L 2 J 802/70

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 J 802/70
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1) Gegen die Vollstreckung aus einem bindend gewordenen Beitragsbescheid eines Versicherungsträgers, der nicht über eigene Vollstreckungsorgane verfügt, ist die Anfechtungsklage gegeben und nicht die Vollstreckungsabwehrklage(-gegenklage) nach §§ 198 SGG, 767 ZPO.
Für Einwendungen gegen den Vollstreckungsanspruch sind nach § 51 SGG die Sozialgerichte zuständig.
2) Gegenstand der Anfechtungsklage ist nicht der bindende Beitragsbescheid sondern der Verwaltungsakt des Versicherungsträgers, mit dem die Vollstreckungsmaßnahmen nach § 200 Abs. 2 SGG eingeleitet werden.
3) Prozeßvoraussetzungen für die Anfechtungsklage ist die Durchführung eines Vorverfahrens nach § 79 SGG.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a.M. vom 6. Mai 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger, der seit dem 23. Juni 1959 in die Handwerksrolle eingetragen ist, schleift und poliert für Rechnung anderer in einem Einmannbetrieb kleine Messingteile. Mit dem Bescheid vom 27. November 1964 nahm die Beklagte den Kläger auf Grund des Handwerkerversicherungsgesetzes (HwVG) vom 8.9.1960 ab 1. Januar 1962 mit Versicherungsbeiträgen in Anspruch, die bei Bescheiderteilung auf DM 2.268,– aufgelaufen waren und Ende Februar 1970 DM 3.501,– betrugen. Widerspruch und Klage (Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a.M. vom 12.4.1967) gegen seine Heranziehung zur Beitragsleistung nach dem HwVG waren ohne Erfolg. Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Mai 1968 – Az.: L 2 J 552/67 –, mit dem die Berufung des Klägers zurückgewiesen worden ist, wurde rechtskräftig.

Am 12. Juli 1968 forderte die Beklagte unter Hinweis auf § 28 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Verbindung mit § 19 des Hessischen Verwaltungsvollstreckungsgesetzes (VwVG) den Kläger auf, den geschuldeten Betrag innerhalb zweier Wochen an sie zu zahlen, andernfalls müsse er mit der Verwaltungszwangsvollstreckung rechnen. Nachdem Zahlungen ausblieben und auch keine Vorschläge des Klägers für eine ihm angebotene Ratenzahlung eingegangen waren, richtete die Beklagte mit Schreiben vom 21. Oktober 1968 ein Zwangsvollstreckungsersuchen an die Vollstreckungsstelle des Kreisausschusses des Landkreises X./M ... Nachdem der Kläger sich als unpfändbar erwiesen hatte, wurde auf Antrag der Versicherungsabteilung der Beklagten durch die Vollstreckungsstelle beim Amtsgericht Seligenstadt Antrag auf Leistung des Offenbarungseides gestellt. Gegen die im Offenbarungseidverfahren ergangenen Anordnungen, insbesondere den Haftbefehl, hat der Kläger erfolglos die in der Zivilprozeßordnung (ZPO) vorgesehenen Rechtsbehelfe eingelegt.

Am 25. März wandte sich der Kläger gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Mai 1968 bzw. gegen die Vollstreckbarkeit dieses Urteils mit der Vollstreckungsabwehrklage an das Bundessozialgericht Kassel. Unter Hinweis auf § 198 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), § 767 Abs. 1 ZPO gab das Bundessozialgericht die Klage zuständigkeitshalber am 31. März 1970 an das Sozialgericht Frankfurt a.M. ab. Mit seiner Vollstreckungsgegenklage machte der Kläger geltend, daß er zu Unrecht zur Handwerkerversicherung herangezogen werde, da er nach § 2 Abs. 1 Ziff. 5 HwVG als Arbeitnehmer versicherungsfrei sei. Die eingeleitete Zwangsvollstreckung richte ihn wirtschaftlich zu Grunde. Er bat zugleich, von der Anordnung des persönlichen Erscheinens zur mündlichen Verhandlung abzusehen, weil er sonst seine Arbeit verliere und aus gesundheitlichen Gründen eine andere Arbeit nicht finden könne.

Das Sozialgericht Frankfurt a.M. wies mit dem Urteil vom 6. Mai 1970 die Klage ab. In den Entscheidungsgründen stellte es fest, daß die Beklagte auf Grund des nach § 77 SGG bindend gewordenen Bescheide vom 27. November 1964, der letztlich durch das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Mai 1968 rechtskräftig bestätigt worden sei, die Zwangsvollstreckungsmaßnahmen habe einleiten können. Sie habe auch den richtigen Weg zur Vollstreckungsmaßnahme gewählt. Der Bescheid sei nicht zu beanstanden, da die Verpflichtung zur Beitragsentrichtung in der von der Beklagten angegebenen Höhe durch das letztgenannte Urteil des Hessischen Landessozialgerichts rechtskräftig festgestellt worden sei. Die von dem Kläger vorgetragenen Gründe rechtfertigen nicht die Erhebung der Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO.

