L 6 Kg 120/91

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
6
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 22 Kg 2480/88
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 Kg 120/91
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 10 Rkp 14/94
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Es gibt keinen Erfahrungssatz dahingehend, daß bei volljährigen Studierenden nichtdeutscher Staatsangehörigkeit mit der Wahl eines Studienortes im Land der ausländischen Staatsangehörigkeit zugleich die Aufgabe des zuvor innegehabten inländischen Wohnsitzes bzw. des gewöhnlichen Aufenthaltes sowie der zuvor bei den Eltern bestehenden Haushaltsaufnahme verbunden ist.
Auch bei solchen Studierenden müssen deshalb – wie bei Studierenden deutscher Staatsangehörigkeit – besondere Umstände hinzutreten, die auf eine dauerhafte Lösung von den bisherigen räumlichen und örtlichen Lebensverhältnissen schließen lassen.
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 1. Oktober 1990 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte verurteilt wird, dem Kläger für seine Stieftochter O. A. in der Zeit von Oktober 1987 bis Juni 1992 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen. Anmerkungen: Revision 10 Rkp 14/94

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger für seine Stieftochter O. A. in der Zeit ab Oktober 1987 bis einschließlich Juni 1992 Kindergeld zusteht.

Der Kläger ist 1946 in Bukarest geboren. Seit 1970 lebte er in Israel, dessen Staatsangehörigkeit er bis 1990 besaß. Der Kläger ist seit 1973 mit der im Jahre 1942 geborenen A. S. verheiratet. Die gemeinsame Tochter S. ist am 23. Juli 1978 in Israel, der gemeinsame Sohn D. am 15. November 1983 in XY. geboren. A. S. lebte seit ihrer Geburt als israelische Staatsangehörige zunächst in Israel. Sie war in erster Ehe mit A. A. verheiratet. Aus dieser Ehe ist die am 21. Juni 1965 geborene O. A. hervorgegangen. A. A. ist 1967 verstorben.

Im September 1979 übersiedelte der Kläger gemeinsam mit seiner Ehefrau, seiner Tochter S. und mit seiner mit ihm seit 1970 in einem gemeinsamen Haushalt lebenden Stieftochter O. in die Bundesrepublik Deutschland.

Im streitbefangenen Zeitraum verfügten die Eheleute S. zunächst über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Seit Juni 1990 sind sie durch Einbürgerung deutsche Staatsangehörige geworden. O. A. ist weiterhin israelische Staatsangehörige.

O. A. besuchte seit Januar 1980 die "F. International School” in LL ... Bei der "F. International School” handelt es sich um eine staatlich anerkannte Privatschule mit Englisch als Unterrichtssprache, an der ein Abschluß absolviert werden kann, der dem US-amerikanischen High School Diplom entspricht. Diesen Schulabschluß erreichte O. im Juni 1983. Der High-School-Abschluß berechtigt die in der Bundesrepublik Deutschland Ansässigen nicht zur Aufnahme des Studiums an einer deutschen Hochschule.

Nach Beendigung des Schulbesuches bemühte sich O. A. um die Erlangung eines Studienplatzes in Israel. Zu Beginn des Jahres 1984 reiste sie deshalb nach Israel, wurde jedoch dort zunächst zum Wehrdienst in der israelischen Armee eingezogen. Ihr – noch während der Wehrdienstzeit fortgeführtes – Bemühen um eine Studienplatzzuteilung in Israel blieb zunächst erfolglos. Nach Ableistung des ca. 2 1/2-jährigen Wehrdienstes kehrte O. deshalb zu Beginn des Jahres 1987 in die elterliche Wohnung in XY. zurück. Aufgrund ihres Antrags vom 2. Februar 1987 wurde ihr zunächst eine zeitlich befristete und mit Wirkung vom 17. Mai 1987 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland erteilt.

