L 6 J 1271/77

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 J 1271/77
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Beiziehung und Verwertung von ärztlichen Gutachten aus anderen Verfahren mit anderen Beteiligten ist als Eingriff in die Intimsphäre auch dann unzulässig, wenn die Genehmigung des Betroffenen vorliegt.
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 7. November 1977 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat dem Kläger auch die im Berufungsverfahren zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Aufwendungen zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Erwerbsunfähigkeitsrente.

Der im Jahre 1923 geborene Kläger hat den Beruf eines Bäckers erlernt und die Gesellenprüfung abgelegt. Nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft (1946) war er als Freileitungsmonteur, landwirtschaftlicher Arbeiter, Steinbrucharbeiter, Hilfsarbeiter, Weißbinder, Putzer und Schachtmaurer versicherungspflichtig beschäftigt. Seine letzte Beschäftigung hat er wegen Krankheit aufgegeben. Seit Juli 1973 ist der Kläger beim Arbeitsamt als Arbeitsuchender gemeldet.

Im April 1975 beantragte der Kläger die Gewährung der Versichertenrente. Nach dem zum Rentenantrag eingeholten sozialärztlichen Gutachten vom 18. Juni 1975 liegen beim Kläger folgende Gesundheitsstörungen vor:

1) "Vegetative Fehlsteuerung.
2) Wirbelsäulenverkrümmung.
3) Leichter Rundrücken.
4) Beginnende Verschleißerscheinungen an beiden Kniegelenken.
5) Leistenbruchanlagen beiderseits.
6) Senk-Spreiz-Füße.
7) Alterssichtigkeit.”

Zur Beurteilung der Erwerbsfähigkeit wurde eine Begutachtung durch das Haus H. empfohlen. Die Beklagte holte weiter ein nervenfachärztliches Gutachten bei dem Neurologen Dr. S. ein. In seinem Gutachten vom 1. September 1975 wurde der Kläger für fähig erachtet, körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten im Sitzen und Stehen ohne zeitliche Einschränkungen zu verrichten. Der Kläger sei durchaus in der Lage, die der Realisierung seiner Möglichkeiten entgegenstehenden psychischen Hemmungen zu überwinden.

Durch Bescheid vom 19. September 1973 lehrte die Beklagte den Rentenantrag ab.

Auf den vom Kläger gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch hin holte die Beklagte ein orthopädisches Gutachten bei Prof. Dr. R., Universitätsklinik G., ein. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, daß der Kläger noch mittelschwere Arbeiten im Sitzen, Stehen oder Umhergehen vollschichtig verrichten könne. Daraufhin wurde der Widerspruch gemäß § 83 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als Klage dem Sozialgericht Gießen zugeleitet.

Das Sozialgericht hat einen Befundbericht sowie Krankenunterlagen bei dem behandelnden Arzt des Klägers Dr. A. eingeholt und die Leistungsakten des Arbeitsamtes W. beigezogen. Weiter hat das Sozialgericht zum Leistungsvermögen des Klägers ein neurologisches Gutachten bei dem Sachverständigen Prof. Dr. E. eingeholt. In seinem Gutachten vom 27. April 1977 stellte der Sachverständige eine hypochondrische Depression fest. Diese Krankheit in Verbindung mit dem niedrigen Intelligenzniveau des Klägers schließe eine geregelte Erwerbstätigkeit aus.

Die Beklagte wandte demgegenüber ein, der Sachverständige habe nur eine sehr kursorische Intelligenzprüfung vorgenommen, die nicht mehr ganz dem heutigen Stand der Testdiagnostik entspreche. Es gebe Verfahren, die eine präzisere Aussage über die intellektuelle Leistungsfähigkeit ermöglichten. Insgesamt sei das Gutachten nicht überzeugend. In seiner ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme zu den Einwänden der Beklagten äußerte sich der Sachverständige Prof. Dr. E. am 23. August 1977 dahin, er habe sich bemüht, in einem Längsschnitt durch den ganzen Lebenslauf des Klägers dessen mangelnde Intelligenz nachzuweisen. Die von der Beklagten erwähnten Tests seien für eine intelligenzmäßige Normalbegabung erarbeitet worden und eigneten sich nicht für Unterbegabungen. Deswegen habe er die Testmethoden nicht angewandt und sich vielmehr bemüht, aus Befund wie Anamnese die Frage der Tiefe der depressiven Verstimmung zu klären. Der Sachverständige hielt an seiner Auffassung fest, daß der Kläger nicht mehr imstande sei, sich von bestehenden Hemmungen zu lösen. Er sei berufs- und erwerbsunfähig. Die Beklagte hielt demgegenüber die Einholung eines weiteren neurologischen Gutachtens für erforderlich.

Durch Urteil vom 7. November 1977 hat das Sozialgericht Gießen die Beklagte zur Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente ab 1. April 1975 verurteilt mit der Begründung, der Kläger sei aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. E. erwerbsunfähig. Die von der Beklagten gegen dieses Gutachten erhobenen Bedenken seien nicht überzeugend.

Gegen dieses der Beklagten am 21. November 1977 zugestellte Urteil richtet sich ihre am 15. Dezember 1977 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung, mit der sie sich gegen die vom Sozialgericht vorgenommene Beweiswürdigung wendet. Sie hält ihre gegen das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. E. aufgeführten Bedenken aufrecht und trägt weiter vor, in einem beim Sozialgericht Kassel anhängigen Verfahren habe derselbe Sachverständige in einem Gutachten eine Minderbegabung diagnostiziert. Auf die dagegen erhobenen Einwände habe das Sozialgericht ein weiteres Gutachten bei der Univ. Nervenklinik G. eingeholt. Nach sehr gründlicher Untersuchung sei die Klinik zu dem Ergebnis gekommen, eine schwerwiegende Minderbegabung sei nicht festzustellen und Erwerbsunfähigkeit liege nicht vor. Die Beklagte hält deswegen die Beiziehung der Streitakten dieses Parallelprozesses sowie die Einholung eines erneuten neurologisch-psychiatrischen Gutachtens für erforderlich. Erwerbsunfähigkeit liege noch nicht vor.

