L 5 V 952/70

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 952/70
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1). Liegt über ein und denselben Anspruch bereits ein bindend gewordener negativer Zugunstenbescheid vor und beantragt ein Kläger danach erneut eine Zugunstenentscheidung, dann ist sein Begehren nicht auf die Aufhebung dieses, sondern auf Aufhebung (oder Abänderung) des zuvor ergangenen bindend gewordenen Sachbescheides gerichtet.
2). Überzeugt sich die Versorgungsbehörde nicht von der zweifelsfreien Unrichtigkeit dieses Sachbescheides, dann ist es ihr, etwa aus Gründen materieller Gerechtigkeit, nicht möglich, ihn jederzeit abzuändern.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 30. September 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der 1913 geborene Kläger erhält durch Neufeststellungsbescheid vom 26. August 1964 wegen

"1) Verlust des rechten Auges, Sehschwäche links.
2) Narbige Einziehung des linken Trommelfelles”

als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Versorgungsbezüge nach einem Grade der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. im allgemeinen Erwerbsleben.

Im Oktober 1964 beantragte er beim Versorgungsamt D. Berufsschadensausgleich. Zu seinem beruflichen Werdegang gab er an, nach Absolvierung der Volksschule das Bäckerhandwerk erlernt und eine Bäckerfachschule (Berufsschule) besucht zu haben. 1930 habe er die Gesellen- und 1938 die Meisterprüfung bestanden. Vor seiner Einberufung und ab 1948 bis 1961 habe er in seinem Beruf unselbständig gearbeitet. Danach sei er wegen der Schädigungsfolgen zunächst berufs- und ab 1. April 1964 erwerbsunfähig geworden. Sein verhindertes Berufsziel sei das des selbständigen Bäckermeisters gewesen.

Nach Einholung einer schriftlichen Auskunft von der letzten Arbeitgeberfirma des Klägers O. B. GmbH, die am 28. September 1965 bestätigte, der Kläger sei von 1948 bis Juli 1961 als Facharbeiter im Stundenlohn beschäftigt gewesen und weiter angab, er habe keine leitende oder aufsichtführende Stellung innegehabt, erließ das Versorgungsamt den bindend gewordenen Bescheid vom 29. Oktober 1965. Darin stufte es ihn in die Leistungsgruppe 1 der männlichen Arbeiter im Wirtschaftsbereich Nahrungs- und Genußmittelindustrie ein und gewährte ab 1. Januar 1964 Berufsschadensausgleich in gesetzlicher Höhe.

Im November 1966 beantragte der Kläger die Erteilung eines Zugunstenbescheides mit der Begründung, die vorgenommene Eingruppierung entspreche nicht seinem vereitelten Berufsziel, selbständig zu sein. Am 22. November 1966 wurde er abschlägig beschieden, weil der Bescheid vom 29. Oktober 1965 nicht zweifelsfrei unrichtig sei. Der Kläger hätte bei ernsthafter Absicht trotz der Schädigungsfolgen als selbständiger Bäckermeister arbeiten können. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Durch Widerspruchsbescheid vom 16. August 1967 wurde der angefochtene Bescheid mit der zusätzlichen Begründung bestätigt, die Einstufung sei auch nicht unter dem neu vorgebrachten Gesichtspunkt unrichtig, daß der Kläger bei seiner Qualifikation in der Backwarenindustrie mit Wahrscheinlichkeit Angestellter geworden wäre. Die dagegen erhobene Klage wies das Sozialgericht Darmstadt mit Urteil vom 11. April 1968 ab, da kein Ermessensfehler ersichtlich sei. Seine Berufung vor dem Hessischen Landessozialgericht nahm der Kläger am 26. Februar 1969 zurück, nachdem er u.a. erklärt hatte, die Firma B. sei etwa im Jahre 1956 an ihn herangetreten, ob er eine Meisterstelle übernehmen wolle. Zu diesem Zwecke hätten ihn zwei Betriebsangehörige überprüft.

Am 13. März 1969 stellte er erneut Antrag auf Erteilung eines Zugunstenbescheides, den er mit einer Bescheinigung der Firma B. vom 10. März 1969 begründete. Danach sei belegt, daß er auf Grund seiner Kenntnisse und Charaktereigenschaften durchaus die Möglichkeit gehabt habe, eine Meisterstelle in dieser Firma einzunehmen. Die weitere Verschlechterung seines Gesundheitszustandes habe eine Übernahme in das Angestelltenverhältnis jedoch verhindert.

