Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 1558/94
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 344/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Januar 1995 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
I.
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1937 geborene Kläger ist ausländischer Staatsangehöriger und hat seinen Wohnsitz in der Republik Kroatien, der ehemaligen Teilrepublik der früheren Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ). Er beantragte im Oktober 1988 bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung mit der Begründung, er sei als Kind durch zurückgelassenes Kriegsmaterial am 20. April 1945 verwundet worden und dadurch vollkommen erblindet sowie an seiner linken Hand dauerhaft beschädigt. Er lebe in schlechten materiellen Verhältnissen, er habe weder eine Arbeit als Selbständiger noch als nicht selbständig Beschäftigter und auch keine Einkünfte aus landwirtschaftlichem Besitz. Seinen Lebensunterhalt bestreite er mit Sozialhilfe und einer Rente als Zivilopfer seines Heimatstaates, in dem er als zu 100 % körperbeschädigt anerkannt sei. Der Kläger legte verschiedene Unterlagen und Bescheide vor, u.a. Bescheide über die Bewilligung der Rente als Zivilopfer in Kroatien sowie einen Zahlungsbeleg über diese Rente für den Monat Dezember 1988.
Mit Bescheid vom 11. Juli 1991, abgesandt am 29. Juli 1991, erkannte der Beklagte als Schädigungsfolgen nach dem BVG an,
1) "Verlust des rechten Auges, Erblindung des linken Auges,
2) Verlust des linken Daumens im Grundgelenk, Amputation der Endphalangen der Finger II–IV der linken Hand”
und bewilligte dem Kläger als Kann-Leistung gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. ab dem 1. Oktober 1988 nebst Schwerstbeschädigtenzulage Stufe I und Pflegezulage Stufe III.
Mit Bescheid vom 11. Januar 1993, abgesandt am 11. Januar 1993, hob der Beklagte den Bewilligungsbescheid mit Wirkung ab dem 1. Februar 1993 ohne vorherige Anhörung auf. Zur Begründung führte er aus, der Bewilligungsbescheid vom 11. Juli 1991 sei fehlerhaft. Nach § 7 Abs. 2 BVG sei das BVG nicht auf Kriegsopfer anzuwenden, die wie der Kläger – aus derselben Ursache einen Anspruch auf Versorgung gegen einen anderen Staat besitzen, mit dem keine anderslautende zwischenstaatliche Vereinbarung getroffen wurde. Das Interesse der Allgemeinheit an der Beseitigung des rechtswidrigen Bescheides sei vorliegend höher zu bewerten als das Interesse des Klägers an der Aufrechterhaltung des ihm begünstigenden Bescheides. Zugunsten der Interessen des Klägers sei zwar berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in den Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung falle, daraus ergebe sich jedoch nicht die Schutzwürdigkeit dieses Vertrauens. Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung sei die persönliche Situation des Klägers gewürdigt worden. Die niedrige Höhe der Versorgung in dessen Heimatstaat könne nicht zu einer Ermessensausübung zugunsten des Klägers führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten. Mit seinem Widerspruch vom 8. Februar 1993, eingegangen bei dem Beklagten am 13. Februar 1993, machte der Kläger geltend, die Versorgung als Kriegsopfer nach dem BVG stehe ihm zu nach dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der früheren Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien aus dem Jahre 1968, der weiterhin seine Gültigkeit habe. Außer diesem rechtlichen Aspekt sei in seinem Fall der humanitäre Aspekt in Betracht zu ziehen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994 – einen Nachweis über die Zustellung enthält die Verwaltungsakte des Beklagten nicht – wies der Beklagte den Widerspruch zurück und führte u.a. aus, es sei ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden könne. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer beschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden bei Sozialleistungen vielfach zutreffen und könnten bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Gegen diesen Widerspruchsbescheid hat der Kläger mit Schreiben vom 2. Mai 1994, eingegangen beim Sozialgericht Frankfurt am Main am 10. Mai 1994, Klage erhoben und vorgetragen, die Entziehung der Versorgungsleistungen sei rechtswidrig und habe nicht erfolgen dürfen. Er habe im übrigen keine Finanzmittel mehr und sei sehr krank.
