L 4 V 669/72

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 669/72
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Änderung der „Anhaltspunkte für die Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen” stellt keine rechtliche Änderung im Sinne des § 62 BVG dar. Sie haben weder Gesetzes- noch Verordnungscharakter (Anschluß an BSG Urteil vom 6. April 1960 (BVBl 1961, S. 14).
2. Bei der Beurteilung des Grades der MdE nach den neugefaßten „Anhaltspunkten” 1965 ist nicht von der seitherigen MdE-Einschätzung, sondern von den tatsächlich zugrunde liegenden medizinischen Befunden auszugehen.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 7. März 1972 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der 56-jährige Kläger erhielt durch Umanerkennungsbescheid vom 28. März 1952 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. ab 1. Oktober 1950 wegen kombinierter Schwerhörigkeit, rechts stärker als links. Als Ursache wurde eine Verschüttung nach Bombenwurf 1940 angenommen. Der Hals-Nasen- und Ohrenarzt Dr. H. stellte in seinem Gutachten vom 24. Februar 1955 bei dem Kläger eine wesentliche Besserung fest. Auf dem rechten Ohr hatte der Kläger Umgangssprache lediglich in 0,20 m Entfernung hören können. Bei der neuen Untersuchung konnte er sie auf 0,50 m verstehen. Auf dem linken Ohr war die Hörfähigkeit von Umgangssprache früher auf 0,30 m bis 0,50 m beschränkt gewesen. Die neue Untersuchung ergab ein Hörvermögen von 1,50 m für Umgangssprache. Unter diesen Umständen sei die MdE höchstens mit 40 v.H. zu bewerten.

Der Beklagte setzte ab 1. September 1955 die Rente herab und gewährte lediglich eine solche wegen einer MdE um 40 v.H. Der Hals- und Ohrenarzt Dr. O. kam in seinem Gutachten vom 24. April 1956 zur Auffassung, daß die MdE mit 40 v.H. deshalb zutreffend bemessen sei, weil der Kläger in seinem Beruf als Landwirt durch die Schädigungsfolgen nicht besonders beruflich betroffen sei.

Der Beklagte setzte durch Bescheid vom 30. Juni 1956 die MdE ab 1. September 1956 wegen weiterer Besserung auf 30 v.H. herab, weil durch die Lieferung eines Hörgerätes die Hörfähigkeit wesentlich gebessert worden sei, so daß die MdE lediglich noch 30 v.H. betrage. Im nachfolgenden Klageverfahren schloß der Beklagte mit dem Kläger einen Vergleich dahin, daß eine nochmalige Überprüfung der Berufsbetroffenheit als Waldarbeiter und Holzfäller vorgenommen werden sollte. Mit Bescheid vom 19. November 1957 widerrief der Beklagte den früheren Bescheid und gewährte auch über den 1. September 1956 hinaus eine Rente nach einer MdE um 40 v.H. Auch die Lieferung eines Hörgerätes ändere nach den Richtlinien des Bundesministers für Arbeit nicht den Grad der MdE.

Durch Bescheid vom 14. Mai 1958 lehnte der Beklagte eine Erhöhung der MdE wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins ab. Dem Widerspruch hiergegen wurde nicht abgeholfen.

Der Kläger beantragte am 31. Juli 1959 Erhöhung der Rente wegen Schwerhörigkeit und starker Kopfschmerzen. Dr. F. von der Hals-, Nasen und Ohrenklinik der Universität XY. vermutete, daß bei dem Kläger eine allergisch bedingte Menière’sche Erkrankung vorliege. Nach den Feststellungen des Sachverständigen hörte der Kläger rechts weder Flüstern noch Umgangssprache, links wurde Umgangssprache aus 0,1 m Entfernung verstanden. Der Hals-, Nasen- und Ohrenarzt Dr. Z. kam zur Auffassung, daß bei dem Kläger kombinierte Schwerhörigkeit beiderseits, rechts mehr als links vorliege. Außerdem bestehe bei ihm eine Menière’sche Erkrankung, eine chronische Gaumenmandelentzündung, Weitsichtigkeit beiderseits und Alterssichtigkeit, präsklerotische Augenhintergrundveränderungen, Bronchitis, deutliche Übergewichtigkeit und latenter Bluthochdruck. Mit den Befunden früherer Gutachten sei auch jetzt wieder eine kombinierte Innenohr-Mittelohrschwerhörigkeit festzustellen. Dieser Befund sei aber aufgrund der bisher erhobenen Vorgeschichte deshalb nicht recht zu klären, weil der Kläger weder entzündliche Mittelohrprozesse angegeben habe, noch solche aufgrund der durchgeführten Untersuchungen festzustellen seien. Würden aber entzündliche Mittelohrerkrankungen fehlen, dann würden als Ursachen für die Schwerhörigkeit nur otosklerotische Veränderungen in Betracht kommen. Eine wesentliche Änderung hinsichtlich der Schwerhörigkeit sei nicht nachzuweisen. Die MdE von 40 v.H. wäre zutreffend angegeben. Außerdem würde jetzt eine Menière’sche Erkrankung vorliegen, die nicht auf Schädigungsfolgen zurückginge. Die gewöhnlich bei dieser Erkrankung zu beobachtenden Hörverschlechterungen hätten sich deshalb nicht stärker ausgewirkt, weil bereits eine Hörstörung vorgelegen habe. Die Gesamt-MdE betrage weiterhin 40 v.H.

