L 6 R 733/07

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 R 88/05
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 6 R 733/07
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Beweiswürdigung bei einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 21. Mai 2007 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1951 geborene Kläger hat von August 1966 bis Februar 1970 eine Lehre zum Elektroinstallateur absolviert. Im Anschluss daran war er von Mai 1972 bis Juni 1973 als Gleisbauarbeiter, von Juli 1973 bis November 1985 als Kolonnenführer - Kabelbau, vom 13. bis 24. Januar 1986 als Mechaniker, vom 1. bis 2. Dezember 1986 als Heizer, vom 16. Februar 1987 bis 19. März 1989 als Munitionsarbeiter und Staplerfahrer bei den US Streitkräften, vom 2. April 1989 bis 4. April 1990 als Gleisbauarbeiter und vom 5. April 1990 bis 31. Juli 1998 als Auslieferungsfahrer versicherungspflichtig beschäftigt. Nach einer Umschulung zum Kraftfahrer im Baugewerbe vom 1. Oktober 1989 bis 16. April 1999 war der Kläger zuletzt vom 17. April 1999 bis 31. Mai 2002 als Fahrer eines Betonmischers und Arbeiter im Bereich der Herstellung von Betonfertigteilen versicherungspflichtig beschäftigt. Vom 18. Februar 2003 des 11. März 2003 nahm der Kläger an einer Maßnahme der medizinischen Rehabilitation teil. Ab 11. April 2002 bis 4. September 2003 war der Kläger arbeitsunfähig, vom 5. September 2003 bis 14. Oktober 2005 bezog er Arbeitslosengeld, vom 15. Oktober 2005 bis 14. April 2006 Überbrückungsgeld und erneut vom 15. April 2006 bis 23. April 2006 Arbeitslosengeld. Ab 24. April 2006 war der Kläger arbeitslos ohne Leistungsbezug.

Der Kläger begehrte mit Antrag vom 12. Oktober 2004 die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte holte ein chirurgisches Gutachten von Dr. M. vom
17. Januar 2005 ein, der dem Kläger noch ein Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bescheinigte. Seiner Beurteilung legte er folgende Gesundheitsstörungen zu Grunde: Dysthymie mit vermehrter Angstbereitschaft, Hüftgelenksbeschwerden links bei Ernährungsstörung des Hüftkopfes, wirbelsäulenabhängige Beschwerden ohne Hinweise auf eine schwerwiegende Nervenwurzelschädigung, beginnende Abnutzungserscheinungen rechtes Knie, Bluthochdruck, chronische Bronchitis bei Nikotinmissbrauch, Ohrengeräusche, Schwindelzustände, Übergewicht, Fettleber, Fettstoffwechselstörung, chronisches Schmerzsyndrom mit Somatisierung.

Daraufhin lehnte die Beklagte mit angefochtenem Bescheid vom 14. September 2004 den Antrag ab.

Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens durch Dr. S., der noch ein mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt feststellte, mit Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 2005 zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger zum Sozialgericht Regensburg (SG) Klage erhoben. Das SG hat zunächst gemäß § 106 SGG Beweis erhoben durch ein orthopädisches Gutachten von Prof. Dr. G. vom 27. Juni 2005. Prof. Dr. G. stellte noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen des Klägers für leichte körperliche Tätigkeiten, aufsichtsführende und überwachende Tätigkeiten, die einen Wechsel zwischen stehender, gehender und sitzender Position erlauben, fest. Nicht mehr möglich seien längere Zwangshaltungen in gebückter oder vorgebeugter Rumpfhaltung, regelmäßige oder länger andauernde Überkopftätigkeiten, längeres Tragen oder Heben von mittleren oder schweren Lasten, Tätigkeiten unter klimatischen Belastungen (Nässe, Kälte).