Mit Urteil vom 13. Januar 1995 hat das Sozialgericht den angegriffenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Danach seien die angefochtenen Bescheide jedenfalls schon deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Ausübung sachgerechten Ermessens nicht nachgekommen sei. Der Beklagte habe in seinen Entscheidungen nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Die Formulierungen in den angefochtenen Bescheiden würden vielmehr darauf hinweisen, daß der Beklagte gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern nur Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen die gleiche Formulierung benutzt wurde. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 (Az.: 9 a RV 11/91) Verwaltungsverfahren zur Rücknahme eingeleitet habe und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben.
Gegen das ihm am 20. März 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 30. März 1995 beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X sei im sozialen Entschädigungsrecht wenigstens im Regelfall überhaupt kein Ermessen auszuüben und beruft sich dazu auf die Rechtsprechung des 9. und 9 a Senates des BSG u.a. im Urteil vom 25. Juni 1986 (BSGE Bd. 60, 147). In dem anhängigen Rechtsstreit liege ein klassischer Regelfall vor. Im übrigen ergäbe sich aus dem Text des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegungen miteinbezogen worden seien. Wenn und soweit sich durch die Bürgerkriegsereignisse in dem ehemaligen Jugoslawien die Situation des Klägers weiter verschlechtert haben sollte, so sei auch im Rahmen des Ermessens dies nicht vom Beklagten in der Weise zu vertreten, daß deshalb rechtswidrige Leistungen nach dem BVG weitergezahlt werden müßten.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Januar 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger stützt sich zur Begründung im wesentlichen auf seine Ausführungen im Widerspruchs- und Klageverfahren. Er ist der Auffassung, daß er weiterhin Anspruch auf Versorgungsleistungen nach dem BVG habe und die Entziehung rechtswidrig sei.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten einverstanden erklärt. Durch Verfügung vom 9. September 1997 sind die Beteiligten mit der Möglichkeit zur Stellungnahme darauf hingewiesen worden, daß der Senat die Berufung durch Beschluss zurückweisen kann (§ 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Wegen der weiteren Einzelheiten sowie zum Vorbringen der Beteiligten im übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte (B-Akten des Versorgungsamts AF., Archiv-Nr.: XXXXX) Bezug genommen, die zum Verfahren beigezogen war.
Entscheidungsgründe:
II.
Der Senat konnte über die Berufung, nachdem er den Beteiligten einen entsprechenden Hinweis hat zukommen lassen, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheiden, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat (§ 153 Abs. 4 SGG).
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden sowie statthaft (§ 151 i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 SGG).
Die Berufung ist sachlich jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 13. Januar 1995 den Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Februar 1994 aufgehoben. Wie das Sozialgericht Frankfurt am Main zutreffend ausgeführt hat, sind diese Verwaltungsentscheidungen rechtswidrig und erfüllen nicht die Voraussetzungen des § 45 SGB X für eine Rücknahme, da der Beklagte von dem in dieser Rechtsgrundlage eingeräumten Ermessen nicht sachgerecht Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat und der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Auf das Vertrauen kann sich der Begünstigte (nur dann) nicht berufen, soweit
1) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X).
§ 45 SGB X kommt vorliegend als Rechtsgrundlage grundsätzlich in Betracht, da der dem Kläger Versorgungsleistungen gewährende Bescheid vom 11. Juli 1991 von Anfang an rechtswidrig gewesen ist. Der Kläger bezieht seit 1968 eine Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und ist damit nach § 7 Abs. 2 BVG von Versorgungsleistungen nach dem BVG ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung hierzu entschieden, daß zivilen Kriegsopfern, welche für die im Krieg erlittenen Beschädigungen von ihren Heimatstaaten Leistungen erhalten, eine Versorgungsleistung nach dem BVG auch nicht gemäß § 8 BVG im Rahmen einer Ermessensentscheidung mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit gewährt werden darf. Der Ausschluß von Leistungen nach dem BVG soll nach der Rechtsprechung des BSG auch dann gelten, wenn die Versorgungsleistungen des Heimatlandes im Vergleich zur Versorgung nach deutschem Recht erheblich geringer sind (BSG, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 und 12/91). Maßgeblich ist dabei nur, daß die Geschädigten dem Grunde nach einen Anspruch gegenüber ihrem Heimatstaat haben, unerheblich ist, ob die Geldleistungen auch tatsächlich erbracht werden, auf die die Bürger Anspruch haben (BSG, a.a.O.). Wie dem Senat aus zahlreichen gleichgearteten Fällen bekannt ist, haben zivile Kriegsopfer, wie der Kläger, in Kroatien grundsätzlich auch nach dem Zerfall der früheren SFRJ einen Anspruch auf eine Rente. Die Teilrepublik Kroatien hat insoweit die früher geltenden Rechtsnormen fortbestehen lassen.