Im Verlauf des Jahres 1987 erhielt O. A. einen Zulassungsbescheid der Universität Jerusalem für das Studienfach Ernährungswissenschaften. Im Juni 1987 reiste O. deshalb erneut nach Israel und nahm im Oktober 1987 an der Universität Jerusalem das ernährungswissenschaftliche Studium auf. Mit Beginn des Studienjahres 1988/89 wechselte O. das Studienfach und die Universität. Sie begann an der Universität Haifa das Studium der Psychologie mit dem Nebenfach Erziehungswissenschaften. Am 15. Juni 1992 erlangte sie in diesem Studiengang den Abschluß als "Bachelor of Arts” (B.A.). Aufbauend auf diesem Abschluß setzte O. danach ihr Studium mit dem Ziel des Magisterabschlusses (M.A.) fort.

Sowohl in Jerusalem als auch in Haifa wohnte O. A. in einem Mehrbettzimmer eines Studentenwohnheimes. Von der Zahlung von Studiengebühren ist O. in Israel befreit. Ihr Unterhalt wurde im streitbefangenen Zeitraum vom Kläger sichergestellt. Von einer einzigen – zeitlich nicht mehr feststellbaren – Ausnahme abgesehen, hielt sich O. im streitbefangenen Zeitraum jedes Jahr für jeweils zwei bis drei Wochen im Haushalt des Klägers in XY. auf. Sie verfügt in der Wohnung des Klägers gemeinsam mit ihrem Bruder D. über ein eigenes Zimmer. O. spricht die Sprachen Deutsch, Englisch und Hebräisch. In der Familie des Klägers werden diese Sprachen wechselweise gesprochen.

Für O. bezog der Kläger bis einschließlich Juni 1983 von der Beklagten Kindergeld. Den am 14. März 1988 für die Zeit ab Oktober 1987 gestellten Antrag auf Wiederbewilligung von Kindergeld für O. lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 21. April 1988 ab. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 1988 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Stieftochter des Klägers verfüge in der Bundesrepublik Deutschland weder über ihren Wohnsitz noch über ihren gewöhnlichen Aufenthalt. Kehrten Kinder zur Ausbildung in ihr Heimatland zurück, werde zu Gunsten der Ausbildung in der Heimat die familiäre Wohn- und Lebensgemeinschaft zwischen Kindern und Eltern für die zeitlich nicht absehbare Dauer der Ausbildung aufgegeben. Bei dieser Beurteilung komme es weder auf das Alter der Kinder an, noch darauf, ob Vorsorge dafür getroffen sei, daß sie während der Ferien besuchsweise Unterkunft in der Wohnung ihrer Eltern im Gastland finden könnten (Hinweis auf BSG Urteil vom 17. Dezember 1981 – 10 RKg 6/81).

Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Frankfurt am Main durch Urteil vom 1. Oktober 1990 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte dazu verurteilt, dem Kläger Kindergeld für O. in gesetzlicher Höhe ab Oktober 1987 zu gewähren. Das Sozialgericht hat die Auffassung vertreten, für die Kinder deutscher Staatsangehöriger müsse die Beibehaltung des Wohnsitzes bzw. des gewöhnlichen Aufenthaltes im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes auch bei einem Auslandstudium angenommen werden. Zwar besitzen der Kläger und seine Familie seit 1990 die deutsche Staatsangehörigkeit. O. sei jedoch nach wie vor israelische Staatsangehörige, so daß maßgebend auf die objektiven Umstände abzustellen sei, die sich derzeit ergäben. Aus diesen Umständen lasse sich ableiten, daß sich die Stieftochter des Klägers nur vorübergehend in Israel zum Studienaufenthalt befinde. Der Kläger habe die Gründe des Israelaufenthalts seiner Stieftochter überzeugend dargelegt. Ebenso glaubwürdig dargelegt sei auch, daß seine Stieftochter in absehbarer Zeit wieder in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren werde. Dabei sei auch zu berücksichtigen gewesen, daß O. A. ein Studium in der Bundesrepublik Deutschland nicht habe aufnehmen können. Auch vom Kläger und dessen Ehefrau sei nicht zu erwarten, daß sie erneut nach Israel übersiedelten. Da O. in Israel über keine familiären Bindungen mehr verfüge, könne angenommen werden, daß sie ihrerseits in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehre und zwar entweder nach Beendigung des Studiums oder schon vorher, um ihre Studien fortzusetzen. Auch die fortbestehende Aufnahme von O. A. in den Haushalt des Klägers könne angenommen werden, so daß die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld insgesamt gegeben seien.