Der Kläger wendet sich mit seiner am 4. September 1970 eingegangene Berufung gegen das am 4. August 1970 zum Zwecke der Zustellung an ihn zur Post aufgegliederte Urteil. Er wiederholt im wesentlichen sein Vorbringen aus dem Klageverfahren und macht geltend, er sei als Arbeitnehmer nicht versicherungspflichtig nach dem Handwerkerversicherungsgesetz.

Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a.M. vom 6. Mai 1970 und den Bescheid der Beklagten vom 12. Juli 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. März 1971 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und nach Lage der Akten zu entscheiden.

Unter Hinweis auf den von ihr vorgelegten Widerspruchsbescheid vom 16. März 1971 trägt sie vor, daß sie innerhalb des Berufungsverfahrens das notwendige Vorverfahren durchgeführt habe. Entgegen dem Vorbringen des Klägers sei festzustellen, daß er handwerkerversicherungspflichtig sei, denn er sei – wie durch das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Mai 1968 bestätigt werde – Handwerker und nicht Arbeitnehmer im Sinne des § 2 Abs. 1 Ziff. 5 HwVG; er könne nicht die Entrichtung von mindestens 216 Kalendermonaten aus versicherungspflichtiger Tätigkeit nachweisen.

Auf den Inhalt der Beitrags- und Streitakten sowie die herangezogenen Akten des Sozialgerichts Frankfurt a.M. – S 2 J 13/66 – wird im übrigen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte und statthafte Berufung, über die der Senat trotz Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung auf Antrag der Beklagten nach Lage der Akten sachlich entscheiden kann (§§ 110, 126 SGG), ist unbegründet.

In Übereinstimmung mit der Rechtsansicht des Sozialgerichts hält der Senat für die erhobene Klage den Rechtsweg an die Sozialgerichte für gegeben. Dies hängt von der rechtlichen Würdigung der Klage ab. Das Sozialgericht hat die Klage, für deren Erhebung eine Frist nicht bestehe, als eine Vollstreckungsabwehrklage gewürdigt, wie sie auch das Bundessozialgericht in seinem Abgabeschreiben vom 31. März 1970 bezeichnet hat.

Der Senat vermag dieser Rechtsauffassung nicht zu folgen. Die Vollstreckungsabwehrklage oder auch -gegenklage ist zugeschnitten auf Maßnahmen, die der Vollstreckung aus einem Urteil dienen. Hier aber vollstreckt die Beklagte nicht aus einem Urteil, sondern aus ihrem Bescheid vom 27. November 1964, dessen Rechtmäßigkeit letztlich durch das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Mai 1968 bestätigt wurde. Nicht das Urteil sondern der Verwaltungsakt ist der Vollstreckungstitel. Die Vollstreckung aus dem Bescheid ist wegen des grundsätzlichen Unterschieds zwischen Urteil und Verwaltungsakt anders als die Regelung in der Zivilprozeßordnung zu beurteilen. Das folgt bereits aus § 198 Abs. 1 SGG, nach dem für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung gilt, soweit sich aus diesem Gesetz (SGG) nichts anderes ergibt. In § 200 Abs. 2 SGG ist aber bestimmt, daß bei der Vollstreckung zugunsten einer Behörde, die nicht Bundesbehörde ist, die Vorschriften des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes entsprechend gelten. Dies trifft für die Beklagte zu. Sie muß sich zur Durchführung der Vollstreckungsmaßnahmen im Rahmen des Hessischen Verwaltungsvollstreckungsgesetzes vom 4. Juli 1966 der unteren Verwaltungsbehörde, der Vollstreckungsstelle des Kreisausschusses des Landkreises X./M., (§ 16 Abs. 2 a.a.O.) bedienen. Die Einleitung der Vollstreckungsmaßnahmen aus einem Verwaltungsakt – anders als die Einleitung der Vollstreckung aus einem Urteil – liegt also in den Händen der Verwaltungsbehörden. Die Einleitung der Vollstreckung stellt deshalb selbst wieder einen Verwaltungsakt dar; hier der Auftrag der Beklagten vom 12. Juli 1968 an die Vollstreckungsstelle des Kreisausschusses des Landkreises X./M ...