Entgegen der Auffassung des Klägers enthält das Sozialversicherungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der früheren SFRJ keine Regelung, die sich auf die Versorgung von Kriegsopfern bezieht und die Anwendung des § 7 Abs. 2 BVG ausschließt.
Vorliegend kann dahinstehen, ob die weiteren in § 45 Abs. 2 bis Abs. 4 SGB X normierten Voraussetzungen vorliegen, von denen die Rechtmäßigkeit einer Rücknahme nach dieser Vorschrift abhängt. Zutreffend hat das Sozialgericht Frankfurt am Main in seinem Urteil vom 13. Januar 1995 festgestellt, daß der angefochtene Rücknahmebescheid wie auch der Widerspruchsbescheid jedenfalls deshalb rechtswidrig sind, weil der Beklagte das in § 45 Abs. 1 SGB X ihm eingeräumte Ermessen nicht in rechtlich einwandfreier Form ausgeübt hat.
Grundsätzlich ist es dem Gericht verwehrt, Ermessensfragen zu prüfen, bevor die richterlich voll nachprüfbaren Voraussetzungen für das Vorliegen bzw. den Wegfall eines Vertrauenstatbestandes nach § 45 Abs. 1 i.V.m. den Abs. 2 bis 4 SGB X erörtert worden sind (vgl. hierzu BSG SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 20). In besonders gelagerten Einzelfällen kann es aber aus prozeßökonomischen Gründen geboten sein, die Sachgerechtigkeit der Ermessensausübung vorab zu prüfen (vgl. Grüner, Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – SGB X, Kommentar, § 45 Erläuterung III/7). Solche prozeßökonomischen Gründe sind hier gegeben. Zwar kann im Hinblick auf die Daten des Erlasses und der Absendung des Bewilligungsbescheides vom 11. Juli 1991 davon ausgegangen werden, daß der Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993, dessen Zugang der Kläger mit seinem Widerspruchsschreiben vom 8. Februar 1993 bestätigt hat, noch innerhalb der dem Beklagten nach § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X eingeräumten Frist von zwei Jahren dem Kläger zugegangen ist. Jede weitere Sachaufklärung über die Lebensumstände des Klägers aber ist schon allein dadurch erschwert, daß der Schriftverkehr mit dem Kläger ins fremdsprachige Ausland geführt werden muß.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X aber "darf” ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Aus dieser Formulierung ergibt sich, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Selbst wenn die Voraussetzungen der Absätze 2 bis 4 von § 45 SGB X gegeben sind – und insoweit eine Rücknahme grundsätzlich in Betracht kommt – steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 Rz/Lw 11/82 – in: SozR 2-1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –). Nur bei wenigen, eingeschränkten Fallkonstellationen, wie beispielsweise betrügerischer Leistungserschleichung, kann davon ausgegangen werden, daß das Ermessen zur Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes derart auf "Null” reduziert ist, daß die Verwaltung nur diese und keine andere Entscheidung treffen kann und darf.
Für den Bereich der Kriegsopferversorgung wird in der Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG – wie die Beklagte zutreffend ausgeführt hat – die Auffassung vertreten, daß "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf Null eintritt und damit weitere Erwägungen der Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens weder erforderlich sind noch dargelegt werden müssen (BSG, Urteil vom 25. Juli 1986 – 9 a RVg 2/94 – in: BSGE 60, 147 ff.). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95 – sowie Urteil vom 12. Juni 1997 – L-5/V-103/95) ausgeführt, daß er sich dieser Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG nicht anschließt und diese nicht zur Grundlage seiner Entscheidung macht.
Jedenfalls für den vorliegenden Fall kann indes dahinstehen, ob der Ansicht des oben genannten Senats des BSG zu folgen ist, denn vorliegend handelt es sich nicht um einen der "üblichen Fälle”, bei denen die Verwaltung des Beklagten auf jegliche Ermessenserwägungen verzichten konnte und auch nicht um einen Fall, bei dem es für die erforderliche Ermessensausübung ausreichend war, lediglich mit floskelhaften, allgemeinen Ausführungen, die jegliches Eingehen auf die persönlichen Umstände des Klägers vermissen lassen, von dem eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen.
