L 6/2 An 1061/77

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6/2 An 1061/77
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der Anspruch auf Übergangsgeld nach § 18 e Abs. 1 AVG 2. Alternative wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Versicherte der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und eine Vermittlung allein an der besonderen Arbeitsmarktsituation scheitert.
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 3. August 1977 und der Bescheid der Beklagten vom 22. August 1975 aufgehoben.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die in beiden Rechtszügen zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Aufwendungen zu erstatten. Im übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Übergangsgeld für die Zeit vom 1. März 1975 bis 16. November 1975.

Der im Jahre 1922 geborene Kläger hat den Beruf eines Maschinenschlossers erlernt und die Ausbildung erfolgreich mit der Gesellenprüfung beendet. Im Anschluß an den Kriegsdienst und die Kriegsgefangenschaft war er von 1947 bis 1949 als Geschäftsführer bei einer Schiffsabfertigung und von 1961 bis 1962 als Geschäftsführer in einem Autohaus tätig. Von April 1973 bis September 1973 war er im Außendienst als Repräsentant der Firma A. Medizin-Technik in H. beschäftigt.

Von Oktober 1973 bis 3. September 1974 bezog der Kläger Krankengeld. In der Zeit vom 10. Oktober 1974 bis 14. November 1974 gewährte die Beklagte dem Kläger eine stationäre Heilbehandlung in der Klinik H. in B. Die Klinikärzte Dr. B. und Dr. stellten eine Hypertonie sowie eine indurativ-cirrhotische Oberlappen-Tbc rechts ohne Aktivitätszeichen fest und entließen den Kläger als arbeitsfähig nach 7-tägiger Schonung für vollschichtige Tätigkeiten bei Einsatz im Innendienst. Zum gleichen Ergebnis kam der Obermedizinalrat Dr. R. vom Ärztlichen Dienst des Arbeitsamtes M. in seinem Gutachten vom 16. Dezember 1974, mit dem er gleichzeitig die Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen empfahl.

Am 14. November 1974 beantragte der Kläger die Gewährung berufsfördernder Leistungen zur Rehabilitation.

Mit Schreiben vom 10. Januar 1975 stellte er den Antrag, ihm Übergangsgeld über den 21. November 1974 hinaus zu zahlen, da ihm die Beigeladene, die dem Kläger für die Zeit vom 22. November 1974 bis 20. Februar 1975 Arbeitslosengeld und für die Folgezeit bis zum 2. Juli 1975 Arbeitslosenhilfe gewährte, eine geeignete Arbeitsstelle im Innendienst nicht vermitteln könne.

Durch Zahlungsauftrag vom 3. Juli 1975 bewilligte ihm die Beklagte daraufhin Übergangsgeld für die Zeit vom 22. November 1974 bis "zum Beginn der Maßnahme” in Höhe von 49,86 DM täglich.

Mit Schreiben vom 21. Juli 1975 teilte die mit der Auszahlung des Übergangsgeldes beauftragte DAK in W. mit, daß sie dem Kläger das Übergangsgeld bis einschließlich 28. Februar 1975 in Höhe von insgesamt 4.936,14 DM ausgezahlt habe. Zwischenzeitlich sei ihr eine Nachricht des Arbeitsamtes Wiesbaden zugegangen, das wegen Leistungen an den Kläger für die Zeit vom 22. November 1974 bis 2. Juli 1975 einen Anspruchsübergang in Höhe von 6.918,80 DM geltend mache.

Durch Bescheid vom 22. August 1975 hob die Beklagte daraufhin ihre Entscheidung über die Bewilligung von Übergangsgeld mit sofortiger Wirkung auf, mit der Begründung, eine nochmalige Prüfung habe ergeben, daß die in § 18 e Abs. 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) genannte Voraussetzung der Arbeitsunfähigkeit beim Kläger nicht vorliege.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 27. August 1975 Widerspruch, den die Beklagte auf den Antrag des Klägers vom 22. September 1975 als Klage an das Sozialgericht Wiesbaden weiterleitete.

Der Kläger, der aufgrund eines Eingliederungsvorschlages der Beigeladenen vom 28. August 1975 am 17. November 1975 auf Kosten der Beklagten eine 6-monatige Ausbildung zum Buchhalter bei der privaten Handelsschule S. in F. begann, machte geltend, daß ihm für die Zeit vom 22. November 1974 bis 16. November 1975 ein Anspruch auf Übergangsgeld zustehe, da ihm eine zumutbare Beschäftigung nicht habe vermittelt werden können. Nach dem Entlassungsbericht vom 22. November 1974 komme für ihn nur noch eine Tätigkeit im Innendienst in Betracht, für deren Ausübung es ihm an den entsprechenden Kenntnissen fehle.

