L 3 U 128/73

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 128/73
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine Studentin, die sich während der Semesterferien am Universitätsort auf eine Prüfung vorbereitet, ohne dabei Universitätseinrichtungen zu benutzen, steht während einer Heimfahrt in die elterliche Wohnung nicht unter Versicherungsschutz.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichtes Fulda vom 28. November 1972 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die 1951 geborene Klägerin ist seit dem Wintersemester 1969 ordentliche Studierende der Philipps-Universität in M ... Sie bewohnt am Hochschulort ein möbliertes Zimmer, daß sie auch außerhalb der Semester angemietet hält und zeitweise benutzt. Ansonsten lebt sie im elterlichen Haushalt in S ...

In den Semesterferien zwischen dem Sommersemester 1971 und dem Wintersemester 1971/1972 bereitete die Klägerin sich auf eine für die Zeit vom 4. bis zum 18. Oktober 1971 vorgesehene 4-tägige Vordiplomprüfung am Hochschulort vor. Vormittags lernte sie in ihrer Unterkunft; nachmittags erarbeitete sie den Prüfungsstoff mit einer Kommilitonin in deren gemietetem Zimmer durch gemeinschaftliche Abfragen. Hochschuleinrichtungen wurden hierzu nicht aufgesucht. Das Mittagessen nahm sie meistens in der nahegelegenen Mensa ein. Ansonsten verköstigte sie sich in ihrer Unterkunft.

Am Samstag, dem 11. September 1971, verunglückte die Klägerin auf einer Wochenendheimfahrt in die elterliche Wohnung. Sie erlitt hierbei eine Commotio cerebri, Schnittwunden im Gesicht, multiple Prellungen und Schürfwunden und einen Unterkieferbruch rechts mit Zahnschaden und mußte stationär behandelt werden.

Mit Bescheid vom 27. Januar 1972 lehnte die Beklagte Entschädigungsansprüche wegen dieses Unfalles ab. Zur Begründung hieß es: Die Klägerin habe sich nicht auf einer versicherten Familienheimfahrt befunden. Sie sei auf dem Weg vom Hochschulort an ihren Heimatort nach einer dem privaten Lebensbereich zuzuordnenden Tätigkeit gewesen. Am Hochschulort habe sie sich nämlich nicht aus Anlaß einer versicherten Tätigkeit aufgehalten, sondern sich dort freiwillig ohne Teilnahme an einer Hochschulveranstaltung auf eine Vordiplomprüfung durch privates Lernen vorbereitet.

Gegen diesen am 28. Januar 1972 per Einschreiben abgesandten Bescheid hat die Klägerin am 22. Februar 1972 vor dem Sozialgericht Fulda Klage erhoben und vorgebracht: Sie sei auf einem versicherten Weg zwischen Hochschulort und Heimatort verunglückt. Der Versicherungsschutz erstrecke sich in Fällen der vorliegenden Art auf alle Tätigkeiten, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Besuch der Hochschule stünden. Der Aufenthalt in M. sei zur Vorbereitung der noch vor Beginn des Wintersemesters 1971/1972 angesetzten Vordiplomprüfung erforderlich gewesen, da sie zusammen mit ihrer Kommilitonin in einer Gruppe geprüft worden sei.

Das Sozialgericht hat das Studentenwerk M. als Träger der Studentischen Krankenversicherung beigeladen und am 28. November 1972 nach einer persönlichen Anhörung der Klägerin die Beklagte verurteilt, das Unfallereignis vom 11. September 1971 als Arbeitsunfall zu entschädigen. Es hat die unfallbringende Fahrt als versicherte Familienheimfahrt angesehen und u.a. ausgeführt: Zwischen dem Aufenthalt der Klägerin am Universitätsort und dem Studium an der Hochschule habe ein ursächlicher Zusammenhang bestanden. Die Klägerin habe sich nicht zufällig, sondern zum Zwecke der Vorbereitung auf eine Prüfung in M. aufgehalten. Die vom Grundgesetz auch dem Studierenden garantierte Freiheit von Forschung und Lehre ermögliche es ihm, im Gegensatz zu sonst im Arbeitsleben Tätigen im einzelnen das Studium in freier Verantwortlichkeit auszugestalten, wozu auch die Entscheidung über den Ort und die Art der Studien gehöre. In diesem Rahmen sei für die Annahme des Versicherungsschutzes maßgeblich, daß die Klägerin wegen einer noch in den Semesterferien beginnenden Prüfung hierzu Vorbereitungen am Studienort getroffen habe, wobei der gemeinsamen Arbeit in Prüfungsgruppen eine besondere Bedeutung zukomme.