Der Senat sieht vorliegend Umstände gegeben, die eine sorgfältige und differenzierte Ermittlung erforderlich machten und nachfolgend daraufhin eine ebensolche Ermessensausübung unerläßlich erscheinen lassen.
Der Kläger lebte zum Zeitpunkt der Rücknahme in einem Teil der ehemaligen SFRJ, in dem Krieg herrschte, bei dem es zu teilweise völkerrechtswidrigen und außerordentlich grausam geführten Maßnahmen der Kriegsparteien kam. Neben weiteren Schädigungsfolgen ist der Kläger insbesondere durch die Schädigungsfolge der Erblindung betroffen. Aus den Unterlagen, die der Kläger anläßlich seines Antrages auf Versorgung im Jahre 1988 bei dem Beklagten eingereicht hat, geht hervor, daß er aufgrund seiner als Kind erlittenen Beschädigung – einen Beruf nicht erlernt hat und sich weder in einem Arbeitsverhältnis befunden noch eine selbständige Tätigkeit ausgeübt hat und auch keine Einkünfte aus landwirtschaftlichem Besitz erzielt. Vor der Bewilligung der Versorgungsleistung nach dem BVG lebte der Kläger nach seinen Angaben von der kroatischen Invalidenrente sowie von Sozialhilfe. Angesichts dieser Umstände ist davon auszugehen, daß der Kläger durch die Entziehung der Versorgungsleistungen nach dem BVG in große Not geraten ist. Im Klageverfahren hat er sich auch darauf berufen, daß er keine Finanzmittel habe und sehr krank sei.
Dieser besonderen Situation ist der Beklagte im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung in den angefochtenen Entscheidungen nicht gerecht geworden. Zu der Rechtskontrolle der Ermessensentscheidung durch das Gericht im Hinblick auf die Einhaltung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens und auf das Gebrauchmachen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise (entsprechend § 39 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – SGB I) gehört die Prüfung, ob die Verwaltung die wesentlichen Umstände ermittelt hat (Meyer-Ladwig, SGG, 5. Auflage 1993, § 54 Rdnr. 29). Zu diesen wesentlichen Umständen gehören die persönlichen und örtlichen Verhältnisse, der Bedarf und die Leistungsfähigkeit des Betroffenen entsprechend dem in § 33 SGB I gesetzten allgemeinen Rahmen sowie alle Härtetatbestände, z.B. auch hohes Alter, psychisches Befinden (Frehse in: VersorgB 1987 S. 31). Diese für die gebotene Ermessensentscheidung im Einzelfall wesentlichen Gesichtspunkte müssen nach § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X in dem Verwaltungsakt auch mitgeteilt werden; nur dann ist eine gerichtliche Überprüfung möglich.
Leerformeln in einem Verwaltungsakt, die inhaltlich nichts aussagen, reichen für die Darlegung der maßgeblichen Ermessensgesichtpunkte nicht aus (BSGE 59, 157 ff.).
Das Sozialgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, daß die vom Beklagten in dem Rücknahmebescheid sowie auch im Widerspruchsbescheid gewählten Formulierungen jegliche Einzelfallbezogenheit vermissen lassen. Vielmehr handelt es sich lediglich um standardisierte leerformelartige Texte, die in keinem Fall geeignet waren und sind, auf die jeweils besondere Lebenslage der im Kriegsgebiet der ehemaligen SFRJ lebenden Leistungsempfänger einzugehen. Das Sozialgericht hat zur Überzeugung des Senats zutreffend ausgeführt, daß die Verfahrensweise des Beklagten – die Verwendung derselben Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Verfahren und in insgesamt rund 300 Verwaltungsverfahren – gerade einen entscheidenden Hinweis darauf geben, daß keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und auch nicht geprüft werden sollten. Die oben geschilderten Umstände im konkreten Fall des Klägers wären aber geeignet gewesen, eine Ermessensentscheidung dahin zu treffen, die dem Kläger gezahlte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Der Beklagte hat jedenfalls deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Härtegesichtspunkte, die sich aus den ihm im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren vorliegenden Unterlagen ergaben, weder weiter aufgeklärt noch in die Entscheidung miteinbezogen hat und auch nicht schriftlich in den Gründen der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen dargelegt hat. Die Berufung war deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
I.
