Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11/24 V 1857/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 1318/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 6. November 1995 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1926 geborene Kläger hatte als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in Sarajevo (Bosnien-Herzegowina). Seit dem 24. April 1992 lebt der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland (M.) als Kriegsflüchtling.
Erstmals am 17. März 1988 beantragte der Kläger die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, Mitte 1944 durch die Explosion von liegen gelassenem Kriegsmaterial an beiden Armen schwer verletzt worden zu sein. Dies habe sich während Aufräumarbeiten (Zwangsarbeit) ereignet. Er sei deshalb zu 100 % körperbeschädigt und als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatland anerkannt. Er erhalte dementsprechende Versorgung. Hierzu legte er u.a. eine Kopie des Bescheides vom 15. Mai 1987 des Zentrums für die Sozialarbeit in Sarajevo vor, aus der sich die Höhe der zivilen Invaliditätsrente ergibt.
Der Beklagte ermittelte in rechtlicher und medizinischer Hinsicht. Das Hessische Sozialministerium teilte mit Schreiben vom 8. März 1991 mit, daß die Voraussetzungen der §§ 1 bzw. 3 Abs. 1 Buchstabe b BVG als erfüllt anzusehen seien. Mit Bescheid vom 31. Oktober 1991 erkannte der Beklagte als Schädigungsfolge an:
"Verlust beider Arme in den Unterarmen, Narben am Brustkorb, am Bauch, am linken Unterarm sowie an beiden Ober- und Unterschenkeln”
und gewährte Beschädigtenversorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. nebst Schwerbeschädigtenzulage der Stufe I und Pflegezulage der Stufe III mit Wirkung ab 1. März 1988. Zur Begründung führt der Beklagte u.a. aus, daß die Leistung als sogenannte "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.
Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei bereits berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides in der Verantwortung der deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und trug zur Begründung vor, der Beklagte sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß er einen Invalidenrentenanspruch gegenüber seinem Heimatstaat habe. Es sei völlig unklar, welche Staatsangehörigkeit er besitze. Er habe einen erheblichen Zeitraum seines bisherigen Lebens in Bosnien-Herzegowina verbracht, sei jedoch kroatischer Volkszugehörigkeit. Mittlerweile habe er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Mit Widerspruchsbescheid vom 6. Juli 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Das Bundessozialgericht (BSG) habe am 20. Mai 1992 in zwei Urteilen (9 a RV 11/91 und 9 a RV 12/91) entschieden, daß die Einbeziehung nicht deutscher Zivilopfer in die Kriegsopferversorgung nach § 8 BVG nicht erlaubt sei, wenn der Beschädigte bereits einen Anspruch gegen seinen eigenen Staat habe. In diesen Fällen sei die Gewährung einer Zivilopferrente gemäß § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten Leistungen nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Dieser Umstand treffe bei Sozialleistungen vielfach zu und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgeführt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Am 2. August 1993 (Fax) hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung von Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen. Ferner hat er wiederholt, daß seine Staatsangehörigkeit zur Zeit ungeklärt sei und er keinen Anspruch auf Versorgung gegenüber seinem Heimatstaat habe.
Mit Gerichtsbescheid vom 6. November 1995 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Anwendung sachgemäßen Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe seine Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen die gleiche Formulierung benutzt wurde. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden der Urteile des BSG vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren eingeleitet habe und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen wortgleiche Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.
Gegen den am 14. November 1995 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 11. Dezember 1995 Berufung eingelegt.
