L 6 Kg 958/94

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 17/12 Kg 1516/92
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 Kg 958/94
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 31. August 1994 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger für die Zeit von April 1993 bis Dezember 1993 Kindergeld zusteht.

Der Kläger ist Bürgerkriegsflüchtling aus Bosnien-Herzegowina, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Er ist seit 1979 verheiratet. Am 13. April 1992 reiste er mit seiner Ehefrau und seinen Kindern B. (geb. 1980) und B. (geb. 1983) in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er seither lebt.

Dem Kläger wurde erstmals am 15. Mai 1992 vom Landrat des W.kreises eine Duldungsbestätigung nach Maßgabe des Erlasses des Hessisches Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten vom 7. Mai 1992 (unveröffentlicht; Az.: Az II A 51-23 d) erteilt. Mit diesem Erlaß wurde die Abschiebung von Personen aus Bosnien-Herzegowina gem. § 54 Ausländergesetz (AuslG) ausgesetzt, die Duldung des Aufenthaltes nach §§ 55, 56 AuslG angeordnet und die nachgeordneten Behörden angewiesen, der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nicht zu entsprechen.

Die zunächst bis zum 7. November 1992 gültige Duldung wurde gegenüber dem Kläger, gerechnet vom jeweiligen Antragsdatum, sukzessive für jeweils sechs Monate bis zum 30. September 1995 verlängert. Anschließend erhielt der Kläger am 28. August 1995 eine bis zum 27. August 1996 gültige Aufenthaltsbefugnis. Die Verlängerung der Duldung beruht jeweils auf einer Verlängerung der zugrundeliegenden ministeriellen Erlasse (zuletzt Erlaß des Hessischen Ministeriums des Innern und für Landwirtschaft, Forsten und Naturschutz v. 19.12.1995). Letztmalig während des streitbefangenen Zeitraums war die Anordnung der Verlängerung von Duldungen gegenüber Personen aus Bosnien-Herzegowina durch Erlaß des Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten vom 22. September 1993 angeordnet worden.

Während des streitbefangenen Zeitraums standen sowohl der Kläger als auch dessen Ehefrau in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, für die Arbeitserlaubnisse der zuständigen Arbeitsämter vorlagen. Für das ausschließlich aus nichtselbständiger Arbeit erzielte Einkommen der Eheleute P. wurde für das Jahr 1993 vom Finanzamt B. v.d.H. durch Bescheid vom 12. Dezember 1994 unter Einräumung zweier Kinderfreibeträge von insgesamt 8.208,– DM eine Einkommensteuer in Höhe von 5.594,– DM festgesetzt.

Am 24. Juli 1992 beantragte der Kläger die Gewährung von Kindergeld für seine Kinder B. und B. Durch Bescheid vom 8. August 1992 wurde dieser Antrag abgelehnt. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 19. November 1992 zurückgewiesen. Zur Begründung führte die Beklagte aus, der Anspruch des Klägers scheitere daran, daß dieser nicht über den nach § 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) erforderlichen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes verfüge. Der nur geduldete Aufenthalt rechtfertige die Annahme eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes wegen seines zeitlich befristeten Charakters grundsätzlich nicht, und zwar unabhängig davon, wie lange dieser Aufenthalt tatsächlich andauere. Anders sei dies nur bei Bürgerkriegsflüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina, die auf der Grundlage des Beschlusses der Konferenz der Innenminister des Bundes und der Länder vom 21. Juli 1992 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist seien. Diese Flüchtlinge erhielten von den Ausländerbehörden der Länder eine im Regelfall zunächst auf ein halbes Jahr befristete Aufenthaltsbefugnis. Bei diesem Personenkreis könne aufgrund der besonderen Umstände bei der Einreise davon ausgegangen werden, daß diese für die Dauer der Aufenthaltsbefugnis ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hätten. Personen ohne diese Aufenthaltsbefugnis aus dem ehemaligen Jugoslawien blieben von dieser Regelung jedoch unberührt. Der Kläger gehöre jedoch nicht zum Personenkreis, der im Beschluss der Konferenz der Innenminister des Bundes und der Länder vom 21. Juli 1992 angesprochen sei.

Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Gießen die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 8. August 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 1992 verurteilt, dem Kläger für die Zeit von April 1993 bis Dezember 1993 für seine zwei Kinder Kindergeld zu gewähren. Die weitergehende Klage hat das Sozialgericht abgewiesen.

