L 8 Kr 319/77

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 Kr 319/77
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Berufung ist auch dann nicht zulässig, wenn eine Krankenkasse einen auf sie übergegangenen Rentenanspruch für einen bereits abgelaufenen Zeitraum geltend macht.
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 4. Januar 1977 wird als unzulässig verworfen.

2. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des zweiten Rechtszuges zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die 1921 geborene Klägerin, die als Hausgehilfin, Büfetthilfe und Hilfsarbeiterin tätig war, arbeitete von 1966 bis Oktober 1972 als Teppichweberin. Seit Mitte Oktober 1972 war sie arbeitsunfähig erkrankt und bezog ab 19. Oktober 1972 bis zur Aussteuerung am 17. April 1974 Krankengeld von der Beklagten.

Die Klägerin beantragte am 18. April 1973 bei der Landesversicherungsanstalt Hessen – der Beigeladenen – Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Daraufhin meldete die Beklagte am 27. April 1973 bei der Beigeladenen den Erstattungsanspruch gem. § 183 Reichsversicherungsordnung (RVO) an und sandte gleichzeitig der Klägerin ein Formularschreiben zu, in dem es u.a. heißt: "Sollte der Träger der Rentenversicherung Ihnen irrtümlich den uns zustehenden Teil der Rente oder des Übergangsgeldes mit auszahlen, dann sind sie verpflichtet, diesen Teilbetrag an uns zu erstatten. Sie können aufgrund dieser Aufklärung später nicht den Einwand erheben, nicht mehr ungerechtfertigt bereichert zu sein”.

Mit Schreiben vom 9. April 1974 teilte die Beklagte der Klägerin mit, daß der Anspruch auf Krankengeld und Krankenhauspflege am 17. April 1974 ende. Die Beigeladene gewährte mit Bescheid vom 29. Juli 1974 Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. April 1973. Der Nachzahlungsbetrag belief sich auf 3.200,– DM, der vorsorglich bis zur Klärung etwaiger Ansprüche dritter Stellen einbehalten worden ist. Das teilte der Bescheid der Klägerin mit dem weiteren Hinweis mit, daß die Abrechnung unaufgefordert erfolge, sobald die Sachlage geklärt sei.

Auf die Anfrage der Beigeladenen vom 29. Juli 1974 ließ die Beklagte mit Schreiben vom 5. August 1974 wissen, daß im vorliegenden Falle der Kasse kein Ersatzanspruch gem. § 183 RVO entstanden sei. Daraufhin erfolgte am 26. August 1974 die Auszahlung des Betrages von 3.200,– DM an die Klägerin.

Nachdem die Beklagte dann am 11. Oktober 1974 festgestellt hatte, daß eine Ersatzforderung gem. § 183 RVO für die Zeit vom 1. April 1973 bis 17. April 1974 in Höhe von 2.414,90 DM bestanden hatte, forderte sie die Klägerin mit Schreiben vom 11. Oktober 1974 auf, diesen Forderungsbetrag aus der Rentennachzahlung an sie zu erstatten. Die Klägerin erwiderte darauf, daß sie nicht in der Lage sei, diesen Betrag zurückzuerstatten, weil sie sich mit diesem Geld Wünsche erfüllt habe, für die sie vorher nicht die Geldmittel gehabt hätte.

Nachdem weitere Mahnungen wegen der Rückforderung nicht zum Erfolg geführt hatten, erteilte die Beklagte den Bescheid vom 19. Juni 1975, mit dem sie nochmals den Betrag von 2.414,90 DM bis zum 5. Juli 1975 zurückforderte.

Der auf den Widerspruch erlassene Widerspruchsbescheid vom 5. August 1975 führte aus, der Empfänger habe die zu Unrecht erhaltenen Leistungen zu erstatten, wenn er die Überzahlung erkannt und damit bewußt ausgenutzt habe oder den der Krankenkasse unterlaufenen Rechts- oder Tatsachenirrtum wegen seiner Offensichtlichkeit hätte erkennen müssen. Nach bürgerlichem Recht (§ 812 BGB) sei der Empfänger verpflichtet, dasjenige, was er ohne rechtlichen Grund auf Kosten eines anderen erlangt habe, diesem herauszugeben. Die Bereicherung sei nicht weggefallen, wenn der Empfänger mit dem Erhaltenen eigene Schulden getilgt habe, und zwar selbst dann nicht, wenn der Empfänger im übrigen vermögenslos sei oder mit dem Erlangten notwendige Auslagen bestritten habe. Das sei vorliegend der Fall, so daß hinsichtlich des Doppelempfanges von Barleistungen eine ungerechtfertigte Bereicherung bestehe.