Der Beklagte trägt vor, im Erstantrag habe der Kläger angegeben, daß er Zivilopferrente im ehemaligen Jugoslawien erhalte. An diesem Stammrecht ändere sich nichts dadurch, daß zur Zeit keine Zahlung erfolge, weil der Kläger als Bürgerkriegsflüchtling vorübergehend in München lebe. Des weiteren komme im vorliegenden Fall hinzu, daß erst nach diversen Unklarheiten der Kläger zum Personenkreis nach § 3 Abs. 1 Buchstabe b BVG gerechnet worden sei. Es sei davon ausgegangen worden, daß er mit Munition für Zwecke der deutschen Wehrmacht in Berührung gekommen sei. Mittlerweile müsse jedoch davon ausgegangen werden, daß der Kläger bei der heimatverteidigenden Einheit des damaligen kroatischen Staates als Kind bzw. Jugendlicher tätig gewesen sei. Aus Zeugenerklärungen ergebe sich, daß der Kläger den Zivilverpflichteten bei den Domobranen zuzuordnen sei. Im übrigen wiederholt der Beklagte seine Ansicht, daß er ordnungsgemäß sein Ermessen ausgeübt habe. Das Ermessen sei im Regelfall auf Null geschrumpft. Dies gelte auch für den vorliegenden Fall. Trotzdem seien tatsächliche Ermessenserwägungen angestellt worden.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 6. November 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger wiederholt im wesentlichen sein bisheriges Vorbringen und ergänzt es dahingehend, daß nicht nachvollziehbar sei, daß die Domobranen gegen die deutschen Truppen gekämpft hätten. Tatsächlich hätten beide auf der gleichen Seite gestanden. Ferner trägt er vor, daß 1994 seine Ehefrau verstorben sei und 1995 seine Tochter nach Neuseeland emigriert sei, so daß er mittlerweile völlig allein und mittellos dastehe.
Mit gerichtlicher Verfügung vom 24. September 1996 wurden die Beteiligten auf die Urteile des Senates vom 14. Dezember 1995 (L-5/V-345/95 und L-5/V-1221/94) in vergleichbaren Fällen hingewiesen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung nach Lage der Akten ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten entscheiden, da beide Beteiligte sich mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§ 151 Abs. 1 und §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 6. November 1995 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 1993 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig und beschweren den Kläger (§ 54 Abs. 2 SGG). Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2–4 SGB X). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. u.a. Hess. Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995, L-5/V-345/95 und L-5/V-1221/94) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig waren. Diese Urteile sind bekannt und der Senat nimmt vollinhaltlich hierauf Bezug.
Dahinstehen kann im vorliegenden Fall, ob der Kläger zu Recht zum Personenkreis nach § 3 Abs. 1 Buchstabe b BVG gerechnet wurde, da die Domobraneneinheiten keine ausländischen "Freiwilligenverbände” im Rahmen der deutschen Wehrmacht waren, sondern nur auf deutscher Seite gekämpft haben. Entscheidend ist vielmehr, daß der Beklagte ein schädigendes Ereignis anerkannt hat. An dieser Anerkennung muß nun festgehalten werden, zumal das schädigende Ereignis selbst nicht Gegenstand der angefochtenen Bescheide ist.
Ferner muß und kann auch dahinstehen, ob im Falle des Klägers überhaupt noch eine Doppelversorgung im Sinne von § 7 Abs. 2 BVG vorliegt. Der Kläger ist zwar als ziviles Kriegsopfer anerkannt worden und erhielt von einem ehemaligen Teilstaat Jugoslawien Versorgungsleistungen; ob er aber noch immer zu einem ausländischen Versorgungssystem gehört, das ihm einen Anspruch auf Versorgung infolge der Verletzung im Zweiten Weltkrieg gewährt, ist zumindest ab 1992 fraglich, weil der Kläger sich nicht mehr in einem der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien aufhält.
Entscheidend ist aber auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, so daß die angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig sind. Der Senat sieht im vorliegenden Fall auch keinen Regelfall, der jegliche Ermessenserwägung der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße Ermessensentscheidung. Der Beklagte hat von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht, denn er hat keine individuelle Ermessensprüfung vorgenommen und die Lebensumstände des Klägers bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Es liegt eine sogenannte Ermessensunterschreitung vor, denn es wurde dieselbe Formulierung für eine Vielzahl von Fällen genutzt. Damit sind die Verhältnisse nur pauschal, nicht aber alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt. Im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt, jedenfalls hätten sie von dem Beklagten ermittelt werden können und müssen. Der Kläger lebte in den Jahren ab 1991 in einem Kriegsgebiet und mußte deshalb auch im Jahre 1992 fliehen. Zum Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung durch den Beklagten hatte der Kläger dies bereits vorgetragen und insbesondere darauf hingewiesen, daß er dringend auf die Rente nach dem BVG angewiesen sei, da diese seine einzige Einnahmequelle darstelle.
Dieser Fall war auch dazu geeignet, eine Ermessensentscheidung dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Ganz unabhängig davon, ob eine solche Entscheidung tatsächlich hätte ergehen können und dürfen, hat der Beklagte auf jeden Fall deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in der Begründung der Bescheide dargelegt hat. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1926 geborene Kläger hatte als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in Sarajevo (Bosnien-Herzegowina). Seit dem 24. April 1992 lebt der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland (M.) als Kriegsflüchtling.