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1937 geborene Kläger ist ausländischer Staatsangehöriger und hat seinen Wohnsitz in der Republik Kroatien, der ehemaligen Teilrepublik der früheren Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ). Er beantragte im Oktober 1988 bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung mit der Begründung, er sei als Kind durch zurückgelassenes Kriegsmaterial am 20. April 1945 verwundet worden und dadurch vollkommen erblindet sowie an seiner linken Hand dauerhaft beschädigt. Er lebe in schlechten materiellen Verhältnissen, er habe weder eine Arbeit als Selbständiger noch als nicht selbständig Beschäftigter und auch keine Einkünfte aus landwirtschaftlichem Besitz. Seinen Lebensunterhalt bestreite er mit Sozialhilfe und einer Rente als Zivilopfer seines Heimatstaates, in dem er als zu 100 % körperbeschädigt anerkannt sei. Der Kläger legte verschiedene Unterlagen und Bescheide vor, u.a. Bescheide über die Bewilligung der Rente als Zivilopfer in Kroatien sowie einen Zahlungsbeleg über diese Rente für den Monat Dezember 1988.
Mit Bescheid vom 11. Juli 1991, abgesandt am 29. Juli 1991, erkannte der Beklagte als Schädigungsfolgen nach dem BVG an,
1) "Verlust des rechten Auges, Erblindung des linken Auges,
2) Verlust des linken Daumens im Grundgelenk, Amputation der Endphalangen der Finger II–IV der linken Hand”
und bewilligte dem Kläger als Kann-Leistung gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. ab dem 1. Oktober 1988 nebst Schwerstbeschädigtenzulage Stufe I und Pflegezulage Stufe III.
Mit Bescheid vom 11. Januar 1993, abgesandt am 11. Januar 1993, hob der Beklagte den Bewilligungsbescheid mit Wirkung ab dem 1. Februar 1993 ohne vorherige Anhörung auf. Zur Begründung führte er aus, der Bewilligungsbescheid vom 11. Juli 1991 sei fehlerhaft. Nach § 7 Abs. 2 BVG sei das BVG nicht auf Kriegsopfer anzuwenden, die wie der Kläger – aus derselben Ursache einen Anspruch auf Versorgung gegen einen anderen Staat besitzen, mit dem keine anderslautende zwischenstaatliche Vereinbarung getroffen wurde. Das Interesse der Allgemeinheit an der Beseitigung des rechtswidrigen Bescheides sei vorliegend höher zu bewerten als das Interesse des Klägers an der Aufrechterhaltung des ihm begünstigenden Bescheides. Zugunsten der Interessen des Klägers sei zwar berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in den Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung falle, daraus ergebe sich jedoch nicht die Schutzwürdigkeit dieses Vertrauens. Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung sei die persönliche Situation des Klägers gewürdigt worden. Die niedrige Höhe der Versorgung in dessen Heimatstaat könne nicht zu einer Ermessensausübung zugunsten des Klägers führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten. Mit seinem Widerspruch vom 8. Februar 1993, eingegangen bei dem Beklagten am 13. Februar 1993, machte der Kläger geltend, die Versorgung als Kriegsopfer nach dem BVG stehe ihm zu nach dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der früheren Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien aus dem Jahre 1968, der weiterhin seine Gültigkeit habe. Außer diesem rechtlichen Aspekt sei in seinem Fall der humanitäre Aspekt in Betracht zu ziehen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994 – einen Nachweis über die Zustellung enthält die Verwaltungsakte des Beklagten nicht – wies der Beklagte den Widerspruch zurück und führte u.a. aus, es sei ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden könne. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer beschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden bei Sozialleistungen vielfach zutreffen und könnten bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Gegen diesen Widerspruchsbescheid hat der Kläger mit Schreiben vom 2. Mai 1994, eingegangen beim Sozialgericht Frankfurt am Main am 10. Mai 1994, Klage erhoben und vorgetragen, die Entziehung der Versorgungsleistungen sei rechtswidrig und habe nicht erfolgen dürfen. Er habe im übrigen keine Finanzmittel mehr und sei sehr krank.