In dem Klageverfahren vor dem Sozialgericht Kassel hat die Klägerin vorgetragen, sie habe die Nachzahlung gutgläubig in Empfang genommen und verbraucht. Sie sei durch einen Fehler der Beklagten von der Beigeladenen ausgezahlt worden. Sie habe annehmen müssen, daß der Zahlbetrag ordnungsgemäß entrichtet worden sei.

Dazu hat die Beklagte ausgeführt, der Leistungsempfänger sei nur dann nicht zur Erstattung verpflichtet, soweit er die Bereicherung gutgläubig verbraucht habe. Die Klägerin habe den Irrtum wegen der hier gegebenen Offensichtlichkeit erkennen müssen. Sie habe die dadurch eingetretene Situation nicht ausnutzen dürfen. Die empfangene Leistung sei deshalb auch voll zu erstatten. Ein Vertrauensschutz könne ihr nicht eingeräumt werden, weil sie über den Anspruchsübergang der zu erwartenden Rentennachzahlung durch die Mitteilung der Kasse vom 27. April 1973 unterrichtet worden sei.

Mit Urteil vom 4. Januar 1977 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 19. Juni 1975 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. August 1975 aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, die Beklagte habe keinen Anspruch auf Erstattung des Betrages von 2.414,90 DM gegenüber der Klägerin. Ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch sei nicht gegeben, da eine Bereicherung um die gewährte Leistung angesichts der geringen Rentenhöhe nicht ersichtlich sei. Sie habe die Überzahlung nicht schuldhaft verursacht. Sie beruhe vielmehr auf unsachgemäßer Bearbeitung im Verantwortungsbereich der Beklagten und der Beigeladenen. Sie habe die Auszahlung der Nachzahlung auch nicht als offensichtlich fehlerhaft erkennen müssen. Daran ändere auch nichts das Formular schreiben vom 27. April 1973. Im Hinblick auf die Erklärungsbedeutung der Mitteilung der Beigeladenen vom 26. August 1974 habe sich der Klägerin nicht aufdrängen müssen, keinen Anspruch auf der Nachzahlung zu haben. Die Rückforderung durch die Beklagte stelle hier einen Verstoß gegen Treu und Glauben dar, da der Fehler in ihren Verantwortungsbereich falle.

Gegen das der Beklagten am 3. März 1977 zugestellte Urteil hat sie am 24. März 1977 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegt, das mit Beschluss vom 28. Juni 1978 die Landesversicherungsanstalt Hessen beigeladen hat. Zur Begründung trägt sie vor, die Klägerin habe über den ihr irrtümlich überwiesenen Betrag von 2.414,90 DM nicht verfügen dürfen. Sie sei in entsprechender Anwendung des § 816 Abs. 2 BGB zur Herausgabe an sie verpflichtet. Ihre Weigerung verstoße gegen Treu und Glauben, weil sie auf diese Weise einen doppelten Zufluß von Sozialleistungen für sich beanspruche. Am 29. März 1973 sei sie darauf hingewiesen worden, daß die weitere wirtschaftliche Versorgung im Einblick auf die vorliegende Erwerbsunfähigkeit auf den Rentenversicherungsträger überzuleiten sei. Sie sei damit klar und eindeutig auf den Forderungsübergang im Falle einer Rentennachzahlung hingewiesen worden. Im vorliegenden Falle handele es sich nicht um eine Rückforderung zu Unrecht gewährter Leistungen, sondern um den Ausgleich, der aus einer falschen Einschätzung der Gläubigerstellung entstanden sei. Die Klägerin sei ungerechtfertigt bereichert, da im Falle von Vermögensumschichtung von einer fortdauernden Bereicherung auszugehen sei. Im übrigen hätte sie die Auszahlung der Rentennachzahlung als offensichtlich fehlerhaft erkennen müssen.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 4. Januar 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Beigeladene unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Kassel vom 4. Januar 1977 zu verurteilen, an sie den Betrag von 2.414,90 DM zu zahlen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt ergänzend aus, sie habe das Geld in gutem Glauben annehmen und verbrauchen können. Es sei erst dann ausgezahlt worden, nachdem von keiner Seite Ersatzansprüche angemeldet worden seien. Sie habe damit Geschenke gemacht und sich lang ersehnte persönliche Wünsche erfüllt, die durch den Ausbau ihrer Wohnung und die Schulausbildung der Tochter in D. immer wieder hätten zurückgestellt werden müssen. Es sei nicht zutreffend, daß sie den Nachzahlungsbetrag überwiegend ihrem Mann überlassen habe.

Die Beigeladene beantragt,
die Berufung und den Hilfsantrag der Beklagten zurückzuweisen.

Sie wendet ein, die Auszahlung der Rentennachzahlung an die Klägerin sei mit befreiender Wirkung erfolgt. Sie habe insoweit keine Ermittlungspflicht gehabt, warum kein Forderungsübergang geltend gemacht worden sei.

