungsgemäßen Ladung war ein korrekter Hinweis auf die Folgen ihres Fernbleibens enthalten. Das rechtliche Gehör der Klägerinnen ist gewahrt. So hat der Senat - was das Gebot rechtlichen Gehörs an sich nicht zwingend erfordern würde - die Klägerinnen geraume Zeit vor der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, ein Wiederaufnahmegrund sei nicht ersichtlich. Die Klägerinnen haben sich gerade zu diesem Kernproblem im Vorfeld der mündlichen Verhandlung ausführlich geäußert und dabei gezeigt, dass ihnen auch die maßgeblichen Vorschriften der Zivilprozessordnung, nach denen eine Wiederaufnahme möglich ist, bekannt gewesen sind. Sie haben sogar mehrfach, wie es § 179 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 587 ZPO erfordert, ihr Begehren ausdrücklich - und zutreffend - als Restitutionsklage bezeichnet.

Nach § 179 Abs. 1 SGG kann ein rechtskräftig beendetes Verfahren unter entsprechender Anwendung der Vorschriften der Zivilprozessordnung wiederaufgenommen werden. Eine Wiederaufnahmeklage zieht unter Umständen ein dreistufiges Verfahren nach sich. Zunächst haben die Gerichte zu prüfen, ob die Wiederaufnahmeklage zulässig ist. Bejahendenfalls schließt sich die Prüfung ihrer Begründetheit an, wobei es darum geht, ob tatsächlich ein Wiederaufnahmegrund vorliegt; ist das der Fall, hat das Gericht das rechtskräftig abgeschlossene Verfahren wieder aufzunehmen. Unter Umständen schließt sich sodann das ersetzende Verfahren in der Sache an.

Im vorliegenden Fall ist die Wiederaufnahmeklage bereits unzulässig, weil sie nicht statthaft ist. Gemäß § 179 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 589 Abs. 1 Satz 1 ZPO gehört zur Zulässigkeitsprüfung die Statthaftigkeit der Wiederaufnahmeklage. Statthaft ist eine Wiederaufnahmeklage nur dann, wenn ein Wiederaufnahmegrund schlüssig behauptet wird (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/ders., SGG, 9. Auflage 2008, § 179 Rn. 9). Keine Rolle spielt, ob man dieses Erfordernis tatsächlich der Statthaftigkeit oder der Beschwer im Sinn einer Klagebefugnis zuordnet. Jedenfalls erscheint es angesichts des Ausnahmecharakters der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Gerichtsverfahrens unabdingbar, zur Zulässigkeitsvoraussetzung zu erheben, dass wenigstens ein gewisser "Anfangsverdacht" für einen Wiederaufnahmegrund besteht. In diesem Zusammenhang bedeutet schlüssiges Behaupten, dass bei Unterstellung, die tatsächlichen Behauptungen der Klägerinnen würden zutreffen, ein Wiederaufnahmegrund gegeben wäre. Daran fehlt es jedoch.

Nach § 578 Abs. 1 ZPO kann die Wiederaufnahme durch Nichtigkeitsklage (§ 579 ZPO) oder durch Restitutionsklage (§ 580 ZPO) erfolgen. Die Wiederaufnahmegründe sind im Gesetz abschließend aufgezählt.

§ 579 ZPO regelt die Nichtigkeitsklage; er lautet wie folgt:
(1) Die Nichtigkeitsklage findet statt:
1. wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war;
2. wenn ein Richter bei der Entscheidung mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen war, sofern nicht dieses Hindernis mittels eines Ablehnungsgesuchs oder eines Rechtsmittels ohne Erfolg geltend gemacht ist;
3. wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war;
4. wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat.
(2) In den Fällen der Nummern 1, 3 findet die Klage nicht statt, wenn die Nichtigkeit mittels eines Rechtsmittels geltend gemacht werden konnte.

Einen Fehler im Sinn von § 579 ZPO haben die Klägerinnen evident nicht behauptet und auch nicht behaupten wollen.