Soweit das Sozialgericht der Klage stattgegeben hat, hat es die Auffassung vertreten, der Kläger gehöre zum Personenkreis des § 1 Abs. 3 BKGG in der bis zum 31. Dezember 1993 maßgeblichen Fassung (a.F.). Er verfüge über keine Aufenthaltsgenehmigung, habe aber die Mindestwartefrist von einem Jahr erfüllt und könne im Sinne von § 1 Abs. 3 BKGG a.F. auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden.

Die Voraussetzung, wonach ein Ausländer auf unbestimmte Zeiten nicht abgeschoben werden könne, sei dann erfüllt, wenn es bei einer vorausschauenden Betrachtungsweise zeitlich nicht absehbar sei, wann eine Abschiebung zulässig sein könnte. Dieses Ergebnis lasse sich im vorliegenden Fall daraus ableiten, daß die Duldung des Klägers über den 7. November 1992 hinaus zunächst bis 31. März 1993, dann bis 31. März 1994 und jetzt bis 30. September 1994 immer wieder verlängert worden sei. Zwar spreche gegen eine Nichtabschiebung auf unbestimmte Zeit, daß jede einzelne Duldung befristet gewesen sei. Insgesamt gesehen habe es sich jedoch nicht nur um einen vorübergehenden Aufenthalt gehandelt, wie er im Wortlaut des § 56 Ausländergesetz zum Ausdruck komme. Bei einer derartigen Folge von "Ketten-Duldungen” verliere die Befristung der einzelnen Duldung an Bedeutung, ähnlich wie bei Ketten-Arbeitsverträgen. Sie werde zu einem reinen Formalakt ohne bzw. mit geringer Bedeutung für das praktische Leben. Dafür, daß der Kläger auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werde, sprächen außerdem seine Integration in die Bundesrepublik Deutschland durch seine Erwerbstätigkeit und den Schulbesuch der Kinder sowie die Verhältnisse in Bosnien-Herzegowina und anderen Teilen des früheren Jugoslawien. Diese seien dadurch gekennzeichnet, daß der Bürgerkrieg seit nahezu drei Jahren andauere und trotz verschiedener Bemühungen einzelner Staaten und Staatengemeinschaften ein Ende nach wie vor nicht absehbar sei. Für ein dauerhaftes Verbleiben des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland spreche auch die hier verfolgte Ausländerpolitik, die den Status verschiedener Einwanderergruppen immer wieder nach einer gewissen Zeit durch Altfallregelungen verfestigt und bestätigt habe. Prognostiziere man dies in die Zukunft, müsse davon ausgegangen werden, daß der Kläger auf immer in Deutschland bleiben könne.

Gegen das der Beklagten am 15. September 1994 zugestellte Urteil richtet sich die am 12. Oktober 1994 eingegangene Berufung. Die Beklagte vertritt die Auffassung, trotz Erfüllung der einjährigen Wartezeit nach § 1 Abs. 3 BKGG a.F. seien die Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch auf Kindergeld nicht gegeben. Denn es könne nicht davon ausgegangen werden, daß der Kläger auf unbestimmte Zeiten nicht abgeschoben werden könne. Das Sozialgericht verkenne insoweit den Rechtscharakter einer Duldung. So könne nach § 54 AuslG die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, daß die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein, oder in bestimmte Staaten, für die Dauer von längstens sechs Monaten ausgesetzt werde. Solle die Abschiebung für länger als sechs Monate ausgesetzt werden, bedürfe die Anordnung des Einvernehmens mit dem Bundesminister des Innern. Einem Ausländer werde eine Duldung erteilt, solange seine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich sei oder nach § 53 Abs. 6 oder § 54 AuslG ausgesetzt werden solle. Eine Duldung könne erteilt werden, solange der Ausländer nicht unanfechtbar ausreisepflichtig sei oder wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erforderten. Die Ausreisepflicht eines geduldeten Ausländers bleibe nach § 56 Abs. 1 AuslG unberührt.

Für Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina, die nur eine Duldung besäßen, bestehe nach § 54 Ausländergesetz ein befristeter Abschiebungsstop. Da diesen Personen selbst bei einer erneuten Verlängerung des Abschiebestops kein Daueraufenthaltsrecht eingeräumt werden solle, sondern der Aufenthalt lediglich für die Zeit des Bürgerkrieges geduldet werde, erfüllten sie nicht die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 BKGG a.F. Daran ändere auch nichts die Tatsache, daß die Duldung im Einzelfall immer wieder verlängert werde. Denn die Duldung räume nur ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht ein.