Die Verwaltungsakten der Beklagten und die Rentenakte der Landesversicherungsanstalt Hessen haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakte beider Rechtszüge, der auszugsweise in der mündlichen Verhandlung vorgetragen worden ist, wird zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung, über die der Senat trotz Ausbleibens der Klägerin entscheiden konnte, da die Ladung einen entsprechenden Hinweis enthielt (§ 110 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –), ist nach § 151 Abs. 1 SGG frist- und formgerecht eingelegt worden. Sie ist jedoch im übrigen nicht zulässig (§ 146 SGG), denn der Rechtsstreit wird um eine Rente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum geführt. Das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 4. Januar 1977 betraf einen Rentenanspruch für einen abgelaufenen Zeitraum, nämlich vom 1. April 1973 bis 17. April 1974. Diese Vorschrift und nicht § 149 SGG (SozR Nr. 19 zu § 146 SGG; Peters-Sautter-Wolff, Komm. z. Sozialgerichtsbarkeit zu § 146 Nr. 4 III/40 – 2/1 m.w.N.) ist dann anwendbar, wenn wie hier die Beklagte einen nach § 183 Abs. 3 Satz 2 RVO auf sie übergegangenen Anspruch gegen die Klägerin geltend macht. Bei diesem Anspruch handelt es sich um einen Rentenanspruch und nicht um einen Erstattungsanspruch (Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Teil 2 § 183 Nr. 6, 17/354 ff.), der kraft Gesetzes auf die Krankenkasse übergegangen ist. Denn § 183 Abs. 3 S. 2 RVO reguliert Fälle einer zu Unrecht erfolgten Krankengeldleistung, die aus der Unkenntnis der späteren Rentenbewilligung heraus ihren Unrechtscharakter herleitet. Der Rentenanspruch, der mit der Rentenzubilligung existent ist, geht so auf die Krankenkasse für den gesetzlich umrissenen Zeitraum über, wie er für diesen Zeitraum entstanden und nicht erloschen ist. Durch diesen Übergang ändert sich auch nichts an der Natur des übergegangenen Anspruchs. Vielmehr tritt der neue Berechtigte in vollem Umfange in die Rechtsstellung des bisherigen Berechtigten ein. Das gilt auch für die Anwendung der Berufungsausschließungsgründe. Die Beklagte ist vorliegend in die Gläubigerstellung eingerückt, die vorher die Rentenberechtigte inne hatte. Damit gehören zu dieser Gläubigerstellung auch die besonderen mit dem materiellen Recht verbundenen prozessualen Möglichkeiten und Befugnisse, da die Wirkung des § 146 SGG nicht an die Person des ursprünglichen Gläubigers des Rentenanspruchs, nämlich des Versicherten, geknüpft ist. Denn es ist kein Grund ersichtlich, die prozessuale Rechtsstellung des Berechtigten verschieden zu gestalten, je nach dem, ob der Versicherte oder die Krankenkasse den Rentenanspruch geltend macht. Ohne Bedeutung für dieses Ergebnis ist der Umstand, daß die Beklagte die Rente als Ersatz für das an die Klägerin gezahlte Krankengeld verlangt. Denn die Zahlung des Krankengeldes gibt nur den Rechtsgrund für die Überleitung der Rente, ohne daß sich damit an der Natur des Anspruchs als Rentenanspruch etwas ändert. Geltend gemacht mit den angefochtenen Verwaltungsakten hat die Beklagte gegenüber der Klägerin den Anspruch auf Rente. Das war damit der Streitgegenstand, der allein für das Ziel der Klage entscheidend ist. Das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 4. Januar 1977 und ebenfalls die Berufung der Beklagten betreffen Rentenansprüche für bereits abgelaufene Zeiträume, so daß die Berufung nach § 146 SGG ausgeschlossen ist.

Die Berufung war auch nicht nach § 150 Nr. 1 SGG statthaft. Die falsche Rechtsmittelbelehrung des Sozialgerichts, die Berufung sei zulässig, stellt keine Zulassung der Berufung dar (BSG 2, 121 ff.). Die Zulässigkeit der Berufung ergibt sich auch nicht aus § 150 Nr. 2 SGG, denn die Beklagte hat keinen wesentlichen Mangel des Verfahrens gerügt.

Bei dieser Sach- und Rechtslage war es dem Senat verwehrt, auf das Begehren der Beklagten einzugehen, zumal Verfahrensfehler, die von Amts wegen hätten beachtet werden müssen, nicht ersichtlich sind.

Die Berufung war daher als unzulässig zu verwerfen (§ 158 Abs. 1 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG kam nach Lage des Falles nicht in Betracht.
Rechtskraft
Aus
Saved