Aber auch ein Grund für eine Restitutionsklage gemäß § 580 ZPO ist nicht schlüssig behauptet worden. Diese Vorschrift hat folgenden Wortlaut:
Die Restitutionsklage findet statt:
1. wenn der Gegner durch Beeidigung einer Aussage, auf die das Urteil gegründet ist, sich einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht schuldig gemacht hat;
2. wenn eine Urkunde, auf die das Urteil gegründet ist, fälschlich angefertigt oder verfälscht war;
3. wenn bei einem Zeugnis oder Gutachten, auf welches das Urteil gegründet ist, der Zeuge oder Sachverständige sich einer strafbaren Verletzung der Wahrheitspflicht schuldig gemacht hat;
4. wenn das Urteil von dem Vertreter der Partei oder von dem Gegner oder dessen Vertreter durch eine in Beziehung auf den Rechtsstreit verübte Straftat erwirkt ist;
5. wenn ein Richter bei dem Urteil mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf den Rechtsstreit einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten gegen die Partei schuldig gemacht hat;
6.wenn das Urteil eines ordentlichen Gerichts, eines früheren Sondergerichts oder eines Verwaltungsgerichts, auf welches das Urteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftiges Urteil aufgehoben ist;
7. wenn die Partei
a) ein in derselben Sache erlassenes, früher rechtskräftig gewordenes Urteil oder
b) eine andere Urkunde auffindet oder zu benutzen in den Stand gesetzt wird, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde;
8. wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.

Würde man die tatsächlichen Behauptungen der Klägerinnen als wahr unterstellen, läge gleichwohl kein Restitutionsgrund vor. Denn als "Anfechtungsgrund" haben sie eine schwere Gesundheitsschädigung zum Nachteil der Klägerin zu 2 behauptet. Es liegt auf der Hand, dass mögliche Veränderungen im Gesundheitszustand der Klägerin zu 2 als solche von vornherein keinen Restitutionsgrund verkörpern können. Zu Gunsten der Klägerinnen unterstellt der Senat jedoch, dass sie das Schreiben vom 10.12.2010 an das Amtsgericht A-Stadt als Urkunde im Sinn von § 179 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 580 Nr. 7 lit. b ZPO einstufen, ebenso die von ihnen vorgelegten Arztberichte vom 16.01.1996 und vom 21.09.1999. Eine Urkunde, soll sie denn eine Wiederaufnahme auslösen können, muss im Vorprozess grundsätzlich schon vorhanden gewesen sein; das ist bei dem eigenen Schriftsatz vom 10.12.2010 offenkundig nicht der Fall. Bezüglich der beiden Arztberichte haben die Klägerinnen nicht behauptet, sie hätten diese erst jetzt wieder aufgefunden oder seien erst jetzt in die Lage versetzt worden, sie zu benutzen. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass der Bericht vom 21.09.1999 bereits vom Amtsgericht A-Stadt in dessen Beschluss verwertet worden war; dieses Urteil ist wiederum Inhalt der Beklagtenakten geworden, so dass die entsprechenden Befunde und Diagnosen des Klinikums A-Stadt in die Entscheidungsfindung eingeflossen waren.

Spezielle Wiederaufnahmegründe nach § 179 Abs. 2 SGG oder § 180 Abs. 1 oder 2 SGG sind nicht behauptet worden.

Um den Klägerinnen nicht das Gefühl zu vermitteln, ihr Wiederaufnahmebegehren sei nur aus "formalen" Gründen abgelehnt worden, weist der Senat ergänzend darauf hin, dass eine Wiederaufnahmeklage auch unbegründet wäre. Denn ein Restitutionsgrund, für den Vollbeweis notwendig wäre, liegt nicht vor. Die vorgelegten Urkunden sind entweder erst nachträglich erstellt oder aber nicht erst nachträglich aufgefunden worden beziehungsweise verfügbar geworden. Zudem würde das unmittelbare Vorliegen der beiden Arztberichte nicht zu einer für die Klägerinnen günstigeren Entscheidung geführt haben. Denn der bei der Klägerin zu 2 festgestellte Autismus wird dadurch auch nicht im Ansatz in Zweifel gestellt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wurde nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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