Mit durch Widerspruchsbescheid vom 5. September 1969 bestätigter Zugunstenentscheidung vom 3. April 1969 wurde er abschlägig beschieden, weil keine neuen Tatsachen und Beweismittel vorgetragen worden seien.

Hiergegen hat der Kläger erneut Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben und vorgetragen, die Firma B. habe nunmehr bestätigt, daß er ohne die Schädigungsfolgen dort als Meister im Angestelltenverhältnis beschäftigt wäre. Er habe seine Berufung vor dem Hessischen Landessozialgericht zurückgenommen, weil ihm die Beantragung eines Zugunstenbescheides empfohlen worden sei, wenn er entsprechende Beweismittel erbringe. Ihm gebühre Berufsschadensausgleich nach der Leistungsgruppe II der Angestellten. Im übrigen hätte er sich nach dem Kriege selbständig machen wollen.

Mit Urteil vom 30. September 1970 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, der angefochtene Bescheid beinhalte keinen Ermessensfehler, da die zweifelsfreie Unrichtigkeit des bindend gewordenen Bescheides vom 22. November 1966 nicht feststehe. Zwar sei im Bescheid vom 29. Oktober 1965 zum Teil von unrichtigen medizinischen Voraussetzungen ausgegangen und nicht berücksichtigt worden, daß der Kläger sich vor dem Kriege wegen der erst 1938 abgelegten Meisterprüfung noch nicht selbständig hätte machen können. Diesen Bescheid habe er aber nicht angefochten. Der negative Zugunstenbescheid vom 22. November 1966 habe nicht beachtet, daß der Aufbau einer selbständigen Existenz nach dem Kriege an der dauernden und erheblichen Verschlechterung der Sehfähigkeit und nicht am Willen des Klägers gescheitert sei. Auch hätte er als Ungeschädigter bei der Firma B. die Möglichkeit gehabt, Meister im Angestelltenverhältnis zu werden. Trotz dieser für ihn günstigen materiellen Rechtslage bestünden jedoch nur Zweifel an der Richtigkeit der früheren Zugunstenentscheidung. Dem Prinzip der Rechtssicherheit in Bezug auf bindende Bescheide sei der Vorzug zu geben. Das Gericht halte sich aber für verpflichtet, darauf hinzuweisen, daß es höchst unbefriedigend sei, wenn der Forderung nach materieller Gerechtigkeit nicht entsprochen worden sei, wie es für die Verwaltungsbehörde ohne weiteres möglich gewesen wäre und noch sei.

Gegen dieses Urteil, das dem Kläger am 12. Oktober 1970 zugestellt worden ist, richtet sich seine am 22. Oktober 1970 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Zur Begründung bittet er insbesondere im Hinblick auf den letzten Absatz der Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils, die Sache noch einmal zu überprüfen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 30. September 1970 und den Bescheid des Beklagten vom 3. April 1969 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. September 1969 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend.

Die Akten des Versorgungsamts D. mit der Grundlisten-Nr. sowie die Akten des Sozialgerichts Darmstadt mit dem Az.: S 5/V-423/67 haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten beider Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden. (§§ 143, 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG–). Sie ist jedoch nicht begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 3. April 1969 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. September 1969 ist rechtlich nicht zu beanstanden.

Der Auffassung des Sozialgerichts war im Ergebnis beizupflichten, wenn es auch übersehen hat, daß das Begehren des Klägers ausweislich seines Klageantrages nicht auf Eingruppierung als Selbständiger gemäß § 5 der Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs. 3 und 4 BVG (DVO) gerichtet war, sondern in die Leistungsgruppe II der Angestellten in Anwendung des § 3 DVO. Insoweit ist zu beachten, daß er bereits im Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 22. November 1966 vorgetragen hat, es könne dahingestellt bleiben, ob er sein Ziel, Selbständiger zu werden, erreicht haben würde. Insoweit dürfte die zweifelsfreie Unrichtigkeit der bisherigen Entscheidung (gemeint ist die vom 29. Oktober 1965) nicht nachzuweisen sein. Sein im erstinstanzlichen Verfahren am 30. September 1970 zu Protokoll genommener Hinweis, daß er beabsichtigt habe, sich nach dem Kriege selbständig zu machen, war daher rechtlich nicht beachtlich.

