L 7 AS 4315/08 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 3 AS 2685/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AS 4315/08 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Ulm vom 3. September 2008 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

Die unter Beachtung der Vorschriften der §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingelegte Beschwerde ist zulässig, insbesondere statthaft nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG. Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet. Das Sozialgericht Ulm (SG) hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz im Ergebnis zu Recht abgelehnt.

Gegenstand des Beschwerdeverfahrens im einstweiligen Rechtsschutz ist die vorläufige Leistung von Arbeitslosengeld II (Alg II) für die Zeit vom 1. Januar bis 30. April 2008. Soweit der Antragsteller auch die Zahlung von Beiträgen zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung beantragt hat, sind diese gesetzliche Folgen einer Leistungsgewährung. Entgegen der Ansicht des SG ist jedoch nicht der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG richtige Rechtsschutzform, sondern der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG. Die Antragsgegnerin hatte dem Antragsteller bereits mit Bescheid vom 29. Oktober 2007 Alg II u.a. für die Zeit vom 1. Januar bis 30. April 2008 bewilligt, diese Bewilligung jedoch mit Bescheid vom 29. Januar 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Mai 2008 aufgehoben. Die hiergegen gerichtete Klage ist derzeit noch beim SG anhängig (S 3 AS 1706/08). Um sein Begehren zu erreichen genügt dem Antragsteller im Hauptsacheverfahren somit die Anfechtungsklage, so dass das Begehren im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes an § 86b Abs. 1 SGG zu messen ist. Die Klage entfaltet nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) nicht schon kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung. Statthaft ist daher der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gem. § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG, der sich nach der Klageerhebung nicht mehr auf den Widerspruch, sondern die Klage bezieht (Senatsbeschluss vom 16. April 2008 - L 7 AS 1398/08 ER-B - (juris)).

§ 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG gibt selbst keinen Maßstab vor, wann die aufschiebende Wirkung anzuordnen ist. Diese Lücke ist durch einen analoge Anwendung des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG zu schließen. Das Gericht nimmt also eine eigenständige Abwägung der Beteiligteninteressen vor. Es wägt das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug und das private Aufschubinteresse ab. Dabei sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Denn im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sollen keine Positionen eingeräumt werden, die im Hauptsacheverfahren erkennbar nicht standhalten. Bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit der Bescheide ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen, bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit des Rechtsbehelfs die Anordnung hingegen abzulehnen. Bei der Anordnung der aufschiebenden Wirkung in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGG, in denen wie hier der Rechtsbehelf von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung hat, ist diese Entscheidung des Gesetzgebers, den abstrakten öffentlichen Interessen den Vorrang einzuräumen, zu beachten. In analoger Anwendung des § 86a Abs. 3 S. 2 SGG sind Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs zugunsten des Antragstellers nur zu berücksichtigen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen, der Erfolg in der Hauptsache also überwiegend wahrscheinlich ist (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Juli 2006 - L 13 AS 1709/06 ER-B - (juris)). Wegen des grundrechtlichen Gewichts der Leistungen nach dem SGB II, die die Menschenwürde des Empfängers sichern sollen, muss hier im Rahmen der Abwägungsentscheidung die gesetzgeberische Wertung für die sofortige Vollziehbarkeit unter Umständen im Einzelfall zurücktreten, auch wenn keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen (Senatsbeschluss vom 16. 04 2008, a.a.O.; BVerfG NVwZ 2005, 927 zum Maßstab bei der einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG). Dabei kann es darauf ankommen, ob die Leistung vollständig oder zu einem erheblichen Teil entzogen wird oder nur geringfügige Einschränkungen vorgenommen werden (Senatsbeschluss vom 8. April 2008 - L 7 AS 1161/08 ER-B). Zu beachten ist jedoch auch der Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes, eine nur vorläufige Regelung bis zur endgültigen Hauptsacheentscheidung zu treffen. Ziel ist daher grundsätzlich der Schutz vor noch nicht verwirklichten Rechtsbeeinträchtigungen. Einen Ausgleich für Rechtsbeeinträchtigungen in der Vergangenheit herbeizuführen, ist deshalb grundsätzlich nicht Aufgabe des einstweiligen Rechtsschutzes. Fehlt es an dem erforderlichen Gegenwartsbezug kann dies auch bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht unbeachtet bleiben. Eine in der Vergangenheit ggf. tatsächlich eingetretene Rechtsbeeinträchtigung durch die Nichtgewährung von Grundsicherungsleistungen kann auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht rückwirkend verhindert werden. Eine Ausnahme ist nur dann zu machen, wenn die Notlage noch bis in die Gegenwart fortwirkt und den Betroffenen in seiner menschenwürdigen Existenz bedroht (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Oktober 2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - (juris) zur einstweiligen Anordnung).