Der Beklagte wies mit Bescheid vom 11. März 1960 den Antrag auf Erhöhung der Rente ab. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg. Im nachfolgenden Klageverfahren beim Sozialgericht Gießen – S-7/V-2554/50 – wurde die Klage mit Urteil vom 1. Dezember 1961 abgewiesen. Eine Verschlimmerung der bestehenden Gesundheitsschädigung sei nicht eingetreten.

Der Kläger beantragte am 17. Oktober 1969 Erhöhung seiner Rente wegen Änderung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen. Der Hals-, Nasen- und Ohrenarzt Dr. Z. kam in seiner ärztlichen Stellungnahme vom 5. November 1969 zu dem Ergebnis, daß bei dem Kläger eine hochgradige rechtsseitige und mittelgradige linksseitige Schwerhörigkeit vorgelegen habe, die auch nach den jetzt gültigen Anhaltspunkten nur mit einer MdE von 30 v.H. bewertet werden könne. Als die MdE 1955 von 50 v.H. auf 40 v.H. herabgesetzt worden sei und in der Folgezeit keine wesentlichen Besserungen mehr festzustellen gewesen seien, hätten die Gutachter die MdE bei 40 v.H. belassen. Bei der Untersuchung 1965, die wegen eines Antrages auf Hörgeräteumtausch durchgeführt wurde, habe er tatsächlich eine echte hochgradige Schwerhörigkeit beider Ohren objektivieren können, deren MdE nach den neuen Anhaltspunkten mit 45 v.H. zu veranschlagen sei. Er habe aber damals bereits die Auffassung vertreten, daß diese 1958 eingetretene Hörverschlechterung auf schädigungsunabhängige Einflüsse beruhten, weil sich beim Kläger eine Menière’sche Erkrankung entwickelt habe.

Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 18. November 1969 den Antrag des Klägers auf Erhöhung seiner Rente ab. Der Widerspruch hiergegen blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 29. April 1970). Im nachfolgenden Klageverfahren verurteilte das Sozialgericht Gießen den Beklagten am 7. März 1972, dem Kläger ab 1. Oktober 1969 Rente nach einer MdE um 50 v.H. zu gewähren, weil eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eingetreten sei. Die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen wären in der Ausgabe 1965 gegenüber der Ausgabe 1958 dahin geändert worden, daß für hochgradige Schwerhörigkeit nicht mehr von einer MdE von lediglich 40 v.H. ausgegangen werden müsse, sondern von einer MdE von 45 v.H. Da der Beklagte die MdE auf 40 v.H. festgesetzt habe, müsse davon ausgegangen werden, daß eine beiderseitige Schwerhörigkeit vorgelegen habe. Diese Schwerhörigkeit liege auch heute noch vor, so daß nach den Anhaltspunkten die MdE jetzt auf 45 v.H. festgesetzt werden müsse, weshalb dem Kläger eine Rente wegen einer MdE von 50 v.H. zustehe.

Gegen dieses dem Beklagten am 21. Juni 1972 zugestellte Urteil legte er am 11. Juli 1972 Berufung ein. Er ist der Auffassung, daß bei dem Kläger eine doppelseitige, hochgradige Schwerhörigkeit nicht vorgelegen habe. Bei den früheren Untersuchungen bis 1956 sei Umgangssprache zwischen 0,50 m und 1,00 m vom rechten Ohr und zwischen 1,50 m und 3,00 m vom linken Ohr verstanden worden. Es handele sich somit um eine hochgradige, rechtsseitige und eine mittelgradige linksseitige Schwerhörigkeit, die nach den gültigen Anhaltspunkten mit einer MdE von 30 v.H. im allgemeinen Erwerbsleben zu bewerten sei. Die seit 1958 festzustellende Hörverschlechterung gehe auf eine schädigungsabhängige Menière’sche Erkrankung zurück.

Der Beklagte beantragte,
das Urteil des Sozialgerichtes Gießen vom 7. März 1972 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragte,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 7. März 1972 zurückzuweisen.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Behörden- und die Gerichtsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung wurde form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist auch statthaft, denn es ist die Schwerbeschädigteneigenschaft des Klägers im Streit (§ 148 Ziff. 3 Sozialgerichtsgesetz –SGG–).