Gegen das der Beklagten am 4. Januar 1991 zugestellte Urteil richtet sich die am 4. Februar 1991 eingegangene Berufung. Die Beklagte geht davon aus, der Kindergeldanspruch des Klägers für O. A. sei gemäß § 2 Abs. 5 Satz 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) wegen des fehlenden Wohnsitzes bzw. gewöhnlichen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland ausgeschlossen. Für die Zeit bis zur Einbürgerung des Klägers im Juni 1990 beruhe dies darauf, daß insoweit die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (a.a.O.) uneingeschränkt Anwendung finde. Die Stieftochter des Klägers habe sich in ihr Heimatland begeben und sich dort länger aufgehalten, als z.B. im allgemeinen die Schulferien dauerten. Diese Rückkehr in ihr Heimatland zur Ausbildung sei ihrer Natur nach auf unbestimmte Zeit angelegt und schließe damit das Vorliegen eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland aus. Auch für die Zeit ab Juni 1990 gelte insoweit nichts anderes. Die lange Dauer des Aufenthalts auch bereits vor Aufnahme des Studiums lasse darauf schließen, daß O. A. nicht nur vorübergehend im Ausland verweile. Ohnehin mangele es dem sozialgerichtlichen Urteil an Feststellungen darüber, ob O. A. in regelmäßigen Abständen wieder in den Haushalt der Eltern zurückgekehrt sei und ihr dort eine dem Lebenszuschnitt der Familie angemessene Wohn- und Schlafgelegenheit zur Verfügung stehe.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 1. Oktober 1990 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Beklagte verurteilt wird, ihm für seine Tochter O. A. in der Zeit vom Oktober 1987 bis einschließlich Juni 1992 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Kläger hält das sozialgerichtliche Urteil für zutreffend. Er verweist darauf, daß seine Tochter O. bereits seit deren fünftem Lebensjahr seinem Haushalt angehöre und von ihm unterhalten werde. Seine Tochter habe nur deshalb in Israel ein Studium aufgenommen, weil der Schulabschluß an der "F. International School” nicht zum Studium in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt habe. Auch andere Länder seien insoweit für die Studienaufnahme in Betracht gezogen worden. Für die Aufnahme eines Studiums in Israel hätten dann aber nicht zuletzt finanzielle Gründe den Ausschlag gegeben.

Im Erörterungstermin vom 23. Oktober 1992 wurde O. A. als Zeugin gehört. Auf die darüber gefertigte Sitzungsniederschrift wird ebenso Bezug genommen wie auf den gesamten weiteren Inhalt der Gerichtsakte, die beigezogene Ausländerakte der Stieftochter des Klägers beim Magistrat der Stadt XY., die ebenfalls beigezogene Einbürgerungsakte des Klägers beim Regierungspräsidenten in Darmstadt (Az. xxxxx-xx/xx) und die Kindergeldakte der Beklagten (KG Nr. vvvvv).

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Senat ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach §§ 27 Abs. 2 BKGG, 144 ff. SGG, beide in der bis zum 28. Februar 1993 maßgeblichen Fassung, liegen nicht vor.

Die Berufung ist jedoch im Ergebnis unbegründet. Dem Kläger steht für seine Stieftochter O. A. in der Zeit von Oktober 1987 bis zur Vollendung von deren 27. Lebensjahr im Juni 1992 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu.

O. A. ist beim Kläger gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 BKGG kindergeldrechtlich zu berücksichtigen. Der Kläger hat O. A. bereits seit deren fünften Lebensjahr in seinem Haushalt aufgenommen. Diese Haushaltsaufnahme hat bis zum Ende des streitbefangenen Zeitraums nicht geendet. Da sich O. A. im streitbefangenen Zeitraum durch ihr Studium an den Universitäten Jerusalem und Haifa in einer Berufsausbildung befand (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 BKGG) und sich in dieser Zeit auch ihr Wohnsitz bzw. ihr gewöhnlicher Aufenthalt im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes befunden hat (§ 2 Abs. 5 Satz 1 BKGG), sind auch die übrigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Kindergeld gegeben.