Das vorliegende Verfahren betrifft allein einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, der bereits zum Zeitpunkt des Antrages auf einstweiligen Rechtsschutz drei Monate abgeschlossen war. Ein Nachholbedarf im o.g. Sinne ist nicht ersichtlich und vom Antragsteller auch nicht glaubhaft gemacht worden. Insbesondere ergibt sich aus dem vom Antragsteller selbst vorgelegten Schreiben der Krankenversicherung, dass trotz eingetretener Beitragsrückstände im streitigen Zeitraum die als freiwillig geführte Krankenversicherung fortbesteht und die rückständigen Beiträge zunächst gestundet sind. Trotz der grundsätzlichen Grundrechtsrelevanz der Alg II-Leistungen besteht daher vorliegend kein Grund, von der gesetzgeberischen Wertung für die sofortige Vollziehbarkeit der Aufhebungsentscheidung nach § 39 Nr. 1 SGB II abzuweichen.

Nach der hier zulässigen und allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen keine ernstlichen Zweifel i.S.d. § 86a Abs. 3 S. 2 SGG an der Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheides vom 29. Januar 2008. Nach § 7 Abs. 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die u.a. hilfebedürftig sind (Nr. 3) und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4). Leistungen enthält jedoch nicht, wer sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der Erreichbarkeits-Anordnung (EAO) vom 23. Oktober 1997 (ANBA 1997, 1685), geändert durch die Anordnung vom 16. November 2001 (ANBA 2001, 1476), definierten zeit- und ortsnahen Bereiches aufhält; die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung geltend entsprechend (§ 7 Abs. 4a SGB II). Die Antragsgegnerin hatte die Leistungsbewilligung ab 1. Januar 2008 aufgehoben, nachdem der Antragsteller im an das SG gerichteten Schreiben vom 17. Dezember 2007 selbst mitgeteilt hatte, "von Ende Dez. 2007 bis Anfang Februar 2008 aus beruflichen und umzugsbedingten Gründen in Schweden" zu sein, um die Auswanderung seiner Familie vorzubereiten. Im weiteren Verlauf des Verfahrens hat der Antragsteller zwar bestritten, sich im gesamten hier streitigen Zeitraum in Schweden aufgehalten zu haben. Auch wurde er von einem Mitarbeiter der Antragsgegnerin tatsächlich bei einem Hausbesuch am 15. April 2008 angetroffen. Bereits unter dem 8. Oktober 2007 hatte der Antragsteller jedoch in einem Internet-Forum für Auswanderungswillige nach Schweden erklärt, er habe sich in Schweden ein Haus gekauft, sei dort in einer eigenen "Ltd." angestellt und fliege jeden Monat "pro forma" nach Hause, um weiterhin SGB II-Leistungen zu beziehen und Krankenversicherungsschutz zu genießen. In einer an das SG gerichteten E-Mail hat der Antragsteller eingeräumt, dass es sich hierbei um seine Forum-Beiträge handelt. Dass der Antragsteller beim Hausbesuch angetroffen worden war, kann somit darauf beruhen, dass er sich gerade an diesem Tag zu dem "pro forma"-Aufenthalt in Deutschland befand. Ein Rückschluss auf eine durchgehende Anwesenheit verbietet sich jedoch angesichts der eigenen Äußerungen des Antragstellers im Internet-Forum. Soweit der Antragsteller nun vorträgt, die dortigen Äußerungen hätten sich auf ein in Zukunft geplantes Verhalten bezogen, ist dies dem Inhalt der Beiträge nicht deutlich zu entnehmen. Auch im Schreiben vom 17. Dezember 2007 hatte der Antragsteller einen länger dauernden Aufenthalt in Schweden angegeben. Aufgrund der eigenen Angaben des Antragstellers kann daher nach summarischer Prüfung nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller sich im streitigen Zeitraum tatsächlich durchgehend in der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere im Nahbereich i.S.d. EAO aufgehalten hat. Ob dies tatsächlich der Fall war, ist der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheides bestehen somit nach summarischer Prüfung nicht. Im Hinblick auf den angegebenen oder anvisierten Hauskauf in Schweden bestehen vielmehr darüber hinaus Zweifel an der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers. Auch dies ist aber im Hauptsacheverfahren zu klären.

Die Voraussetzungen für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage liegen somit nicht vor. Eine Interessen- und Folgenabwägung ohne Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache führt im Hinblick auf das oben zum fehlenden Gegenwartsbezug und Nachholbedarf zu keinem anderen Ergebnis.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Bereits aus den o.g. Gründen hat das Prozesskostenhilfegesuch des Antragstellers mangels Erfolgsaussicht in der Hauptsache keinen Erfolg (§ 73a SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung), so dass es nicht auf das Vorliegen der übrigen Bewilligungsvoraussetzungen ankommt.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG). Weitere Rechtsmittel sind im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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