Die Berufung ist auch begründet. Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Unrecht zur Leistung einer Rente nach einer MdE von 50 v.H. verurteilt. Es ist fälschlicherweise davon ausgegangen, daß in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung maßgebend waren, eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Eine solche Änderung, die gemäß § 62 Bundesversorgungsgesetz (BVG) zum Erlaß eines neuen Bescheides führt, kann sowohl in den tatsächlichen Verhältnissen als auch in den rechtlichen Bestimmungen stattgefunden haben. Allerdings sind rechtliche Änderungen lediglich Änderungen der Gesetze oder von Rechtsverordnungen. Dagegen stellen Änderungen der Verwaltungsvorschriften oder Änderungen der Rechtsprechung oder der Rechtsauffassung keine solche rechtlichen Änderungen dar (Wilke, Kommentar zum BVG § 30 Anm. I). Die Prüfung der Rechtsnatur der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen” ergibt, daß es sich hierbei weder um eine gesetzliche Bestimmung, noch um eine Rechtsverordnung handelt. Bei den "Anhaltspunkten” handelt es sich um Hilfsmittel für die ärztliche Beurteilung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Durch sie werden für die einzelnen Leiden Hundertsätze der MdE angeführt, die unter Berücksichtigung der neuesten Erkenntnisse der ärztlichen Wissenschaft aus langer Erfahrung festgelegt wurden (Wilke, Kommentar zum BVG § 30 Anm. I). Sie sind als Richtlinien gedacht, die der Versorgungsverwaltung und den Sachverständigen eine gleichmäßige Behandlung ähnlicher Schädigungen ermöglichen sollen. Sie gehen von den Regelfällen aus und können nach Lage des Einzelfalles bei Ausübung des der Verwaltung obliegenden Ermessens über- oder auch unterschritten werden. Insbesondere haben die "Anhaltspunkte” nicht die Bedeutung von bindenden Anweisungen an die Verwaltungsbehörden; sie haben damit nicht einmal den Charakter von Verwaltungsvorschriften, die ihrerseits keine Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG darstellen würden (vgl. Wilke a.a.O., Anm. I 5 zu § 62). Ein Anlaß, von der diesbezüglichen Rechtsprechung des BSG (vgl. BVBl. 61 S. 14) abzuweichen, lag nicht vor. Unter diesen Gesichtspunkten kann ihre Änderung 1965 nicht als rechtliche Änderung der Verhältnisse gemäß § 62 BVG angesehen werden.

Im übrigen wäre aber auch im anderen Falle eine Erhöhung des Grades der MdE nicht zutreffend. Abgesehen davon, daß das Sozialgericht mit der Feststellung von Befunden entgegen den medizinwissenschaftlich begründeten Erkenntnissen seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 SGG) geschöpft hat, ist seine Auffassung über den Umfang des seinerzeitigen Anerkenntnisses von Schädigungsfolgen irrig. Als Willenserklärung der Verwaltungsbehörde (vgl. Wolff, Verwaltungsrecht I, 6. Aufl., § 50 I Buchst. b) kann das Anerkenntnis nur das umfassen, was der Beklagte gewollt hat. An keiner Stelle ergibt der Akteninhalt aber, daß der Beklagte eine – gar nicht vorliegende – beiderseitige hochgradige Schwerhörigkeit nicht anerkennen wollte. Die Schlußfolgerung, diese Feststellung ergebe sich daraus, daß der Beklagte die MdE auf 40 v.H. belassen hatte, was nur bei beiderseitiger hochgradiger Schwerhörigkeit nach den Anhaltspunkten 1958 möglich gewesen wäre, entbehrt der Logik. Wenn es sich bei den "Anhaltspunkten” lediglich um Richtlinien handelt, wie die einzelne körperliche Beeinträchtigung zu beurteilen sind, dann beweist ihre Nichteinhaltung keine Tatsachen, die der Willensbildung eine nur in eine Richtung weisende Ausdeutung gäben. Das schon deshalb, weil der Beklagte keineswegs gezwungen ist, bei Ausübung seines Ermessens diese Richtlinien unbedingt einzuhalten. Vielmehr waren ausschließlich die medizinischen Befunde zugrunde zu legen. Danach bestand aber bei dem Kläger eine hochgradige Schwerhörigkeit rechts und eine mittelgradige Schwerhörigkeit links. Erst die Menière’sche Erkrankung hat zu einer beiderseitigen hochgradigen Schwerhörigkeit geführt. Deshalb kann von einem früheren Anerkenntnis insoweit nicht die Rede sein.

Da diese Menière’sche Erkrankung nach den medizinischen Beurteilungen nicht als Folge der Schädigungen anzusehen ist, kann sie nicht berücksichtigt werden. Die MdE durch die Schädigung, nämlich die hochgradige Schwerhörigkeit rechts und die mittelgradige Schwerhörigkeit links beläuft sich auch nach den neuen Anhaltspunkten auf 30 v.H. Da bei dem Kläger eine MdE von 40 v.H. anerkannt worden ist, hat der Beklagte eine weitere Erhöhung des Grades der MdE zutreffend abgelehnt.

Das Urteil des Sozialgerichts Gießen mußte aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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