Der Ausschluß des Klägers von der Anspruchsberechtigung entspreche auch dem gesetzgeberischen Willen, nämlich den Anspruch auf Kindergeld auf Personen zu begrenzen, die im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hätten. Ausländer könnten einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet nur begründen, wenn ihrer Absicht, sich auf längere Zeit im Bundesgebiet aufzuhalten, keine ausländerrechtlichen Bestimmungen entgegenstünden. Zur Begründung eines rechtmäßigen Aufenthalts aber bedürften sie einer Aufenthaltsgenehmigung, die als Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsberechtigung, Aufenthaltsbewilligung oder Aufenthaltsbefugnis erteilt werden könne. Diesen Formen der Aufenthaltsgenehmigung sei gemeinsam, daß sie einen ausländerrechtlich erlaubten Aufenthalt bewirkte. Bei dem nur geduldeten Aufenthalt sei dies dagegen nicht der Fall. Der zeitlich befristete Charakter der Duldung sowie der Umstand, daß der Ausländer weiterhin der Ausreisepflicht unterliege, könne nicht zur Begründung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes führen, unabhängig davon, wie lange der Aufenthalt tatsächlich andauere (Hinweis auf BSG, Urteil vom 15.6.1982 – 10 RKg 26/81 = SozR 5870 § 1 Nr. 10). Für diesen Personenkreis enthalte § 1 Abs. 3 BKGG a.F. eine Ausnahmeregelung, wonach auch ohne Aufenthaltsgenehmigung ein Anspruch auf Kindergeld bestehen könne, wenn nach dem Ausländerrecht eine Abschiebung auf unbestimmte Zeit nicht erfolgen könne. Anspruchsberechtigt seien Ausländer danach aber nur, wenn sie sich unter Umständen in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, die erkennen ließen, daß sie nicht nur vorübergehend hier verweilten. Dies müsse von der zuständigen Ausländerbehörde bescheinigt werden. Aus der dem Sozialgericht vom Landrat des W.kreises unter dem 3. März 1994 erteilten Auskunft könne dies jedoch nicht entnommen werden. Aus dieser Auskunft gehe zwar hervor, daß der Kläger wegen der Bürgerkriegsverhältnisse zur Zeit nicht in seinen Heimatstaat abgeschoben werden könne. Ob es sich insoweit um einen Ausschluß der Abschiebung auf unbestimmte Zeit handele, sei der erteilten Auskunft indes nicht zu entnehmen. Ähnlich wie bei kroatischen Flüchtlingen habe auch beim Kläger kein Daueraufenthaltsrecht begründet werden sollen, was ggfs. durch eine ergänzende Auskunft der Ausländerbehörde bestätigt werden könne. Die bislang ausgesprochenen Befristungen bei der Aussetzung könnten jedenfalls nicht als bloße Formalie angesehen werden, die im Rahmen der Beurteilung der Frage des Wohnsitzes bzw. gewöhnlichen Aufenthaltes ohne Bedeutung seien.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 31. August 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger hält die sozialgerichtliche Entscheidung für zutreffend. Hinsichtlich des Begriffs des Abschiebeverbots auf unbestimmte Dauer in § 1 Abs. 3 BKGG vertritt der Kläger die Auffassung, es sei auf die "voraussehbare Dauer” des Aufenthalts abzustellen, wobei sich diese vornehmlich nach den tatsächlichen Verhältnissen richte. Die tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere das seit mehreren Jahren bestehende ungekündigte Arbeitsverhältnis, die Schulbesuche der Kinder und das Eingehen eines unbefristeten Wohnraum-Mietverhältnisses ließen unzweifelhaft erkennen, daß er hier nicht nur vorübergehend verweile. Dafür sprächen auch die Verhältnisse in Bosnien-Herzegowina, sein durch den Bürgerkrieg zerbombtes Haus und der Einberufungsbescheid, dem er keine Folge geleistet habe. Ungeachtet der Befristungen der einzelnen Duldungen habe sich diese durch die jeweilige Verlängerung verfestigt und führe im Sinne von § 1 Abs. 3 BKGG a.F. zu einem Aufenthalt auf unbestimmte Zeit.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird im übrigen auf den gesamten weiteren Inhalt der Gerichtsakte, die beigezogene Ausländerakte des Landrates des W.kreises (AZR-Nr. ) sowie die beigezogene Kindergeldakte der Beklagten (KGNr. XXXXX) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Abs. 1 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Dem Kläger steht für den zuletzt noch streitbefangenen Zeitraum von April 1993 bis Dezember 1993 für seine Kinder Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu.

I.
1) Anspruch auf Kindergeld für seine Kinder hat nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 BKGG nur, wer im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetztes einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Für ausländische Staatsangehörige bestimmt § 1 Abs. 3 BKGG in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I, S. 1354), daß Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhalten, einen Anspruch auf Kindergeld nur haben, wenn sie nach den §§ 51, 53 oder 54 des Ausländergesetzes (AuslG) auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden können, frühestens jedoch für die Zeit nach einem gestatteten oder geduldeten ununterbrochenen Aufenthalt von einem Jahr.