Gegen das ihr am 12. Januar 1973 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 6. Februar 1973 Berufung eingelegt. Sie beruft sich auf ihr bisheriges Vorbringen und macht ergänzend geltend: Die sozialgerichtliche Auffassung bedeute im Ergebnis eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Besserstellung der an Hochschulen Studierenden gegenüber anderen Lernenden. Das Sozialgericht sei mit seiner Entscheidung vom geltenden Grundsatz der Unternehmensbezogenheit abgewiesen und habe das Grundrecht der Freiheit von Forschung und Lehre mit der dem Studierenden allgemein eingeräumten Freizügigkeit verwechselt.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Fulda vom 28. November 1972 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Unfall- und Streitakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig.

Sie ist auch begründet. Das auf die zulässige Klage ergangene sozialgerichtliche Urteil mußte aufgehoben werden. Die Klage gegen den angefochtenen Bescheid ist nicht begründet; er ist nicht rechtswidrig. Die Klägerin hat sich bei der unfallbringenden Fahrt am 11. September 1971 von M. nach S. nicht auf einem dem Versicherungsschutz unterliegenden Weg von der Unterkunft am Ort der Tätigkeit zu ihrer ständigen Familienwohnung befunden.

Nach § 539 Abs. 1 Nr. 14 d RVO in der Fassung des Gesetzes über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 – BGBl. I S. 237 – sind gegen Arbeitsunfall Studierende während der Aus- und Fortbildung an Hochschulen versichert und damit gem. § 550 Satz 3 RVO i.d.F. des gleichen Gesetzes auch auf dem Weg von und nach der Familienwohnung.

Zwar ereignete sich der Unfall der Klägerin auf dem Weg vom Hochschulort zu ihrer Familienwohnung. Sie hatte nämlich, auch wenn sie während des Semesters oder auch zeitweise in der vorlesungsfreien Zeit am Universitätsort ein möbliertes Zimmer bewohnte, als Studierende und Ledige regelmäßig ihren Lebensmittelpunkt in der elterlichen Wohnung (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, Anm. 23 c zu § 550 RVO). Umstände, die auf eine Verlegung des Lebensmittelpunktes an den Hochschulort hindeuten, lassen sich hier nicht feststellen, zumal die im Unfallzeitpunkt noch minderjährige Klägerin nach ihren glaubhaften Angaben während der Vorlesungszeit an den Wochenenden meistens nach Hause gefahren ist und sich in den Semesterferien sonst regelmäßig im elterlichen Haushalt aufgehalten hat. Hierüber besteht unter den Beteiligten auch kein Streit.