Der daraufhin auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG beauftragte Neurologe und Psychiater Dr. T. bescheinigte in seinem Gutachten vom 2. Januar 2006 dem Kläger hingegen nur noch ein Leistungsvermögen von weniger als 3 h täglich für Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Beim Kläger liege eine chronifizierte Dysthymia, eine Cervikobrachialgie rechts im Sinne einer sensiblen C6 Wurzelreizsymptomatik, Lumboischialgie links im Sinne einer sensiblen L5 Wurzelreizsymptomatik sowie ein Tinnitus rechts deutlicher als links vor. Durch die chronifizierte Wurzelreizsymptomatik mit paroxysmalen Ängsten, die Antriebshemmung mit Müdigkeit und Erschöpfbarkeit erscheine ein geregelter Arbeitseinsatz dem Patienten nicht mehr zumutbar.

Die Beklagte führte in ihrer Stellungnahme vom 26. Mai 2006 aus, aufgrund des nur wenig auffälligen psycho-pathologischen Befundes sei von einem mehr als sechsstündigen Leistungsvermögen der Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugehen.

Daraufhin holte das Gericht gemäß § 106 SGG ein weiteres nervenärztliches Gutachten von Dr. G. ein. Der Sachverständige kommt in seinem Gutachten vom 10. Juli 2006 zu dem Ergebnis, der Kläger könne aufgrund einer depressiven Erkrankung im Sinne einer Dysthymie, verbunden mit einer vermehrten Angstbereitschaft und Rückzugstendenzen sowie einem sensiblen C6-Syndrom nur noch 3 bis unter 6 Stunden täglich Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten. Der Zustand bestehe seit 20. Dezember 2005 (Untersuchung durch Dr. T.). Eine Besserung der Angstzustände und des depressiven Syndroms sei unter einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung möglich.

Auch zu diesem Gutachten führte die Beklagte aus, dass aus dem erhobenen psychopathologischen Befund einer Minderung des zeitlichen Leistungsvermögens für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht abgeleitet werden könne. Kognitive Störungen bzw. schwere Antriebsstörungen, die eine gravierende Leistungseinschränkung bedingen würden, lägen nicht vor.

Mit Urteil vom 21. Mai 2007 verurteilte das SG die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 14. September 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Januar 2005, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer unter der Annahme eines Leistungsfalles vom 20. Dezember 2005 zu gewähren. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Das Gericht schließe sich den Schlussfolgerungen von Dr. T. an, wonach das Leistungsvermögen unter 3 Stunden liege und mit einer Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit nicht gerechnet werden könne. Der Kläger sei daher bereits jetzt auf Dauer zu berenten.

Mit der hiergegen erhobenen Berufung verwies die Beklagte auf ihre im Klageverfahren erhobenen Einwendungen gegen die Gutachten von Dr. T. und Dr. G ... Die mäßiggradige Reduzierung von Antrieb und Schwung sowie die vermehrte Angstbereitschaft im Gespräch mit anderen Menschen in der Öffentlichkeit rechtfertige keine quantitativen Leistungseinschränkungen. Mit qualitativen Leistungseinschränkungen (Tätigkeiten ohne besondere nervliche Belastung und ohne viel Publikumsverkehr) werde den Erkrankungen des Klägers ausreichend Rechnung getragen.

Der Senat hat Befundberichte des Hals-Nasen-Ohrenarztes Dr. B., des Neurologen und Psychiaters Dr. T., des Allgemeinmediziners Dr. E. sowie des Orthopäden Dr. K. eingeholt und die Schwerbehindertenakten beim Versorgungsamt R. beigezogen. Er hat gemäß § 106 SGG Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens von Dr. K ... Dr. K. stellt in seinem Gutachten vom 15. September 2008 fest, dass dem Kläger aufgrund seiner multiplen schweren Erkrankungen im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates sowie aufgrund der wesentlichen neurologisch-psychiatrischen Erkrankungen nur noch leichte körperliche Tätigkeiten weniger als 3 Stunden täglich zumutbar seien. Eine Verbesserung des Gesundheitszustandes sei unwahrscheinlich. Weitere Gutachten seien nicht erforderlich.

Daraufhin gab die Beklagte ein Vergleichsangebot ab, in dem sie den Eintritt von voller Erwerbsminderung ab 15. Juli 2008 und einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbs-minderung ab 1. August 2008 längstens bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze anerkannte. Im Vergleich zur fachorthopädischen Untersuchung vom 21. Juni 2005 habe sich eine deutliche Verschlechterung der Funktionseinschränkung, der Hüftgelenksbeweglichkeit und auch des muskulären Zustands gezeigt. Mit dem Zeitpunkt der aktuellen Begutachtung sei das Leistungsvermögen aus orthopädisches Sicht auf unter 3 Stunden abgesunken.
Der Kläger hat dieses Vergleichsangebot nicht angenommen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Regensburg aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Akten des Sozialgerichts Regensburg und der Beklagten verwiesen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.



Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem SG und vor dem erkennenden Gericht steht für den Senat fest, dass der Kläger jedenfalls seit 20. Dezember 2005 voll erwerbsgemindert auf Dauer ist.

Der Senat weist zunächst die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Urteils des SG zurück und sieht daher von der weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (vgl. § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Ergänzend wird auf folgendes hingewiesen:

Nach den überzeugenden Feststellungen von Dr. T. leidet der Kläger bereits seit Antragstellung im Mai 2004 unter einer chronischen depressiven Erkrankung, die durch eine gedrückte Stimmung mit Einschränkung der affektiven Schwingungsfähigkeit, Müdigkeit, Erschöpfbarkeit, Antriebshemmung und paroxysmale Angstzustände gekennzeichnet ist. Beim Kläger zeigte sich eine Grübelneigung bei unsicherer Grundhaltung, erkennbare Agitiertheit und latente Anspannung bei desparater Grundeinstellung. Auch Dr. G. bescheinigte dem Kläger ein deutlich ausgeprägtes depressives Syndrom mit einer deutlichen Einschränkung der psycho-physischen Belastbarkeit.

Hinzu kommen nach den Feststellungen von Dr. K. erhebliche orthopädische Gesund-heitsstörungen, die ebenfalls bereits seit Mai 2004 bestehen. Hervorzuheben sind hier insbesondere das chronische degenerative HWS-Syndrom mit pseudoradikulären Ausstrahlungen, ein rezidivierendes C6-Syndrom sowie ein chronisches rezidivierendes degeneratives LWS-Syndrom mit pseudoradikulären Ausstrahlungen sowie Hüftgelenks-arthrose beidseits, links bei Hüftkopfnekrose.

Bereits Professor Dr. G. hatte in seinem Gutachten vom 27. Juni 2005 allein aufgrund der orthopädischen Gesundheitsstörungen ein stark herabgesetztes Leistungsvermögen des Klägers festgestellt, das sich auf leichte Tätigkeiten mit zahlreichen qualitativen Ein-schränkungen (kein häufiges Heben und Bewegen mittlerer bis schwerer Lasten, keine gebückte Haltung, keine Zwangshaltung, keine Oberkörpervorneigung, keine längeren Gehstrecken, keine Überkopftätigkeiten, keine Arbeiten in statisch sitzender Position, keine Tätigkeiten unter klimatischen Belastungen wie Kälte und Nässe, Möglichkeit des Wechsels zwischen stehender, gehender und sitzender Position, Notwendigkeit für Pausen in regelmäßigen Abständen bei verstärktem Anfall von Schreibtischtätigkeiten, keine Tätigkeiten über Schulterniveau) beschränkt hat. Prof. Dr. G. sah letztlich nur noch eine Einsatzfähigkeit für leichte aufsichtsführende oder überwachende Tätigkeiten.

Die aus dem nervenärztlichen Fachgebiet resultierenden Einschränkungen der Leistungsfähigkeit des Klägers hat Prof Dr. G. hierbei jedoch nicht berücksichtigt. Insbesondere die Antriebshemmung und die paroxysmalen Ängste des Klägers, die im Gespräch mit anderen Menschen bzw. in der Öffentlichkeit auftreten, stehen derartigen Tätigkeiten nach Auffassung des Senats jedoch entgegen. Es ist daher nachvollziehbar, dass Dr. K. bei Würdigung des medizinischen Gesamtbildes zu dem Ergebnis kommt, dass bereits seit Mai 2004 die Gesundheitsstörungen des Klägers ein Ausmaß erreicht haben, das nur noch die Verrichtung von Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter 3 Stunden täglich zulässt. Damit ist jedenfalls ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Annahme eines Leistungsfalles vom 20. Dezember 2005 gerechtfertigt.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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