Diese zu einer Anspruchsbegründung führenden Tatbestandsvoraussetzungen liegen beim Kläger vor.

Nach der Rechtsprechung des für das Kindergeld zuständigen 10. Senats des Bundessozialgerichts ist zur Feststellung, ob bei ausländischen Staatsangehörigen, die sich ohne ein "formelles” Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, ein Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne von § 30 Abs. 3 Sozialgesetzbuch I (SGB I) vorliegt, darauf abzustellen, ob im Wege der Prognoseentscheidung aufgrund der tatsächlichen Verwaltungsgepflogenheiten der zuständigen Behörden davon ausgegangen werden kann, der ausländische Staatsangehörige werde auf unbestimmte Zeit in der Bundesrepublik Deutschland verbleiben (BSG, Urteil vom 12.12.1995 – 10 RKg 7/95 m.w.N.). In Abgrenzung dazu muß von einem nur vorübergehenden Aufenthalt, der nicht zur Begründung eines Wohnsitzes bzw. gewöhnlichen Aufenthalts führt, dann ausgegangen werden, wenn mit einem baldigen, jedenfalls zeitlich absehbaren Aufenthaltswechsel gerechnet werden muß. Für die Annahme eines Aufenthalts auf unbestimmte Dauer ist demnach nicht erforderlich, daß der Aufenthalt von vorneherein auf eine unbegrenzte Dauer (vgl. dazu BSG, Urteil vom 09.08.1995 – 13 RJ 59/93) angelegt ist, also voraussichtlich über mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte andauern muß; eine solche Anforderung an die Aufenthaltsdauer müßte nämlich dazu führen, daß z.B. auch bei auswanderungswilligen deutschen Staatsangehörigen – in den Jahren 1992 und 1993 waren dies jährlich immerhin jeweils nahezu 87.000 Menschen (vgl. Statistische Jahrbücher für die Bundesrepublik Deutschland 1994, S. 90; 1995, S. 82) – stets geprüft werden müßte, ob etwa eine solche Auswanderungsabsicht besteht, mit der Folge, daß ab dem Zeitpunkt des Aufkommens dieser Absicht ein Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt in Wegfall kommen würde. Eine solche Überprüfung ist nach Meinung des Senats indes nicht erforderlich. Für das Moment der Dauerhaftigkeit ist vielmehr ausreichend, daß innerhalb eines überschaubaren Zeitraums der Aufenthalt des ausländischen Staatsangehörigen so gesichert ist, daß er nicht mit einer ihm aufgezwungenen Änderung seiner aufenthaltsrechtlichen Situation rechnen muß.

Diese Voraussetzungen sind beim Kläger erfüllt. Dies ergibt sich zum einen aus dem Inhalt der ihm erteilten Duldung, die anders als dies zum Beispiel bei Asylantragstellern der Fall ist, nicht unter einer auflösenden Bedingung steht. Sie führt nämlich – sieht man von den Möglichkeiten der Abschiebung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung insbesondere nach § 47 AuslG, die es bei jeder Art des aufenthaltsrechtlichen Status gibt, ab – zu einem rechtlich gesicherten Aufenthalt während ihrer jeweiligen Dauer nach Maßgabe der einschlägigen ministeriellen Erlasse.

Dieser sichere Aufenthaltsstatus kommt auch in der vom zuständigen Landrat des W.kreises gegenüber dem Sozialgericht unter dem 3. März 1994 erteilten Auskunft zum Ausdruck, in der bestätigt wird, daß (auch) gegenüber dem Kläger keine Abschiebemaßnahmen innerhalb der jeweiligen Duldungszeiträume ergriffen werden.