Für die Haushaltsaufnahme sind nach der Rechtsprechung (vgl. z.B. BSG Urteil vom 08.12.1993 – 10 RKg 8/92 m.w.N.) Umstände maßgeblich, die sich als "Schnittstelle von Merkmalen örtlicher (Familienwohnung), materieller (Vorsorge, Unterhalt) und immaterieller Art (Zuwendung von Fürsorge, Begründung eines familienähnlichen Bandes)” darstellen.

Das örtliche Merkmal erfordert dabei, daß Stiefelternteile und Stiefkind einer Familiengemeinschaft angehören und damit auch einen ortsbezogenen Mittelpunkt gemeinschaftlicher Lebensinteressen, d.h. eine gemeinsame Familienwohnung haben.

Dies ist im Verhältnis des Klägers zu seiner Stieftochter tatsächlich der Fall. Gemeinsame Familienwohnung ist die Wohnung des Klägers in XY., die von seiner Stieftochter auch während des streitbefangenen Zeitraums genutzt wurde. Daß eine Haushaltsaufnahme bis kurz vor Aufnahme des Studiums von O. vorgelegen hat, steht unzweifelhaft fest. Die anschließende räumliche Trennung hat diese Haushaltsaufnahme nicht beseitigt.

Eine auswärtige Unterbringung während der Schul- oder Berufsausbildung und die räumliche Trennung während eines Studiums wird von der Rechtsprechung im allgemeinen insoweit als unschädlich angesehen (BSG 25, 100 = SozR Nr. 14 zu § 2 KGG; Urteil vom 17.05.1988 – 10 RKg 10/86 = SozR 5870 § 3 Nr. 6), es sei denn, die räumliche Trennung ist tatsächlich auf Dauer angelegt.

Von einer solchen auf Dauer angelegten Trennung kann jedoch vorliegend nicht ausgegangen werden. O. A. wohnte im streitbefangenen Zeitraum in einem Studentenwohnheim, also in einer Wohnsituation, die typischerweise vorübergehender Natur ist und den ursprünglich ortsbezogenen Mittelpunkt der gemeinschaftlichen Lebensinteressen des Klägers, seiner Ehefrau und der Kinder nicht verändert hat. Unterstrichen wird diese Annahme dadurch, daß für O. weiterhin im Haushalt des Klägers ein Zimmer in der ca. 100 qm großen Wohnung zur Verfügung steht. Wie die Einvernahme von O. A. ergeben hat, werden ihr dort ein eigener Schreibtisch und ein eigenes Bett vorgehalten. Ihre gesamten persönlichen Gebrauchsgegenstände, soweit diese nicht zum Studium benötigt werden, werden in diesem Zimmer aufbewahrt. Daß das Zimmer auch – und möglicherweise sogar in erster Linie – durch ihren kleineren Bruder D., der zum Ende des streitbefangenen Zeitraums gerade 8 Jahre alt war, genutzt wurde, steht der Annahme einer Mitnutzung durch die Stieftochter des Klägers nicht entgegen.

Die Anbindung an den Haushalt des Klägers wird schließlich auch durch die vollständige Unterhaltsgewährung durch den Kläger belegt und durch die mehrfachen Besuche von O. in den Semesterferien. Daß sich diese Besuche im wesentlichen auf jährlich gerade einen einzigen Besuch – von einer Ausnahme abgesehen – beschränkten, findet seine Erklärung allein in den hohen Kosten solcher Besuche, wie dies O. A. bei ihrer Einvernahme glaubhaft geschildert hat. Auch die Familienbande bestehen in unveränderter Weise fort. O. sieht deshalb auch die Wohnung des Klägers und der weiteren Familienangehörigen als ihr "zu Hause” an, was auch dadurch naheliegend ist, daß zu diesem Haushalt auch ihre leibliche Mutter gehört, mit der sie sich, ebenso wie zum Kläger, eng verbunden fühlt.

Der im Hinblick auf die bestehende Ausbildung von O. gegebene Kindergeldanspruch wird auch nicht durch die Regelung des § 2 Abs. 5 Satz 1 BKGG ausgeschlossen.

§ 2 Abs. 5 Satz 1 BKGG sieht vor, daß Kinder, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben, bei der Kindergeldbewilligung nicht berücksichtigt werden, wenn die Berechtigten bzw. deren Kinder nicht zum Kreis derer gehören, die – was vorliegend nicht zutrifft – in Satz 2 und Satz 3 dieser Bestimmung genannt sind.