Der gegebene Rechtsbehelf gegen einen derartigen Verwaltungsakt ist nach Ansicht des Senats demnach die Anfechtungsklage. Mit ihr begehrt der Kläger die Aufhebung des belastenden Verwaltungsakts, der eingeleiteten Vollstreckungsmaßnahmen, und somit die negative Feststellung, daß die Beklagte nicht berechtigt sei, die rechtskräftig festgestellte Beitragsordnung aus dem Bescheid vom 27. November 1964 im Wege der Zwangsvollstreckung geltend zu machen. Die Anfechtungsklage muß zulässig sein, um Einwendungen des Klägers gegen den rechtskräftigen Beitreibungsbescheid, wie z.B. Erfüllung oder Erlaß der Forderung, Aufrechnung oder Vergleich, zu überprüfen. In Art. 19 des Grundgesetzes (GG) ist eine entsprechende Rechtsschutzgarantie normiert, wenn auch nicht bestimmt ist, wie diese Rechtsschutzgarantie zu verwirklichen ist. Nach Ansicht des Senats eröffnet § 51 SGG in dem vorliegenden Fall die Möglichkeit der Rechtsschutzgewährung. Das gesamte Beitragseinzugsverfahren einschließlich der Zwangsvollstreckung muß als ein nach Zweck und Organisationsform in besonderem Maße auf die Bedürfnisse und Besonderheiten der Sozialversicherung abgestimmtes und der Sache nach zusammengehörendes Verfahren angesehen werden, das zu Angelegenheiten der Sozialversicherung zu rechnen ist. Zwar hat das Bundessozialgericht diesen Rechtsgedanken in seinem Urteil vom 23.8.1956 (Bd. 3 S. 204) nur für einen Fall vertreten, in dem die Beklagte über eigene Vollstreckungsorgane verfügte, doch bestehen keine Bedenken, den Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit auch in dem vorliegenden Streitverfahren zuzulassen. Denn es darf für den Beitragspflichtigen keine Rechtserschwerung darin liegen, daß die Beklagte über keine geeigneten Vollstreckungsorgane verfügt. Nach § 28 RVO muß sich die Beklagte bei der Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen der unteren Verwaltungsbehörden bedienen, denn die Beitragsrückstände sind wie Gemeindeabgaben beizutreiben. Die Zuständigkeit wird in § 12 VwVG geregelt. Darin heißt es, für Streitigkeiten aus dem Vollstreckungsverhältnis wegen Vollstreckungsmaßnahmen ist der Verwaltungsrechtsweg gegeben. Damit ist jedoch nicht geklärt, ob der allgemeine Verwaltungsrechtsweg oder der besondere Verwaltungsrechtsweg zu den Sozialgerichten gegeben ist. Der Kläger wendet sich nicht gegen die Vollstreckungsmaßnahmen als solche, die Art und Weise der Zwangsvollstreckung, sondern gegen den der Vollstreckungsmaßnahmen zu Grunde liegenden Vollstreckungstitel, den Bescheid vom 27. November 1964. Demnach kann es dahingestellt bleiben, was in der Literatur und Rechtsprechung umstritten ist, ob bei Einwendungen gegen die Vollstreckungsmaßnahmen die allgemeinen Verwaltungsgerichte oder die Sonderverwaltungsgerichte, wie die Sozialgerichte, zuständig sind. Da der Kläger sich gegen den Vollstreckungsanspruch der Beklagten wendet, ist wegen der Sachnähe nach § 51 SGG der Weg zur Sozialgerichtsbarkeit gegeben.

Die Aufhebungsklage ist auch zulässig, denn die Beklagte hat das nach § 79 Ziff. 1 SGG erforderliche Vorverfahren während des Berufungsverfahrens durchgeführt. Dies war notwendig, weil mit der Klage die Aufhebung eines Verwaltungsakts begehrt wird, der nicht eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. § 80 Ziff. 2 SGG findet dagegen keine Anwendung, weil es sich nicht um eine Beitragsstreitigkeit handelt. Diese war bereits in dem durch das rechtskräftige Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Mai 1968 abgeschlossenen Verfahren erledigt.

Es ist unschädlich, wenn die Beklagte in ihrem Widerspruchsbescheid davon ausgeht, der Kläger wende sich mit seiner Anfechtungsklage gegen den Beitragsbescheid vom 27. November 1964. Gegenstand des Rechtsstreits ist die Aufforderung der Beklagten vom 12. Juli 1968 an die Vollstreckungsstelle des Kreisausschusses des Landkreises X./M ... Der Widerspruchsbescheid läßt erkennen, daß die Beklagte – auch wenn sie den unrichtigen Bescheid als angefochten zitierte – den Rechtsbehelf für unbegründet hält, weil die von dem Kläger vorgetragenen Gründe nicht die Einstellung der eingeleiteten Vollstreckungsmaßnahmen rechtfertigen.

Das Sozialgericht hat mit zutreffender Begründung die Klage auf Aufhebung der Vollstreckungsmaßnahmen abgewiesen, denn der Kläger hat nur Gründe vorgetragen, die bereits Gegenstand des durch das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Mai 1968 abgeschlossenen Streitverfahrens waren. Die Aufhebungsklage wird nur auf die Behauptung gestützt, der Kläger sei Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 1 Ziff. 5 HwVG und deshalb nicht handwerkerversicherungspflichtig. Insoweit bindet nach § 141 SGG das rechtskräftige Urteil die Beteiligten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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