L 4 V 860/71

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 860/71
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ein Zugunstenbescheid gemäß § 40 VerwVG (KoV) kann nur dann ergehen, wenn die Unrichtigkeit des früheren Bescheides durch Beweismittel nachgewiesen ist. Die Bezugnahme auf den Inhalt gerichtlicher Entscheidungen in ähnlichen fällen reicht für die Feststellung der Unrichtigkeit nicht aus.
2. Ob ein Beamzter des Zollgrenzschutzes militärähnlichen Dienst verrichtete, ist im Einzelfall zu prüfen. Es kann nicht allgemein unterstellt werden, daß dies im Juni 1942 im ehemaligen Generalgouvernement in Polen der Fall war.
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 8. Juli 1971 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin war die Ehefrau des 1903 geborenen K. K ... Dieser trat 1937 nach 12 jähriger Militärzeit als Zollanwärter, später Zollsekretär, bei der Reichsfinanzverwaltung ein. Er wurde im März 1941 zum Hauptzollamt S., Zollaufsichtsstelle GB. abgeordnet. Dort erlitt er am 16. Juni 1942 beim Reinigen einer Maschinenpistole einen Unfall, der zu seinem Tode führte. Der Unfall wird als Dienstunfall angesehen und entsprechendes Ruhegeld von der Oberfinanzdirektion F. gezahlt.

Die Klägerin beantragte am 24. Dezember 1949 die Gewährung von Hinterbliebenenrente. Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 22. September 1950 die Rentenleistung ab, weil der Antrag verspätet gestellt sei und außerdem der Unfall nicht mit Kriegseinwirkungen in Verbindung stehe.

Den Antrag nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 12. April 1951 ab, weil der Tod des Ehemannes nicht durch schädigende Vorgänge im Sinne von § 1 BVG verursacht worden sei. Der Bescheid wurde bindend.

Die Klägerin beantragte am 12. Januar 1966 erneut die Gewährung von Versorgung. Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 27. Januar 1966 die Rentenzahlung ab, weil der Unfalltod nicht auf eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung, sondern auf den Zivildienst als Zollbeamter zurückgehe. Den Widerspruch lehnte er mit der Begründung ab, daß der Ehemann weder bei militärischen Maßnahmen, noch durch unmittelbare Kriegseinwirkungen getötet worden sei.

Im nachfolgenden Klageverfahren gab die Oberfinanzdirektion H. am 2. Mai 1968 eine Stellungnahme dahingehend ab, daß Unterlagen über die Unterstellungsverhältnisse der Zollgrenzschutzbeamten bei der Grenzaufsichtsstelle B. im Juni 1942 fehlen würden. Der Auftrag des Zollgrenzschutzes sei damals dahin gegangen, jeden illegalen Grenzübertritt und den waren- und Devisenschmuggel zu verhindern, die Vorgange jenseits der Interessengrenze zu beobachten und wichtige Feststellungen der Wehrmacht zu melden. Finanzpräsident W. L. gab am 22. Juli 1968 an, daß im Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 11. August 1967 (S-8/V-1692/64) die Tätigkeit der Angehörigen des Zollgrenzschutzes an der deutschrussischen Interessengrenze in der Zeit von 1939 bis 1941 als militärähnlich angesehen worden sei. Dies müsse hier umso mehr gelten, weil der Unfall in der Zeit nach dem Kriegsausbruch mit Rußland stattgefunden habe. Aus einem Befehl des Oberkommandos des Heeres (OKH) vom 18. September 1943 ergebe sich, daß die Tätigkeit beim Zollgrenzschutz militärähnlichen Charakter gehabt habe.

Das Verfahren vor dem Sozialgericht Gießen wurde durch die Erklärung des Beklagten beendet, er sehe den Antrag vom 11. Januar 1966 als Antrag auf Erteilung eines Zugunstenbescheides gemäß § 40 VerwVG in der Kriegsopferversorgung an. Mit Bescheid vom 30. Januar 1969 lehnte der Beklagte die Erteilung eines Zugunstenbescheides ab, weil der frühere Bescheid weder rechtlich noch tatsächlich unrichtig gewesen sei. Die Überprüfung habe ergeben, daß der Unfalltod nicht auf eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung, sondern auf den Zivildienst als Zollbeamter zurückzuführen sei. Den Widerspruch wies der Beklagte aus den gleichen Gründen zurück.