Erstmals am 17. März 1988 beantragte der Kläger die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, Mitte 1944 durch die Explosion von liegen gelassenem Kriegsmaterial an beiden Armen schwer verletzt worden zu sein. Dies habe sich während Aufräumarbeiten (Zwangsarbeit) ereignet. Er sei deshalb zu 100 % körperbeschädigt und als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatland anerkannt. Er erhalte dementsprechende Versorgung. Hierzu legte er u.a. eine Kopie des Bescheides vom 15. Mai 1987 des Zentrums für die Sozialarbeit in Sarajevo vor, aus der sich die Höhe der zivilen Invaliditätsrente ergibt.
Der Beklagte ermittelte in rechtlicher und medizinischer Hinsicht. Das Hessische Sozialministerium teilte mit Schreiben vom 8. März 1991 mit, daß die Voraussetzungen der §§ 1 bzw. 3 Abs. 1 Buchstabe b BVG als erfüllt anzusehen seien. Mit Bescheid vom 31. Oktober 1991 erkannte der Beklagte als Schädigungsfolge an:
"Verlust beider Arme in den Unterarmen, Narben am Brustkorb, am Bauch, am linken Unterarm sowie an beiden Ober- und Unterschenkeln”
und gewährte Beschädigtenversorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. nebst Schwerbeschädigtenzulage der Stufe I und Pflegezulage der Stufe III mit Wirkung ab 1. März 1988. Zur Begründung führt der Beklagte u.a. aus, daß die Leistung als sogenannte "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.
Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei bereits berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides in der Verantwortung der deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und trug zur Begründung vor, der Beklagte sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß er einen Invalidenrentenanspruch gegenüber seinem Heimatstaat habe. Es sei völlig unklar, welche Staatsangehörigkeit er besitze. Er habe einen erheblichen Zeitraum seines bisherigen Lebens in Bosnien-Herzegowina verbracht, sei jedoch kroatischer Volkszugehörigkeit. Mittlerweile habe er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Mit Widerspruchsbescheid vom 6. Juli 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Das Bundessozialgericht (BSG) habe am 20. Mai 1992 in zwei Urteilen (9 a RV 11/91 und 9 a RV 12/91) entschieden, daß die Einbeziehung nicht deutscher Zivilopfer in die Kriegsopferversorgung nach § 8 BVG nicht erlaubt sei, wenn der Beschädigte bereits einen Anspruch gegen seinen eigenen Staat habe. In diesen Fällen sei die Gewährung einer Zivilopferrente gemäß § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten Leistungen nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Dieser Umstand treffe bei Sozialleistungen vielfach zu und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgeführt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Am 2. August 1993 (Fax) hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung von Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen. Ferner hat er wiederholt, daß seine Staatsangehörigkeit zur Zeit ungeklärt sei und er keinen Anspruch auf Versorgung gegenüber seinem Heimatstaat habe.
Mit Gerichtsbescheid vom 6. November 1995 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Anwendung sachgemäßen Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe seine Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen die gleiche Formulierung benutzt wurde. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden der Urteile des BSG vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren eingeleitet habe und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen wortgleiche Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.
Gegen den am 14. November 1995 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 11. Dezember 1995 Berufung eingelegt.