Durch Urteil vom 3. August 1977 wies das Sozialgericht die Klage ab. In den Entscheidungsgründen führte es aus, die Beklagte treffe keine Verpflichtung zur Gewährung des Übergangsgeldes für die streitige Zeit. Der Kläger sei nach Abschluß der stationären Heilbehandlung arbeitsfähig gewesen und habe auch der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden. Die Tatsache, daß dem Kläger wegen der besonderen Arbeitsmarktsituation, kein Arbeitsplatz habe angeboten werden können, gehe nicht zu Lasten der Beklagten.

Gegen dieses dem Kläger am 15. September 1977 zugestellte Urteil richtet sich seine am 12. Oktober 1977 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung, mit der er seinen Anspruch weiterverfolgt.

Er wiederholt sein erstinstanzliches Vorbringen und vertritt die Auffassung, nach dem Sinn der gesetzlichen Regelung sei ein Anspruch auf Übergangsgeld lediglich dann ausgeschlossen, wenn der Versicherte einen ihm tatsächlich angebotenen und zumutbaren Arbeitsplatz ablehne.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 3. August 1977 und den Bescheid der Beklagten vom 22. August 1975 aufzuheben.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beklagte macht darüber hinaus geltend, aus Rechtsgründen nicht daran gehindert gewesen zu sein, dem Kläger – entgegen der Formulierung im Bewilligungsbescheid vom 3. Juli 1975 – das Übergangsgeld bei Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit zu entziehen. Einem arbeitsfähigen Versicherten, der im Sinne des Arbeitsförderungsgesetzes verfügbar sei, stehe ein Anspruch auf Übergangsgeld nicht zu. Für ihre Auffassung beruft sich die Beklagte auf das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. September 1978 – L – 13/An – 230/76 –.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 8. Februar 1979 war die Beigeladene trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht vertreten.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen, insbesondere den der Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte über die Berufung trotz Ausbleibens der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung entscheiden, denn die Beigeladene ist auf die Folgen des Ausbleibens hingewiesen worden (§§ 110, 124 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 SGG). Die Berufungsausschlußgründe des § 146 SGG greifen im vorliegenden Fall nicht durch (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts – BSG – vom 27. April 1978 – 11 RA 39/77 –).

Die Berufung ist auch sachlich begründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Entgegen seiner Auffassung ist der angefochtene Aufhebungsbescheid vom 22. August 1975 rechtswidrig.

Dabei bedurfte es keiner abschließenden Entscheidung, ob die Beklagte bereits aufgrund der Vorschrift des § 77 SGG gehindert war, das mit Zahlungsauftrag vom 3. Juli 1975 bis "zum Beginn der Maßnahme” bewilligte Übergangsgeld mit Wirkung vom 1. März 1975 zu entziehen. Selbst wenn man nämlich diese Frage in Übereinstimmung mit der Beklagten verneinen würde, führte dies zu keinem für die Beklagte günstigeren Ergebnis. Denn der Kläger erfüllte die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung des Übergangsgeldes auch hinsichtlich der Zeit vom 1. März 1975 bis 16. November 1975, so daß der Aufhebungsbescheid vom 22. August 1975 schon aus diesem Grunde keinen Bestand haben konnte.

Sind nach Abschluß medizinischer Maßnahmen zur Rehabilitation berufsfördernde Maßnahmen erforderlich und können diese aus Gründen, die der Betreute nicht zu vertreten hat, nicht unmittelbar anschließend durchgeführt werden, so ist das Übergangsgeld für diese Zeit weiterzugewähren, wenn der Betreute arbeitsunfähig ist und ihm ein Anspruch auf Krankengeld nicht zusteht oder wenn ihm eine zumutbare Beschäftigung nicht vermittelt werden kann (§ 18 e Abs. 1 AVG).

Die Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift liegen für den streitigen Zeitraum zugunsten des Klägers vor.