Indessen gewinnt die Fahrt von M. nach S. während der Semesterferien noch nicht allein deshalb den Charakter einer geschützten Familienheimfahrt, weil es sich um eine solche vom Hochschulort in die elterliche Wohnung gehandelt hat. Voraussetzung hierfür ist vielmehr, worauf die Beklagte zutreffend hinweist, daß sich die Klägerin vor Antritt der Fahrt am Hochschulort aus hochschulbezogenen Gründen aufgehalten haben müsste (§ 550 Satz 3 i.V.m. § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO). Nach Wortlaut und Sinn des durch des o.g. Gesetz vom 18. März 1971 eingefügten § 539 Abs. 1 Nr. 14 d RVO scheidet im vorliegenden Fall der Versicherungsschutz aber aus. Geschützt sollen danach nur die Tätigkeiten der ordentlichen Studierenden "während der Aus- oder Fortbildung an Hochschulen” sein, worunter lediglich der Besuch einer zur Hochschule gehörenden Einrichtung verstanden werden kann. Es muß eine unmittelbare zeitliche und räumliche Beziehung zur Hochschule oder zu ihren einzelnen Einrichtungen (z.B. Bibliotheken) bestehen (so auch zu § 539 Abs. 1 Nr. 14 o RVO; LSG Rheinland-Pfalz, Urt. vom 12.8.1970 – L-3/U-74/69 in RSp. Dienst Nr. 1310; bestätigt durch BSG, Urt. v. 22.2.1973 – 2 RU 150/70 –). Hierbei kann offen bleiben, ob für die Gewährung des Versicherungsschutzes der Besuch z.B. der Universitäts- oder einer speziellen Institutsbibliothek in der vorlesungsfreien Zeit, um z.B. gehörten Stoff nachzuarbeiten, ausreicht. Im hiesigen Fall hat die Klägerin nach ihren eigenen Angaben während ihres Aufenthaltes im September 1971 in M. die Einrichtungen der Hochschule nicht aufgesucht. Sie hat sich vielmehr morgens in dem von ihr am Hochschulort gemieteten möblierten Zimmer durch Lernen Fachwissen angeeignet und nachmittags das Gelernte durch gegenseitiges Abfragen in der Unterkunft einer Kommilitonin vertieft. Dieses Lernen geschah jeweils im privaten häuslichen Bereich und ist daher dem persönlichen Lebensbereich zuzuordnen, ohne daß dadurch, daß an der Hochschule vermitteltes Wissen gefestigt werden sollte, eine versicherungsgeschützte Tätigkeit ausgeübt wurde (vgl. auch: LSG Rheinland-Pfalz und BSG a.a.O.; Vollmar in Wege zur Sozialversicherung, Heft 75, Anm. 3.4.4. S. 45). Diese Tätigkeit unterscheidet sich nicht von der anderer Lernender z.B. an Fachschulen, Berufsfach- und Berufsschulen, Schulungskursen und ähnlichen Einrichtungen, die bisher nach § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO i.d.F. des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 (BGBl. I S. 241) versichert waren. Auch hier handelte es sich stets um eine unversicherte Beschäftigung, wenn der betreffende Schüler in der unterrichtsfreien Zeit im häuslichen – und daher privaten – Bereich vermittelten oder angebotenen Wissensstoff nacharbeitete oder vorbereitete, sei es, daß er Hausaufgaben erledigte, sei es, daß er in anderer Form lernte, z.B. auch durch Nachhilfeunterricht (vgl. Vollmar a.a.O., S. 23, 24, 27, 36 unter den Stichworten Bettunterricht, Hausaufgaben, Nachmittagsunterricht, Stützunterricht; Lauterbach a.a.O. Anm. 85 b zu § 539 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung S. 474 v und w und 474 q IV). Dem Lernen im privaten (häuslichen) Bereich ist der Versicherungsschutz zu versagen, weil es sich insoweit um keine Ausbildung handelt, die dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Hochschule unterliegt. Die Hochschule schafft hier für den Lernenden kein fremdes Gefahrenrisiko; sie hat auch im häuslichen Bereich keine organisatorischen Entwirkungsmöglichkeiten auf eine mögliche Unfallverhütung (z.B. durch Aufsicht).

Durch die Einführung der Studentenversicherung in dem Gesetz vom 18. März 1971 ist insoweit keine Änderung eingetreten. Der Versicherungsschutz ist lediglich auf Studierende an Hochschulen ausgedehnt worden. Diese Ausdehnung auf eine weitere Gruppe von Aus- und Fortzubildende bezweckte gegenüber dem bisher geschützten Personenkreis keine Besserstellung durch einen weitergehenden Schutz. Hiergegen spricht auch die amtliche Begründung zu § 539 Abs. 1 Nr. 14 d RVO (vgl. Bundestags-Drucksache VI/1333, abgedruckt bei Lauterbach a.a.O. Anm. 87 zu § 539 RVO). Danach ergibt sich, daß die Studentenversicherung mit Rücksicht auf den Gleichheitsgrundsatz in das Gesetz aufgenommen wurde (vgl. auch: Brackmann a.a.O., § 474 v; Vollmar a.a.O. Anm. 3.4.1. S. 43).