Das Sozialgericht Gießen hob mit Urteil vom 8. Juli 1971 den Bescheid vom 30. Januar 1969 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. März 1969 auf und verpflichtete den Beklagten, der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes einen neuen Bescheid zu erteilen. Der Beklagte habe zu Unrecht die Voraussetzung für die Erteilung eines Zugunstenbescheides gemäß § 40 VerwVG (KoV) verneint. Der frühere Bescheid vom 12. April 1951 sei unrichtig gewesen. Der Unfall des Ehemannes habe sich während der Ausübung von militärähnlichem Dienst ereignet. Die an der deutsch-russischen Interessengrenze eingesetzten Zivilbeamten des Zollgrenzschutzes, der seinerseits durch Notdienst verpflichtete Personen verstärkt und so zum Verstärkten Grenzaufsichtsdienst (VGA) geworden sei, hätten im überwiegenden Maße militärische Aufträge ausgeführt. Die Leiter der Kommando- und Hauptbefehlsstellen des Verstärkten Grenzaufsichtsdienstes seien den zuständigen Befehlshabern der Wehrmacht unterstellt gewesen. Das ergebe sich aus dem Urteil des Bayerischen Landessozialgerichtes vom 27. März 1963. Dieses Urteil betreffe zwar den Einsatz des Zollgrenzschutzes an der französischen Kanalküste. Die Feststellungen im Urteil seien aber für den gesamten Zollgrenzschutz zutreffend. Das Sozialgericht Heilbronn habe in einem anderen Urteil vom 11. August 1967 angenommen, daß ein Zollassistent der Zolldienststelle W. in der Zeit von 1939 bis 1941 militärähnlichen Dienst geleistet habe. Es bestehe kein Zweifel, daß der Ehemann dem Verstärkten Grenzaufsichtsdienst angehört habe. Der unter kriegsmäßigen Verhältnissen geleistete Dienst 1942 sei als militärähnlicher Dienst zu beurteilen. Das Sozialgericht stützte sich dabei auf einen Befehl des Oberkommandos des Heeres von 1943, wonach der Verstärkte Grenzaufsichtsdienst den Kommandostellen der Wehrmacht unterstellt wurde.

Der Beklagte legte gegen dieses am 6. August 1971 zugestellte Urteil am 24. August 1971 Berufung ein. Die Verpflichtung, einen Bescheid mit einem bestimmten Inhalt zu erteilen, sei ein reines Leistungsurteil, das bei Ermessensentscheidungen grundsätzlich unzulässig sei. Nur ausnahmsweise könne ein Gericht die Verwaltung zum Erlaß eines Bescheides verpflichten, wenn nämlich jede andere Entscheidung notwendig eine Ermessenswidrigkeit bedeuten würde. Ein solcher Fall sei kaum denkbar und hier nicht gegeben. Nach § 40 VerwVG (KoV) könne die zuständige Behörde zu Gunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Für die Frage, ob die Verwaltungsbehörde bei der Erteilung eines Bescheides gemäß § 40 VerwVG (KoV) richtig gehandelt habe, komme es darauf an, ob die frühere Entscheidung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unrichtig gewesen sei. Zweifel an der Richtigkeit der früheren Entscheidung reichten nicht aus und nur wenn feststehe, daß die frühere Entscheidung unrichtig sei, müsse die Verwaltung einen zusprechenden Bescheid erlassen. Hier würden im Hinblick auf die ungeklärten Verhältnisse allenfalls Zweifel an der Richtigkeit der früheren Entscheidung bestehen. Das Sozialgericht habe aufgrund von Hypothesen und Vermutungen die Unrichtigkeit der früheren Bescheide angenommen. Konkrete Feststellungen über die Art des Dienstes, den der Ehemann bei der Zollaufsichtsstelle B. – Hauptzollamt S. – 1941/1942 verrichtet habe, würden fehlen. Das Sozialgericht habe nur die allgemein gehaltenen Ausführungen von Dr. M. und Dr. E., die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichtes und des Sozialgerichtes Heilbronn zugrunde gelegt. Die Ausführungen von Dr. E. in dem Buch "Geschichte des Zollgrenzdienstes” gingen dahin, daß der Dienst des Zollgrenzschutzes während des Krieges in Rußland fast friedensmäßig gewesen sei. Anhaltspunkte dafür, daß der Ehemann militärähnlichen Dienst verrichtet habe, seien nicht vorhanden. Er habe zum Stammpersonal der Zollverwaltung gehört. Es sei eine unbegründete Vermutung des Sozialgerichtes Gießen, daß er in den Verstärkten Grenzaufsichtsdienst übernommen worden sei.