Daß die jeweiligen ministeriellen Erlasse zeitlich befristet waren (und auch heute noch sind), steht der Annahme der unbestimmten Zeitdauer des Aufenthalts des Klägers nicht entgegen. Der Senat teilt insoweit allerdings nicht die Auffassung des Sozialgerichts, wonach die mehrfache Verlängerung des Abschiebestopps für Kriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina zu "Ketten-Duldungen” führe, und daraus auf die Dauerhaftigkeit des von diesen Duldungen getroffenen Personenkreises geschlossen werden könne. Nicht die mehrfache Verlängerung der Duldungen an sich ist das entscheidende Kriterium, sondern der Umstand, daß diese nicht auf eine Beendigung angelegt, sondern zukunftsoffen (zur "Zukunftsoffenheit” des Aufenthalts vgl. insoweit BSG, Urt. vom 30.9.1993 – 4 RA 49/92 = SozR 3 6710 Art. 1 Nr. 1, Urt. vom 9.5.1995 – 8 RKn 11/94, Urt. 9.8.1995 – 13 RJ 59/93 = SozR 3 1200 § 30 Nr. 15) sind. Dem entspricht der Inhalt der ergangenen ministeriellen Erlasse, die ausdrücklich nicht vorsehen, daß nach Ablauf der jeweils maßgeblichen Sechsmonatsfrist nunmehr aufenthaltsbeendende Maßnahmen ergriffen werden sollen. Die durch die ministeriellen Erlasse eingeräumte "Bleibemöglichkeit” (vgl. insoweit Ziff. 6 des Beschlusses der Innenministerkonferenz vom 22.5.1992) führt im Ergebnis so zu einer stärkeren Rechtsposition, als – jedenfalls für die gesamte Dauer des vorliegend streitbefangenen Zeitraums – weder von der Innenministerkonferenz noch von den insoweit zuständigen Länder-Innenministern konkrete Rückführungsmaßnahmen in Aussicht genommen worden sind.

Deshalb kommt es nach Auffassung des Senats auch nicht darauf an, ob ein "unbefristeter” Abschiebestopp nach Herstellung des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern gem. § 54 Satz 2 AuslG überhaupt durch die zuständige oberste Landesbehörde angeordnet werden kann, oder ob auch Satz 2 grundsätzlich – wie Satz 1 – auf eine Befristung angelegt ist. Denn ein Abschiebestopp auf "unbestimmte Zeit”, wie er nach § 1 Abs. 3 BKGG gefordert wird, liegt jedenfalls auch dann vor, wenn die Befristung – wie hier – die Möglichkeit offen läßt, daß sich angesichts der politischen Verhältnisse im Herkunftsland möglicherweise gleichlautende Abschiebestopps an die erstmalige Regelung anschließen können (vgl. Urteil des Senats vom 28.9.1994 L 6/Kg-916/93). Diese Annahme war angesichts des im früheren Jugoslawien andauernden Bürgerkrieges jedenfalls im streitbefangenen Zeitraum gerechtfertigt.

Die Voraussetzungen der Begründung eines Wohnsitzes bzw. gewöhnlichen Aufenthaltes liegen danach sowohl beim Kläger als auch bei dessen Kindern (§ 2 Abs. 5 Satz 1 BKGG in der bis zum 31.12.1993 maßgeblichen Fassung) für jeden Monat der erneuten Anspruchserfüllung (§ 9 Abs. 1 BKGG) bei vorausschauender Betrachtungsweise ebenso vor, wie das Tatbestandsmerkmal des Ausschlusses der Abschiebung auf unbestimmte Zeit.

Auch die Mindestwartefrist von einem Jahr war zu Beginn des streitbefangenen Zeitraums erfüllt, so daß dem Kläger der geltend gemachte Anspruch auf Kindergeld zusteht.

2) Die Kindergeldgewährung steht auch im Hinblick darauf, daß. der Kläger im streitbefangenen Zeitraum einkommenssteuerpflichtig war und steuerrechtlich lediglich zwei Kinderfreibeträge zu je 4.104,– DM berücksichtigt wurden, in Übereinstimmung mit dem geltenden Verfassungsrecht. Denn nur durch diese Kindergeldgewährung wird dem verfassungsrechtlichen Gebot entsprochen, Familien mit Kindern in Höhe des – mit dem ungefähren Sozialhilfegesamtbedarf definierten – Existenzminimums von der Besteuerung freizustellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.5.1990 – 1 BvL 20/84 u.a. = NJW 1990, S. 2869; Beschluss vom 12.6.1990 – 1 BvL 72/86 = NJW 1990, S. 2876; Beschluss vom 14.6.1994 – 1 BvR 1022/88 = NJW 1994, S. 2817; vgl. insoweit auch BSG, Urteil vom 31.10.1995 – 10 RKg 23/94 = SozR 3 5870 § 1 Nr. 6). Im Falle der Familie des Klägers hat die Einräumung der Kinderfreibeträge in Höhe von zwei mal 4.104,– DM nämlich zu einer erheblich unterhalb des Sozialhilfegesamtbedarfs liegenden Entlastung geführt, die lediglich durch die vom Kläger beanspruchte Kindergeldgewährung in einer dem beschriebenen verfassungsrechtlichen Gebot entsprechenden Weise ausgeglichen werden kann.

Im Ergebnis war deshalb die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

III.
Die Revision hat der Senat zugelassen, da er der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimißt (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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