Die Erforderlichkeit berufsfördernder Maßnahmen für den Kläger nach Abschluß der in der Zeit vom 10. Oktober 1974 bis 14. November 1974 durchgeführten stationären Heilbehandlung ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Sie ergibt sich im übrigen aus dem Entlassungsbericht vom 21. November 1974 sowie dem Gutachten des Obermedizinalrates Dr. R. vom 16. Dezember 1974. Rechtlich unerheblich ist es in diesem Zusammenhang, ob diese Maßnahmen bereits vor oder erst nach Abschluß der medizinischen Maßnahmen erforderlich geworden und von der Beklagten abgeordnet waren (vgl. Urteil des BSG vom 27. Juni 1978 – 4 RJ 90/76 –).

Unstreitig zwischen den Beteiligten ist ferner, daß die berufsfördernden Maßnahmen aus Gründen, die der Kläger nicht zu vertreten hatte, nicht unmittelbar anschließend an die stationäre Heilbehandlung durchgeführt werden konnten. Jedenfalls sind Anhaltspunkte für ein Verschulden des Klägers weder den Verwaltungsakten noch dem Vorbringen der Beteiligten zu entnehmen.

In Übereinstimmung mit den Beteiligten ist schließlich auch davon auszugehen, daß dem Kläger für die Zeit vom 1. März 1975 bis 16. November 1975 ein Anspruch auf Krankengeld wegen Ablaufs der in § 183 Abs. 2 RVO bestimmten Frist nicht zustand.

Unter diesen Umständen bedurfte es keiner Feststellungen mehr, ob der Kläger während der streitigen Zeit noch arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung war. Denn selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, worauf die Beklagte den angefochtenen Bescheid gestützt hat, steht das dem Anspruch des Klägers auf Übergangsgeld nicht entgegen. Da dem Kläger nämlich während der Zeit vom 1. März 1975 bis 16. November 1975 eine zumutbare Beschäftigung nicht vermittelt werden konnte, kann er sich für seinen Anspruch auf Übergangsgeld mit Erfolg auf die zweite Alternative des § 18 e Abs. 1 AVG berufen. Die Voraussetzungen dieser zweiten Alternative sind im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten nicht erst dann erfüllt, wenn der Betreute der Arbeitsvermittlung nicht mehr im Sinne des § 103 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) zur Verfügung steht, also selbst eine theoretische Vermittlungsmöglichkeit nicht mehr gegeben ist. Vielmehr ist insoweit allein auf die faktische Nichtvermittelbarkeit abzustellen, so daß bestehende Leistungsansprüche nach den §§ 100, 134 AFG den Anspruch auf Übergangsgeld nach § 18 e Abs. 1 AVG grundsätzlich nicht ausschließen. Denn diese Vorschrift hat den Sinn, daß derjenige Versicherte, der sich während einer Pause zwischen der medizinischen und berufsfördernden Rehabilitationsmaßnahme zur Verfügung des Rentenversicherungsträgers halten muß und nicht als Arbeitsunfähiger durch Krankengeld oder als Arbeitsfähiger durch Arbeitsentgelt in seiner wirtschaftlichen Existenz gesichert ist, vom Rentenversicherungsträger unterhalten werden muß, da dieser durch die Anordnung der Rehabilitationsmaßnahme den Betreuten zu anderen Dispositionen hindert (vgl. Urteile des BSG vom 27. Juni 1978 – RJ 90/76 – und 12. September 1978 – 5 RJ 8/78 –). Eine andere Betrachtungsweise stünde auch mit dem Wortlaut des § 18 e Abs. 1 AVG nicht in Einklang. Insbesondere setzt die Vermittlung in eine zumutbare Beschäftigung die Verfügbarkeit des Betreuten im Sinne des § 103 AFG gerade voraus (vgl. Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 6. Auflage 1978, § 1241 e Anmerkung 4; Zweng/Scheerer, Das neue Recht der Arbeiter und der Angestellten, 2. Auflage 7. Lieferung, § 1241 e Anmerkung II A 1).

Das von der Beklagten zitierte Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 26. September 1978 zwingt zu keinem anderen Ergebnis. Denn in dieser Entscheidung ist die Frage, ob im Rahmen des § 1241 e Abs. 1 RVO die konkrete Vermittlungsfähigkeit oder die abstrakte Vermittlungsfähigkeit ohne Rücksicht auf die bestehende Arbeitsmarktlage maßgebend ist, ausdrücklich offen gelassen worden.

Bei dieser Sach- und Rechtslage mußte die Berufung des Klägers Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, da der Rechtssache nach Auffassung des Senats grundsätzliche Bedeutung zukommt.
Rechtskraft
Aus
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