Der Beklagte beantragte,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 8. Juli 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragte,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichtes Gießen für zutreffend.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Behörden- und die Gerichtsakten Bezug genommene. Die Akten des Sozialgerichts Gießen (S-7/V-344/66), die Personalakten der Klägerin, die Akten des Sozialgerichtes Heilbronn (S-8/V-1692/64), eine Fotokopie des Urteils des Bayerischen Landessozialgerichtes vom 27. März 1963 (L-15/V-926/61), waren beigezogen. Die "Geschichte des Zollgrenzdienstes” von Dr. W. E. (Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen) lag dem Senat ebenfalls vor.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung wurde form- und fristgerecht eingelegte Sie ist auch statthaft, denn es ist die Erstgewährung von Witwenrente im Streit.

Die Berufung des Beklagten ist auch begründet. Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Unrecht zum Erlaß eines neuen Bescheides unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes verurteilt. Die Auffassung des Beklagten, es liege hier ein unzulässiges Leistungsurteil vor, ist allerdings unrichtig. Da bereits mit Bescheid vom 12. April 1951 die Witwenrente für die Beteiligten bindend abgelehnt wurde, ist eine nochmalige Bescheiderteilung gemäß § 40 VerwVG (KoV) nach dem Wortlaut der Bestimmung dann möglich, wenn der frühere Bescheid rechtlich oder tatsächlich unrichtig ist. Dabei muß die Unrichtigkeit sich aus neuen Beweismitteln zweifelsfrei ergeben. Die Unrichtigkeit ist Tatbestandsmerkmal und daher von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit voll nachprüfbar (Entscheidung BSG Bd. 29 S. 278). Indessen genügt zur Feststellung einer solchen Unrichtigkeit weder, daß das Gericht seine Beweiswürdigungsauffassung an die Stelle der Auffassung des Beklagten setzt, sondern es müßte dargetan sein, warum letztere falsch ist. Wird die Unrichtigkeit festgestellt, dann muß der Beklagte einen neuen Bescheid erlassen, hat aber z.B. im Hinblick auf die Rückwirkung Ermessensfreiheit (Urteil des BSG vom 14. März 1967, 10 RV 504/66). Wenn das Sozialgericht bei Annahme der Unrichtigkeit des früheren Bescheides den Beklagten zum Erlaß eines neuen Bescheides unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichtes hinsichtlich der Unrichtigkeit des früheren Bescheides verurteilt, dann will es damit lediglich den Beklagten hinsichtlich der Beurteilung der Unrichtigkeit an seine Auffassung binden. Als Leistungsurteil ist ein solches Urteil nicht anzusehen, da es den Beklagten nicht zur Leistung von Geld oder Sachen verpflichtet (Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz von Peters-Sautter-Wolff § 54).