Mit Urteil vom 13. Januar 1995 hat das Sozialgericht den angegriffenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Danach seien die angefochtenen Bescheide jedenfalls schon deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Ausübung sachgerechten Ermessens nicht nachgekommen sei. Der Beklagte habe in seinen Entscheidungen nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Die Formulierungen in den angefochtenen Bescheiden würden vielmehr darauf hinweisen, daß der Beklagte gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern nur Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen die gleiche Formulierung benutzt wurde. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 (Az.: 9 a RV 11/91) Verwaltungsverfahren zur Rücknahme eingeleitet habe und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben.
Gegen das ihm am 20. März 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 30. März 1995 beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X sei im sozialen Entschädigungsrecht wenigstens im Regelfall überhaupt kein Ermessen auszuüben und beruft sich dazu auf die Rechtsprechung des 9. und 9 a Senates des BSG u.a. im Urteil vom 25. Juni 1986 (BSGE Bd. 60, 147). In dem anhängigen Rechtsstreit liege ein klassischer Regelfall vor. Im übrigen ergäbe sich aus dem Text des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegungen miteinbezogen worden seien. Wenn und soweit sich durch die Bürgerkriegsereignisse in dem ehemaligen Jugoslawien die Situation des Klägers weiter verschlechtert haben sollte, so sei auch im Rahmen des Ermessens dies nicht vom Beklagten in der Weise zu vertreten, daß deshalb rechtswidrige Leistungen nach dem BVG weitergezahlt werden müßten.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Januar 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger stützt sich zur Begründung im wesentlichen auf seine Ausführungen im Widerspruchs- und Klageverfahren. Er ist der Auffassung, daß er weiterhin Anspruch auf Versorgungsleistungen nach dem BVG habe und die Entziehung rechtswidrig sei.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten einverstanden erklärt. Durch Verfügung vom 9. September 1997 sind die Beteiligten mit der Möglichkeit zur Stellungnahme darauf hingewiesen worden, daß der Senat die Berufung durch Beschluss zurückweisen kann (§ 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Wegen der weiteren Einzelheiten sowie zum Vorbringen der Beteiligten im übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte (B-Akten des Versorgungsamts AF., Archiv-Nr.: XXXXX) Bezug genommen, die zum Verfahren beigezogen war.
Entscheidungsgründe:
II.
Der Senat konnte über die Berufung, nachdem er den Beteiligten einen entsprechenden Hinweis hat zukommen lassen, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheiden, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat (§ 153 Abs. 4 SGG).
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden sowie statthaft (§ 151 i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 SGG).
Die Berufung ist sachlich jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 13. Januar 1995 den Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Februar 1994 aufgehoben. Wie das Sozialgericht Frankfurt am Main zutreffend ausgeführt hat, sind diese Verwaltungsentscheidungen rechtswidrig und erfüllen nicht die Voraussetzungen des § 45 SGB X für eine Rücknahme, da der Beklagte von dem in dieser Rechtsgrundlage eingeräumten Ermessen nicht sachgerecht Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat und der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Auf das Vertrauen kann sich der Begünstigte (nur dann) nicht berufen, soweit
1) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X).
§ 45 SGB X kommt vorliegend als Rechtsgrundlage grundsätzlich in Betracht, da der dem Kläger Versorgungsleistungen gewährende Bescheid vom 11. Juli 1991 von Anfang an rechtswidrig gewesen ist. Der Kläger bezieht seit 1968 eine Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und ist damit nach § 7 Abs. 2 BVG von Versorgungsleistungen nach dem BVG ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung hierzu entschieden, daß zivilen Kriegsopfern, welche für die im Krieg erlittenen Beschädigungen von ihren Heimatstaaten Leistungen erhalten, eine Versorgungsleistung nach dem BVG auch nicht gemäß § 8 BVG im Rahmen einer Ermessensentscheidung mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit gewährt werden darf. Der Ausschluß von Leistungen nach dem BVG soll nach der Rechtsprechung des BSG auch dann gelten, wenn die Versorgungsleistungen des Heimatlandes im Vergleich zur Versorgung nach deutschem Recht erheblich geringer sind (BSG, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 und 12/91). Maßgeblich ist dabei nur, daß die Geschädigten dem Grunde nach einen Anspruch gegenüber ihrem Heimatstaat haben, unerheblich ist, ob die Geldleistungen auch tatsächlich erbracht werden, auf die die Bürger Anspruch haben (BSG, a.a.O.). Wie dem Senat aus zahlreichen gleichgearteten Fällen bekannt ist, haben zivile Kriegsopfer, wie der Kläger, in Kroatien grundsätzlich auch nach dem Zerfall der früheren SFRJ einen Anspruch auf eine Rente. Die Teilrepublik Kroatien hat insoweit die früher geltenden Rechtsnormen fortbestehen lassen.