Ferner hat das Sozialgericht übersehen, daß der Antrag auf Erteilung eines Zugunstenbescheides vom 13. März 1969, der Ausgangspunkt der von ihm und vom Senat zu überprüfenden Verwaltungsentscheidung gewesen ist, nicht das Begehren auf Aufhebung des früheren bindend gewordenen negativen Zugunstenbescheides vom 22. November 1966 beinhaltete, sondern sich bei richtiger Würdigung nur auf die Abänderung des bindenden Sachbescheides vom 29. Oktober 1965 bezogen hat. Denn der Kläger bringt darin zum Ausdruck, daß er ihn in die höhere Gruppe einzustufen bitte. Durch Antrag auf Erteilung eines Zugunstenbescheides die Aufhebung eines anderen Zugunstenbescheides zu begehren, dürfte ohnehin grundsätzlich nicht sachentsprechend und nicht Sinn und Zweck der Vorschrift des § 40 Abs. 1 des Verfahrensgesetzes der Kriegsopferversorgung (VfG – KOV –) sein. Mit der bloßen Aufhebung des Bescheides vom 22. November 1966 hätte der Kläger denn auch keinen rechtlichen und materiellen Vorteil erringen können.

Trotz dieser am Begehren des Klägers vorbeigehenden Begründung im angefochtenen Urteil war dieses jedoch im Ergebnis zu halten. Denn die Voraussetzungen des § 40 Abs. 1 VfG (KOV) sind nicht erfüllt, wie das Vordergericht an anderer Stelle zutreffend ausgeführt hat. Nach dieser Vorschrift kann die Verwaltungsbehörde zugunsten eines Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Ein solcher setzt indessen voraus, daß die frühere Entscheidung (hier die vom 29. Oktober 1965) aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unrichtig ist. Bestehen lediglich Zweifel an der Richtigkeit der früheren Entscheidung, so darf ein neuer Bescheid nicht ergehen.

Dieses Verbot, das der Senat als mit der Rechtsordnung im Einklang stehend betrachtet, hinderte den Beklagten am Erlaß der vom Kläger gewünschten Entscheidung. Da das Sozialgericht das richtig erkannt und ausgeführt hat, indem es sich sogar mit der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der materiellen Gerechtigkeit einerseits und der Rechtssicherheit andererseits auseinandergesetzt hat, war seine Schlußbemerkung nicht erforderlich. Denn dem Beklagten ist es eben nicht "ohne weiteres möglich”, der Forderung nach materieller Gerechtigkeit zu entsprechen. Er darf nur im Sinne des § 40 Abs. 1 VfG (KOV) positiv tätig werden, wenn die Grundvoraussetzung, nämlich die zweifelsfreie Unrichtigkeit eines früher ergangenen bindend gewordenen Bescheides, zu seiner Überzeugung feststeht.

Daß er sich aus der Bescheinigung der Firma B. vom 10. März 1969 diese Überzeugung nicht verschafft hat, ist nicht ermessensfehlerhaft im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG. Denn sie läßt keine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Annahme erkennen, daß der Kläger als Ungeschädigter in das Angestelltenverhältnis aufgerückt wäre und dort sogar eine den Merkmalen der Leistungsgruppe II entsprechende Tätigkeit verrichtet hätte. Das um so weniger, als die Firma B. in einer Mitteilung vom 7. September 1967 (Bl. 5 SG Beiakten) erklärt hat, infolge seiner Kriegsverletzung sei ihm durch die Mehlstaubentwicklung in der Backabteilung das Arbeiten besonders erschwert gewesen und diese habe deshalb auch ein weiteres berufliches Fortkommen verhindert. Am 10. März 1969 hat sie dagegen bescheinigt, er habe in der Backabteilung ein Waffelblatt in der Größe von 30/40 cm mit einem Messer zu Eiswaffelblättern zuschneiden sollen, welche Arbeit er mit der Begründung zurückgegeben habe, er sei kriegsverletzt. Deshalb habe die Beschädigung auch ein weiteres berufliches Fortkommen verhindert. Wegen dieser unterschiedlichen Angaben ist der Beweiswert der zweiten Bescheinigung ohnehin schon zweifelhaft. Abgesehen davon rücken aber eben nicht alle oder wenigstens mehr als 50 v.H. der in der Backwarenindustrie unselbständig tätigen Bäcker mit Gesellen- und Meisterprüfung in das Angestelltenverhältnis auf. Dementsprechend hat die Firma B. insoweit auch stets nur von einer Möglichkeit gesprochen. Das gleiche ergibt sich nicht zuletzt aus der Mitteilung der Handwerkskammer Wiesbaden (Bl. 532 VA), die dem Versorgungsamt schon vor Erlaß des Widerspruchsbescheides im ersten

Zugunstenverfahren vorgelegen hat. Zweifel an der Richtigkeit des Bescheides vom 29. Oktober 1965 mögen – zumindest aus der Sicht der Jahre ab 1961 – berechtigt sein. Nach dem oben Ausgeführten können sie jedoch nicht genügen.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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