Das Sozialgericht hat den Beklagten aber zu Unrecht zum Erlaß eines neuen Bescheides verurteilt. Die Unrichtigkeit des früheren Bescheides ist aus den durchgeführten Ermittlungen nicht zu entnehmen. Durch diesen war Hinterbliebenenversorgung abgelehnt worden, weil nicht festgestellt werden konnte, daß der Verstorbene bei Ausübung von militärähnlichem Dienst den tödlichen Unfall erlitt. Ob ein Beamter des Zollgrenzschutzes militärähnlichen Dienst verrichtete, ist im Einzelfall zu prüfen. Daß der Verstorbene 1942 in Polen in dieser Weise eingesetzt war, kann nicht ohne genaue Prüfung der Umstände unterstellt werden. Die zwischenzeitlich durchgeführten Ermittlungen können entgegen der Auffassung des Sozialgerichtes nicht zu dem Nachweis führen, daß der Verstorbene 1942 militärähnlichen Dienst leistete. Er war 1941 nach S., Zollaufsichtsstelle B., abgeordnet worden. Als im Juni 1942 die deutsche Front schon weit in Russland stand, befand er sich an seiner seitherigen Dienststelle. Irgendwelche Anhaltspunkte, daß er dort militärähnlichen Dienst verrichtete, haben die Ermittlungen nicht ergeben.

Wenn das Sozialgericht ausführte, es habe keine Zweifel, daß der Verstorbene dem Verstärkten Grenzaufsichtsdienst angehörte und im Juni 1942 militärähnlichen Dienst verrichtet habe, so beruht diese Feststellung lediglich auf bloßen Vermutungen, die nicht durch irgendwelche nachweise erhärtet werden konnten und nicht geeignet sind, eine rechtskräftige Feststellung zu widerlegen (vgl. BSG im Urteil vom 26. Januar 1972– 10 RV 216/70 –).

Soweit das Sozialgericht seine Auffassung auf das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichtes vom 27. März 1963 stützt, kann dieses als Nachweis deshalb nicht verwertet werden, weil es lediglich die Verhältnisse des Zollgrenzdienstes an der französischen Kanalküste 1942 betraf.

Auch das Urteil des Sozialgerichtes Heilbronn vom 11. August 1967 erlaubt keinen Rückschluss auf die Tätigkeit des Verstorbenen. Es befaßt sich mit einer Schädigung, die sich ein Zollbeamter 1941 an der deutsch-russischen Interessengrenze in Polen zuzog. Ob der Dienst der Zollbeamten im Juni 1942 in Polen militärähnlich war, kann aus den dort gemachten Ausführungen nicht zwingend geschlossen werden. Wie Dr. E. in seinem Buch "Geschichte des Zollgrenzdienstes” ausführte, folgten dem Einmarsch der deutschen Truppen nach Rußland auch Verbände des Grenzschutzes in den rückwärtigen Gebieten. in den besetzten russischen Gebieten wurden neue Grenzaufsichtsbezirke gebildet. Welche Aufgaben die in Polen verbliebenen Dienststellen hatten, ob sie möglicherweise lediglich Nachschubstellen für die nach. Russland vorgerückten Beamten blieben oder auch weiterhin den Personen- und Warenverkehr zwischen Polen und den russischen Gebieten überwachten und verhinderten, ist völlig ungeklärt. Dr. L. machte lediglich allgemeine Ausführungen über die Tätigkeit des Zollgrenzschutzes, kann aber über den Einsatz des Verstorbenen im Juni 1942 nichts Konkretes aussagen. Daß der vom Sozialgericht als weiterer Nachweis angesehene Befehl des OKH, der die Verbände des Grenzaufsichtsdienstes dem Oberkommando des Heeres unterstellte, erst 1943 erging, spricht eher dafür, daß 1942 in der Regel eine solche Unterstellung noch nicht gegeben war.

Weitere Ermittlungen sind nach Auffassung des Senates mangels irgendwelcher Anhaltspunkte nicht möglich. Es kann daher nicht festgestellt werden, daß der Verstorbene im Zeitpunkt des Unfalles entgegen dem Inhalt der bindend gewordenen Bescheide militärähnlichen Dienst leistete.

Die Unrichtigkeit des Bescheides vom 12. April 1951 steht somit nicht zweifelsfrei fest. Der Beklagte hat zu Recht den Erlaß eines Bescheides gemäß § 40 VerwVG (KoV) abgelehnt. Das Urteil des Sozialgerichtes mußte daher aufgehoben werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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