Entgegen der Auffassung des Klägers enthält das Sozialversicherungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der früheren SFRJ keine Regelung, die sich auf die Versorgung von Kriegsopfern bezieht und die Anwendung des § 7 Abs. 2 BVG ausschließt.
Vorliegend kann dahinstehen, ob die weiteren in § 45 Abs. 2 bis Abs. 4 SGB X normierten Voraussetzungen vorliegen, von denen die Rechtmäßigkeit einer Rücknahme nach dieser Vorschrift abhängt. Zutreffend hat das Sozialgericht Frankfurt am Main in seinem Urteil vom 13. Januar 1995 festgestellt, daß der angefochtene Rücknahmebescheid wie auch der Widerspruchsbescheid jedenfalls deshalb rechtswidrig sind, weil der Beklagte das in § 45 Abs. 1 SGB X ihm eingeräumte Ermessen nicht in rechtlich einwandfreier Form ausgeübt hat.
Grundsätzlich ist es dem Gericht verwehrt, Ermessensfragen zu prüfen, bevor die richterlich voll nachprüfbaren Voraussetzungen für das Vorliegen bzw. den Wegfall eines Vertrauenstatbestandes nach § 45 Abs. 1 i.V.m. den Abs. 2 bis 4 SGB X erörtert worden sind (vgl. hierzu BSG SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 20). In besonders gelagerten Einzelfällen kann es aber aus prozeßökonomischen Gründen geboten sein, die Sachgerechtigkeit der Ermessensausübung vorab zu prüfen (vgl. Grüner, Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – SGB X, Kommentar, § 45 Erläuterung III/7). Solche prozeßökonomischen Gründe sind hier gegeben. Zwar kann im Hinblick auf die Daten des Erlasses und der Absendung des Bewilligungsbescheides vom 11. Juli 1991 davon ausgegangen werden, daß der Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993, dessen Zugang der Kläger mit seinem Widerspruchsschreiben vom 8. Februar 1993 bestätigt hat, noch innerhalb der dem Beklagten nach § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X eingeräumten Frist von zwei Jahren dem Kläger zugegangen ist. Jede weitere Sachaufklärung über die Lebensumstände des Klägers aber ist schon allein dadurch erschwert, daß der Schriftverkehr mit dem Kläger ins fremdsprachige Ausland geführt werden muß.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X aber "darf” ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Aus dieser Formulierung ergibt sich, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Selbst wenn die Voraussetzungen der Absätze 2 bis 4 von § 45 SGB X gegeben sind – und insoweit eine Rücknahme grundsätzlich in Betracht kommt – steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 Rz/Lw 11/82 – in: SozR 2-1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –). Nur bei wenigen, eingeschränkten Fallkonstellationen, wie beispielsweise betrügerischer Leistungserschleichung, kann davon ausgegangen werden, daß das Ermessen zur Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes derart auf "Null” reduziert ist, daß die Verwaltung nur diese und keine andere Entscheidung treffen kann und darf.
Für den Bereich der Kriegsopferversorgung wird in der Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG – wie die Beklagte zutreffend ausgeführt hat – die Auffassung vertreten, daß "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf Null eintritt und damit weitere Erwägungen der Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens weder erforderlich sind noch dargelegt werden müssen (BSG, Urteil vom 25. Juli 1986 – 9 a RVg 2/94 – in: BSGE 60, 147 ff.). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95 – sowie Urteil vom 12. Juni 1997 – L-5/V-103/95) ausgeführt, daß er sich dieser Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG nicht anschließt und diese nicht zur Grundlage seiner Entscheidung macht.
Jedenfalls für den vorliegenden Fall kann indes dahinstehen, ob der Ansicht des oben genannten Senats des BSG zu folgen ist, denn vorliegend handelt es sich nicht um einen der "üblichen Fälle”, bei denen die Verwaltung des Beklagten auf jegliche Ermessenserwägungen verzichten konnte und auch nicht um einen Fall, bei dem es für die erforderliche Ermessensausübung ausreichend war, lediglich mit floskelhaften, allgemeinen Ausführungen, die jegliches Eingehen auf die persönlichen Umstände des Klägers vermissen lassen, von dem eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen.