Die Beklagte hat das Vorliegen eines Wohnsitzes bzw. des gewöhnlichen Aufenthaltes von O. A. im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes verneint. Der Senat hält dies nicht für zutreffend.

Seinen Wohnsitz hat nach § 30 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch I (SGB I) jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen inne hat, die darauf schließen lassen, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I).

O. A. hat durch die Aufnahme des Studiums in Israel ihren Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nicht aufgegeben.

Die Begriffsbestimmungen des § 30 Abs. 3 SGB I stimmen mit denen im Steuerrecht maßgeblichen Begriffen "Wohnsitz” und "gewöhnlicher Aufenthalt” im Sinne der §§ 8 und 9 Abgabenordnung (AO) überein (ständige Rechtsprechung vgl. BSG SozR 5870 § 1 Nr. 4, 6). Im Gegensatz zu den §§ 7 und 8 BGB ist, was bereits aus dem Wortlaut des § 30 Abs. 3 SGB hervorgeht, nicht in erster Linie der Wille eines Menschen, an einem Ort einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen, entscheidend. Ausschlaggebend sind vielmehr insoweit die tatsächlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten (BSG Urteil vom 20.05.1987 – 10 RKg 18/85 = SozR 5870 § 1 Nr. 12 m.w.N.), die ihrerseits dem Willen zur Wohnsitzbegründung oder Beibehaltung bzw. der Beibehaltung und Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts nicht entgegenstehen dürfen.

Aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten kann vorliegend nicht davon ausgegangen werden, daß sich an der vor dem streitbefangenen Zeitraum bis zur Abreise von O. A. im Jahre 1987 zum Zwecke der Studienaufnahme bestehenden Situation hinsichtlich des Wohnortes bzw. des gewöhnlichen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland etwas geändert hätte. Die Studienorte Jerusalem und Haifa sind nicht zum neuen bzw. alleinigen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt von O. A. geworden.

Das Verbleiben an einem Studienort führt für sich genommen nicht bereits zur Schaffung eines neuen Lebensmittelpunktes. Dieses Verbleiben ist vielmehr der Natur der Sache nach vorübergehender Art, es sei denn, daß sich gleichzeitig Umstände ergeben, die entgegen diesem Erfahrungssatz darauf schließen lassen, daß mit dem Beginn eines solchen Ausbildungsabschnittes zugleich eine dauerhafte Lösung von den bisherigen örtlichen Lebensverhältnissen verbunden ist.

Eine solche Änderung hat das Bundessozialgericht bei minderjährigen Kindern von Gastarbeitern angenommen, die zur Schul- oder Berufsausbildung auf nicht absehbare Zeit in ihre "Heimatländer” zurückkehren (BSG Urteile vom 17.12.1981 – 10 RKg 12/81 = SozR 5870 § 2 Nr. 25, 10 RKg 6/81 = DBlR Nr. 2662a § 2 BKGG; Urteil vom 22.05.1984 – 10 RKg 3/83 = SozR 5870 § 2 Nr. 33 m.w.N.). Das Bundessozialgericht hat bei einer solchermaßen erfolgten Ausgliederung aus der im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes lebenden Familie geschlossen, daß dadurch zugleich der inländische Wohnsitz bzw. gewöhnliche Aufenthalt aufgegeben werde.

Um eine solche Fallgestaltung handelt es sich vorliegend in indes nicht.