Der Beklagte trägt vor, im Erstantrag habe der Kläger angegeben, daß er Zivilopferrente im ehemaligen Jugoslawien erhalte. An diesem Stammrecht ändere sich nichts dadurch, daß zur Zeit keine Zahlung erfolge, weil der Kläger als Bürgerkriegsflüchtling vorübergehend in München lebe. Des weiteren komme im vorliegenden Fall hinzu, daß erst nach diversen Unklarheiten der Kläger zum Personenkreis nach § 3 Abs. 1 Buchstabe b BVG gerechnet worden sei. Es sei davon ausgegangen worden, daß er mit Munition für Zwecke der deutschen Wehrmacht in Berührung gekommen sei. Mittlerweile müsse jedoch davon ausgegangen werden, daß der Kläger bei der heimatverteidigenden Einheit des damaligen kroatischen Staates als Kind bzw. Jugendlicher tätig gewesen sei. Aus Zeugenerklärungen ergebe sich, daß der Kläger den Zivilverpflichteten bei den Domobranen zuzuordnen sei. Im übrigen wiederholt der Beklagte seine Ansicht, daß er ordnungsgemäß sein Ermessen ausgeübt habe. Das Ermessen sei im Regelfall auf Null geschrumpft. Dies gelte auch für den vorliegenden Fall. Trotzdem seien tatsächliche Ermessenserwägungen angestellt worden.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 6. November 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger wiederholt im wesentlichen sein bisheriges Vorbringen und ergänzt es dahingehend, daß nicht nachvollziehbar sei, daß die Domobranen gegen die deutschen Truppen gekämpft hätten. Tatsächlich hätten beide auf der gleichen Seite gestanden. Ferner trägt er vor, daß 1994 seine Ehefrau verstorben sei und 1995 seine Tochter nach Neuseeland emigriert sei, so daß er mittlerweile völlig allein und mittellos dastehe.
Mit gerichtlicher Verfügung vom 24. September 1996 wurden die Beteiligten auf die Urteile des Senates vom 14. Dezember 1995 (L-5/V-345/95 und L-5/V-1221/94) in vergleichbaren Fällen hingewiesen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung nach Lage der Akten ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten entscheiden, da beide Beteiligte sich mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§ 151 Abs. 1 und §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 6. November 1995 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 1993 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig und beschweren den Kläger (§ 54 Abs. 2 SGG). Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2–4 SGB X). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. u.a. Hess. Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995, L-5/V-345/95 und L-5/V-1221/94) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig waren. Diese Urteile sind bekannt und der Senat nimmt vollinhaltlich hierauf Bezug.
Dahinstehen kann im vorliegenden Fall, ob der Kläger zu Recht zum Personenkreis nach § 3 Abs. 1 Buchstabe b BVG gerechnet wurde, da die Domobraneneinheiten keine ausländischen "Freiwilligenverbände” im Rahmen der deutschen Wehrmacht waren, sondern nur auf deutscher Seite gekämpft haben. Entscheidend ist vielmehr, daß der Beklagte ein schädigendes Ereignis anerkannt hat. An dieser Anerkennung muß nun festgehalten werden, zumal das schädigende Ereignis selbst nicht Gegenstand der angefochtenen Bescheide ist.
Ferner muß und kann auch dahinstehen, ob im Falle des Klägers überhaupt noch eine Doppelversorgung im Sinne von § 7 Abs. 2 BVG vorliegt. Der Kläger ist zwar als ziviles Kriegsopfer anerkannt worden und erhielt von einem ehemaligen Teilstaat Jugoslawien Versorgungsleistungen; ob er aber noch immer zu einem ausländischen Versorgungssystem gehört, das ihm einen Anspruch auf Versorgung infolge der Verletzung im Zweiten Weltkrieg gewährt, ist zumindest ab 1992 fraglich, weil der Kläger sich nicht mehr in einem der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien aufhält.
Entscheidend ist aber auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, so daß die angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig sind. Der Senat sieht im vorliegenden Fall auch keinen Regelfall, der jegliche Ermessenserwägung der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße Ermessensentscheidung. Der Beklagte hat von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht, denn er hat keine individuelle Ermessensprüfung vorgenommen und die Lebensumstände des Klägers bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Es liegt eine sogenannte Ermessensunterschreitung vor, denn es wurde dieselbe Formulierung für eine Vielzahl von Fällen genutzt. Damit sind die Verhältnisse nur pauschal, nicht aber alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt. Im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt, jedenfalls hätten sie von dem Beklagten ermittelt werden können und müssen. Der Kläger lebte in den Jahren ab 1991 in einem Kriegsgebiet und mußte deshalb auch im Jahre 1992 fliehen. Zum Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung durch den Beklagten hatte der Kläger dies bereits vorgetragen und insbesondere darauf hingewiesen, daß er dringend auf die Rente nach dem BVG angewiesen sei, da diese seine einzige Einnahmequelle darstelle.
Dieser Fall war auch dazu geeignet, eine Ermessensentscheidung dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Ganz unabhängig davon, ob eine solche Entscheidung tatsächlich hätte ergehen können und dürfen, hat der Beklagte auf jeden Fall deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in der Begründung der Bescheide dargelegt hat. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
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