Der Senat sieht vorliegend Umstände gegeben, die eine sorgfältige und differenzierte Ermittlung erforderlich machten und nachfolgend daraufhin eine ebensolche Ermessensausübung unerläßlich erscheinen lassen.
Der Kläger lebte zum Zeitpunkt der Rücknahme in einem Teil der ehemaligen SFRJ, in dem Krieg herrschte, bei dem es zu teilweise völkerrechtswidrigen und außerordentlich grausam geführten Maßnahmen der Kriegsparteien kam. Neben weiteren Schädigungsfolgen ist der Kläger insbesondere durch die Schädigungsfolge der Erblindung betroffen. Aus den Unterlagen, die der Kläger anläßlich seines Antrages auf Versorgung im Jahre 1988 bei dem Beklagten eingereicht hat, geht hervor, daß er aufgrund seiner als Kind erlittenen Beschädigung – einen Beruf nicht erlernt hat und sich weder in einem Arbeitsverhältnis befunden noch eine selbständige Tätigkeit ausgeübt hat und auch keine Einkünfte aus landwirtschaftlichem Besitz erzielt. Vor der Bewilligung der Versorgungsleistung nach dem BVG lebte der Kläger nach seinen Angaben von der kroatischen Invalidenrente sowie von Sozialhilfe. Angesichts dieser Umstände ist davon auszugehen, daß der Kläger durch die Entziehung der Versorgungsleistungen nach dem BVG in große Not geraten ist. Im Klageverfahren hat er sich auch darauf berufen, daß er keine Finanzmittel habe und sehr krank sei.
Dieser besonderen Situation ist der Beklagte im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung in den angefochtenen Entscheidungen nicht gerecht geworden. Zu der Rechtskontrolle der Ermessensentscheidung durch das Gericht im Hinblick auf die Einhaltung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens und auf das Gebrauchmachen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise (entsprechend § 39 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – SGB I) gehört die Prüfung, ob die Verwaltung die wesentlichen Umstände ermittelt hat (Meyer-Ladwig, SGG, 5. Auflage 1993, § 54 Rdnr. 29). Zu diesen wesentlichen Umständen gehören die persönlichen und örtlichen Verhältnisse, der Bedarf und die Leistungsfähigkeit des Betroffenen entsprechend dem in § 33 SGB I gesetzten allgemeinen Rahmen sowie alle Härtetatbestände, z.B. auch hohes Alter, psychisches Befinden (Frehse in: VersorgB 1987 S. 31). Diese für die gebotene Ermessensentscheidung im Einzelfall wesentlichen Gesichtspunkte müssen nach § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X in dem Verwaltungsakt auch mitgeteilt werden; nur dann ist eine gerichtliche Überprüfung möglich.
Leerformeln in einem Verwaltungsakt, die inhaltlich nichts aussagen, reichen für die Darlegung der maßgeblichen Ermessensgesichtpunkte nicht aus (BSGE 59, 157 ff.).
Das Sozialgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, daß die vom Beklagten in dem Rücknahmebescheid sowie auch im Widerspruchsbescheid gewählten Formulierungen jegliche Einzelfallbezogenheit vermissen lassen. Vielmehr handelt es sich lediglich um standardisierte leerformelartige Texte, die in keinem Fall geeignet waren und sind, auf die jeweils besondere Lebenslage der im Kriegsgebiet der ehemaligen SFRJ lebenden Leistungsempfänger einzugehen. Das Sozialgericht hat zur Überzeugung des Senats zutreffend ausgeführt, daß die Verfahrensweise des Beklagten – die Verwendung derselben Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Verfahren und in insgesamt rund 300 Verwaltungsverfahren – gerade einen entscheidenden Hinweis darauf geben, daß keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und auch nicht geprüft werden sollten. Die oben geschilderten Umstände im konkreten Fall des Klägers wären aber geeignet gewesen, eine Ermessensentscheidung dahin zu treffen, die dem Kläger gezahlte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Der Beklagte hat jedenfalls deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Härtegesichtspunkte, die sich aus den ihm im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren vorliegenden Unterlagen ergaben, weder weiter aufgeklärt noch in die Entscheidung miteinbezogen hat und auch nicht schriftlich in den Gründen der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen dargelegt hat. Die Berufung war deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
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