Dabei kann dahingestellt bleiben, ob Israel für die israelische Staatsangehörige O. A. tatsächlich als deren "Heimatland” anzusehen ist, oder ob "Heimatland” in diesem Sinne für O. und zwar ganz unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, ggfs. die Bundesrepublik Deutschland geworden ist, nachdem O. A. immerhin seit ihrem 14. Lebensjahr in der Bundesrepublik Deutschland gelebt hat, dort in einer entscheidenden Phase ihrer Sozialisation aufgewachsen ist und hierbei die bei ihrer Einreise noch vorhandenen sprachlichen Defizite ausgeglichen hat. Denn jedenfalls ging O. A. nicht schon als Minderjährige zur weiteren Ausbildung in das Land ihrer Geburt, sondern erst als Volljährige. Bei einer Volljährigen gibt es einen allgemeinen Erfahrungssatz, wie ihn das Bundessozialgericht (a.a.O.) aufgestellt hat, gerade nicht. Fällt die Wahl des Studienortes durch einen bereits volljährigen ausländischen Staatsangehörigen auf einen Ort dieser ausländischen Staatsangehörigkeit, so führt dies nur dann zu einer Änderung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts, wenn weitere Umstände hinzutreten, die auf eine dauerhafte Lösung von der vorangegangenen Wohnsitz- bzw. Aufenthaltssituation schließen lassen. Davon kann vorliegend indes nicht ausgegangen werden. Denn die Wahl des Studienortes war nicht in erster Linie daran orientiert, daß Israel das Geburtsland der Stieftochter des Klägers war. Diese Wahl wurde vielmehr aufgrund ganz anderer Kriterien getroffen. Israel war, wie den glaubhaften Aussagen von O. A. entnommen werden kann, insoweit nur eines von mehreren Ländern, die für Studienzwecke in Aussicht genommen worden waren. Auf Israel fiel die Wahl vor allem deshalb, weil O. A. bzw. der Kläger dort mit niedrigeren Ausbildungskosten rechnen durften, während bei einem Studium z.B. in den USA, die wegen der vorhandenen Sprachkenntnisse und des vorangegangenen Schulabschlusses ebenfalls in Betracht gezogen worden waren, Kosten entstanden wären, die ihre Familie möglicherweise überfordert haben würden. Die Frage der Staatsangehörigkeit spielte demgegenüber bei der Entscheidung für ein Studium in Israel lediglich eine untergeordnete Rolle. Grundsätzlich hätte nämlich O. A., wenn dies im Hinblick auf den vorhergehenden High-School-Abschluß möglich gewesen wäre, ein Studium in der Bundesrepublik Deutschland einem solchen in Israel oder den USA sogar vorgezogen. Auch dies ergibt sich aus der glaubhaften Aussage der Tochter des Klägers.

Gegen eine auf Dauer vorgesehene Niederlassung in Israel und ein Verbleiben auf unbestimmte Zeit in diesem Land sprechen im übrigen auch diejenigen Umstände, die für die Beibehaltung der Haushaltsaufnahme angeführt wurden, also insbesondere die Unterbringung in Studentenwohnheimen an den israelischen Universitäten, die mehrfachen Aufenthalte im Haushalt des Klägers während der Semesterferien sowie das Zimmer das ihr im Haushalt des Vaters ständig zur Verfügung steht, und schließlich auch die fehlenden familiären Bindungen in ihrem Geburtsland. Daß sich die Zahl der Aufenthalte im wesentlichen auf die einmalige jährliche Reise nach XY. beschränkte, hatte – wie bereits ausgeführt – ausschließlich nachvollziehbare finanzielle Gründe. Auch die Rückkehr in ihr Elternhaus nach Ende des in Israel abgeleisteten Wehrdienstes vor der später erfolgten Studienaufnahme gehört zu diesen für eine Beibehaltung des Wohnsitzes bzw. gewöhnlichen Aufenthalts sprechenden Umständen.

Schließlich sprechen auch die glaubhaft bekundeten weiteren Pläne der Stieftochter des Klägers, die wegen der bereits vorliegenden Volljährigkeit besonderer Beachtung bedurften, gegen die von der Beklagten angenommene dauerhafte Lösung von den bisherigen Lebensverhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland. Danach ist davon auszugehen, daß O. A. tatsächlich beabsichtigt, nach Abschluß des Magisterexamens in Israel, in erster Linie in der Bundesrepublik Deutschland beruflich tätig zu werden. Eine berufliche Tätigkeit in Israel schließt O. A. demgegenüber ausdrücklich aus.

Da auch die übrigen Anspruchsvoraussetzungen vorhanden sind, steht dem Kläger nach alledem bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres von O. A. für seine Stieftochter Kindergeld in gesetzlichem Umfang zu.

Die Berufung der Beklagten war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision hat der Senat zugelassen, da er der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimißt (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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