Hieran ändert nichts der Umstand, daß die Klägerin sich auf eine Vordiplomprüfung vorbereitet hat. Zwar steht die Teilnahme an der Prüfung selbst unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Es handelt sich dabei um eine Veranstaltung der Universität, so daß die Hochschulbezogenheit gewahrt ist (vgl. Brackmann a.a.O. S. 474 v und 474 q IV; Vollmar a.a.O. unter dem Stichwort Aufnahmeprüfungen S. 21). Dem ist aber die private Vorbereitung durch Lernen und gegenseitiges Abfragen von Kommilitonen im häuslichen Bereich nicht – wie oben dargelegt – zuzurechnen. Der Sachzusammenhang zwischen dem Lernen im häuslichen Bereich und einer bevorstehenden Prüfung an der Universität genügt daher, entgegen der Ansicht des Sozialgerichts, allein nicht. Die Klägerin war nämlich nicht gezwungen, sich am Hochschulort auf die Prüfung vorzubereiten. Selbst wenn sie sich zusammen mit ihrer Kommilitonin vorbereiten musste, weil beide einer Prüfungsgruppe angehörten, konnte die Vorbereitung auch an jedem anderen Ort in der gleichen Weise stattfinden, z.B. in der elterlichen Wohnung der Klägerin oder der ihrer Kommilitonin bzw. an einem Urlaubsort. Die Vorbereitungstätigkeit auf die Prüfung war daher ihrem Wesen nach vom eigentlichen Hochschulbetrieb völlig losgelöst. Der Versicherungsschutz läßt sich aber auch nicht aus den Erwägungen des Sozialgerichts zu dem vom Grundgesetz – GG – normierten Recht auf freie Forschung und Lehre (Artikel 5 Abs. 3 GG) begründen.

Dieses Freiheitsrecht enthält eine Garantie für die Hochschule als Institution mit der Folge, daß auch Studenten als deren Mitglieder zur Gemeinschaft wissenschaftlich tätiger Menschen gehören (vgl. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 10. Auflage, § 14 IV Nr. 4, S. 102/103; BGH in NJW 1960 S. 911). Das bedeutet, daß der Studierende über den Bereich der Fachrichtung hinaus, für die er sich an der Hochschule eingeschrieben hat, auch andere Vorlesungen oder ähnliche Lehrveranstaltungen zu seiner allgemeinen Aus- und Fortbildung (sog. Studium generale) besuchen kann. Die Eigenart dieses Freiheitsrechtes bringt es mit sich, daß der Student auch beim Besuch dieser an sich nicht zu seinem Studienfach gehörenden Veranstaltungen unter dem Schutz des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung steht (so auch: Vollmar a.a.O., Anm. 3.4.4., S. 46). Die Garantie des Artikel 5 Abs. 3 GG eröffnet hingegen nicht ein subjektives Recht auf Gewährung von Unfallversicherungsschutz für das Lernen im privaten häuslichen Bereich am Hochschulort. Dieses Grundrecht statuiert nur ein Abwehrrecht gegen die Geistesfreiheit beeinträchtigende Eingriffe (vgl. Hamann, Das Grundgesetz, Anm. 14 zu Artikel 5 GG). Die Versagung des Unfallversicherungsschutzes für eine dem privaten Lebensbereich zuzurechnende Tätigkeit stellt keinen solchen das Freiheitsrecht berührenden Eingriff dar. Die Klägerin ist auch ohne Versicherungsschutz – wie bisher – nicht gehindert, vom Recht der Freiheit auf Forschung und Lehre Gebrauch zu machen.

Da sich nach alledem die Klägerin aus Anlaß einer unversicherten Tätigkeit an ihrem Universitätsort Marburg/L. aufhielt, konnte die Fahrt von dieser dem privaten Lebensbereich zuzurechnenden Verrichtung in die elterliche Wohnung nicht als unter dem Unfallversicherungsschutz stehende Familienheimfahrt im Sinne des § 550 Satz 3 RVO gelten.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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