Die Beklagte beantragt,
des Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 7. November 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
ein neues neurologisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat die Akten des Versorgungsamts Gießen sowie die Akten des Arbeitsamtes L. (Stamm-Nr. xxxxx) beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Auf ihren Inhalt wird verwiesen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 8. März 1979 war der Kläger trotz ordnungsmäßiger Ladung weder erschienen noch vertreten.

Im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und Rentenakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig; sie ist an sich statthaft und in rechter Form und Frist eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers im Termin entscheiden, da die Ladung einen entsprechenden Hinweis enthielt (§ 110 SGG).

In der Sache selbst erweist sich jedoch die Berufung als unbegründet.

Das angefochtene Urteil ist zu Recht ergangen. Der Kläger ist erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO). Dies hat das Sozialgericht nach Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. E. in überzeugender Weise begründet. Die Einwendungen der Beklagten geben keine hinreichende Veranlassung zu einer anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage. Sie rechtfertigen auch nicht eine weitere Sachaufklärung.

Nach dem vom Sozialgericht eingeholten Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. E. vom 27. April 1977 besteht beim Kläger eine hypochondrische Depression in Verbindung mit einer Minderbegabung. Hierdurch wird die Erwerbsfähigkeit ausgeschlossen. Diese Schlußfolgerung hat der Sachverständige in seiner ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme vom 23. August 1977 ausdrücklich aufrecht erhalten. Er hat sich dabei mit den durchaus beachtlichen Einwendungen der Beklagten ausführlich auseinandergesetzt Kern dieser Einwendungen war das Untersuchungsverfahren zur Feststellung der Intelligenz des Klägers. Hier vermißte die Beklagte die Anwendung bestimmter Tests, die zu zuverlässigeren Ergebnissen führen sollen. Der Sachverständige Prof. Dr. E. hat ausdrücklich die Eignung dieser Tests bestritten. Dies läßt darauf schließen, daß derartige Tests in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein anerkannt sind und auch nicht generell praktiziert werden. Hierdurch wird zumindest zweifelhaft, daß die Anwendung dieser Tests zu einem zuverlässigeren Ergebnis hätte führen müssen. In seiner Stellungnahme vom 23. August 1977 legt der Sachverständige Prof. Dr. E. überzeugend dar, daß er auch ohne die Anwendung der von der Beklagten erwähnten Tests zu einer zutreffenden Beurteilung der Intelligenz des Klägers kommen konnte. Dieser Beurteilung des Sachverständigen schließt sich der erkennende Senat an.

Unter diesen Umständen bedurfte es auch nicht der Einholung eines weiteren Gutachtens. Es ist schon im Hinblick auf die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. E. zumindest sehr zweifelhaft, ob zur vollständigen Begutachtung noch irgendwelche Tests hätten durchgeführt werden müssen. Diese mehr allgemeinen Zweifel sind indessen durch die hier durchgeführte konkrete Begutachtung ausgeräumt. Der Sachverständige Prof. Dr. E. hat sich in überzeugender Weise mit dieser Frage auseinandergesetzt. Es besteht für den Senat keine Veranlassung, die wissenschaftliche Begründung seines Gutachtens durch eine Univ. Klinik ("Obergutachten”) überprüfen zu lassen.

Ebensowenig bedurfte es der Beiziehung der von der Beklagten erwähnten Streitakten eines Parallelverfahrens. Die Einführung in das Verfahren würde schon an § 35 SGB I scheitern, weil eine Einwilligung des Betroffenen nicht vorliegt. Überdies hält es der Senat nicht für angebracht, sich um die Einholung dieser Genehmigung zu bemühen. Die Verwertung dieser Akten in diesem Verfahren würde im Ergebnis darauf hinauslaufen, daß die dem Intimbereich zuzuordnenden medizinischen Befunde und Begutachtungen einem weiteren Personenkreis, hier dem Kläger in diesem Verfahren, zugänglich gemacht werden müßten. Diese Verbreitung von Tatsachen der höchstpersönlichen Sphäre tangiert die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz; vgl. auch BVerfGE 27, 1) und hat aus dieser Erwägung heraus schon zu unterbleiben. Die Beiziehung der Streitakten des Parallelverfahrens würde auch zur Sachaufklärung nichts Wesentliches beitragen. In dem Parallelprozeß war ein anderer Kläger zu begutachten. Möglicherweise hat sich der Sachverständige Prof. Dr. E. in dem Parallelprozeß geirrt, weil dort aus irgendwelchen Gründen bestimmte Tests durchgeführt werden mußten. Dies ist jedoch nicht Gegenstand dieses Rechtsstreites. Hier bestehen unter Würdigung der gesamten Umstände keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, daß im Gegensatz zu dem Parallelprozeß gerade hier Intelligenzprüfungen durchgeführt werden mußten. Unter Abwägung dieser Umstände sah sich der erkennende Senat deshalb veranlaßt, von der Beiziehung der Streitakten eines Parallelprozesses Abstand zu nehmen.

Nach alldem erweist sich die Berufung als unbegründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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