L 1 B 201/08 U

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Altenburg (FST)
Aktenzeichen
S 5 U 1728/06
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 1 B 201/08 U
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die Auferlegung von Verfahrenskosten nach Maßgabe des zum 1. April 2008 in Kraft getretenen § 192 Abs. 4 SGG verstößt gegen die Grundsätze intertemporalen Prozessrechts, wenn das Verwaltungsverfahren bereits vor dem 1. April 2008 abgeschlossen war.
Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Altenburg vom 19. August 2008, Az. S 5 U 1726/06, aufgehoben.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Im Streit steht die Auferlegung von Verfahrenskosten nach näherer Maßgabe des § 192 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Auf die ärztliche Anzeige über den Verdacht einer Berufskrankheit des behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. N. vom 3. August 2005 leitete die Beklagte und Beschwerdeführerin (nachfolgend: Beschwerdeführerin) ein Berufskrankheitenfest-stellungsverfahren zu den Nrn. 2108 bis 2110 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) ein. Insbesondere wurde der Kläger zu wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten befragt. Die Erstellung einer Expositionsanalyse unterblieb jedoch. Des Weiteren hat die Beschwerdeführerin Aufnahmen bildgebender Verfahren sowie Befundberichte der behandelnden Ärzte beigezogen. Eine medizinische Begutachtung des Klägers wurde jedoch nicht veranlasst.

Stattdessen hat die Beschwerdeführerin ihrem Beratungsarzt, dem Chirurgen Dr. B., die Verwaltungsakte nebst Röntgenbildern vorgelegt und um Einschätzung gebeten, ob eine Erkrankung im Sinne der Nrn. 2108 bis 2110 der BKV vorliegt. In seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 19. Januar 2006 gelangt er zu der Einschätzung, dass von einer schicksalhaften Bandscheibenerkrankung an typischer Stelle (Osteochondrose monosegmental L 4/5) aus körpereigener Ursache auszugehen sei. Wegen des Fehlens belastungsadaptiver degenerativer Veränderungen im Bereich der übrigen Lendenwirbelsäule sei ein belastungskonformes Schadensbild nicht erkennbar. Eine berufsbedingte Verursachung der Bandscheidenerkrankung im Sinne der BK Nrn. 2108 und 2110 sei daher auch unter Berücksichtigung der beruflichen Anamnese nicht wahrscheinlich.

Mit Bescheid vom 22. März 2006 lehnte die Beschwerdeführerin die Anerkennung der Lendenwirbelsäulenbeschwerden des Klägers als Berufskrankheit nach den Nrn. 2108 und 2110 ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Wirbelsäulenbeschwerden nach dem Ergebnis der Ermittlungen weder durch die berufliche Tätigkeit verursacht noch verschlimmert wurden. Insbesondere seien die medizinischen Voraussetzungen der geltend gemachten Berufskrankheiten nicht erfüllt. Es mangele an einem belastungskonformen Schadensbild.

Mit seiner nach erfolglosem Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2006) unter dem 12. Juni 2006 zum Sozialgericht Altenburg erhobenen Klage verfolgte der Kläger sein Begehren weiter.

Im Rahmen der medizinischen Sachaufklärung hat das Sozialgericht Befundberichte und Behandlungsunterlagen des Klägers eingeholt. Zudem hat das Gericht ein Sachverständigengutachten bei Dr. med. S. in Auftrag gegeben. Der Gutachter schätzte ein, dass eine Berufskrankheit im Sinne der Nr. 2108 und 2110 der BKV gegeben sei. Im weiteren Verfahrensgang hat die Beschwerdeführerin weitere Ermittlungen zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen eingeleitet. In der Expositionsanalyse vom 25. Januar 2007 wird angenommen, dass im Rahmen einer gebotenen Gesamtbetrachtung hinsichtlich der Berufskrankheiten nach Nr. 2108 und 2110 der BKV im Zeitraum von Oktober 1993 bis Ende Juli 2005 eine gefährdende Belastung vorgelegen habe.

Mit Urteil vom 20. Mai 2008 hat das Sozialgericht - unter Aufhebung der angegriffenen Bescheide - die Beschwerdeführerin verurteilt, bei dem Kläger das Vorliegen der Berufskrankheiten nach den Nr. 2108 und 2110 der BKV anzuerkennen sowie Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 vom Hundert zu gewähren. Die Beschwerdeführerin hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt (Az. L 1 U 727/08).

Mit Beschluss vom 19. August 2008 hat das Sozialgericht der Beschwerdeführerin die Zahlung von Verfahrenskosten in Höhe von 2.543,37 Euro an die Staatskasse auferlegt. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, dass die Vorschrift des § 192 Abs. 4 SGG im vorliegenden Rechtsstreit anwendbar sei, weil diese ohne Übergangsregelung zum 1. April 2008 in Kraft getreten sei und Gründe der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes ihrer Anwendung nicht entgegenstünden. Des weiteren seien auch die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Kostenauferlegung gegeben.

Gegen den Beschluss vom 19. August 2008 hat die Beschwerdeführerin am 5. September 2008 Beschwerde erhoben. Zu deren Begründung macht sie geltend, dass erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren nicht unterlassen worden seien. Insbesondere habe keine Veranlassung bestanden, das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen zu prüfen, weil für den geltend gemachten Anspruch bereits der ursächliche Zusammenhang zwischen beruflicher Einwirkung und der Entstehung einer bandscheibenbedingten Erkrankung auf Grund des röntgenologisch dokumentierten Schadensbildes nicht wahrscheinlich gewesen sei. Darüber hinaus ist die Beschwerdeführerin der Rechtsansicht, dass die Auferlegung von Kosten nach § 194 Abs. 4 SGG nicht zulässig sei. Denn die maßgebende Bestimmung sei erst zum 1. April 2008 in Kraft getreten. Insoweit aber sei es nicht zulässig, die Verfahrensbeteiligten einem Kostenrisiko auszusetzen, welches bei Beginn des sozialgerichtlichen Prozesses noch nicht existent gewesen sei.

Die Beschwerdeführerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Altenburg vom 19. August 2008 aufzuheben.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogene Verwaltungsakte sowie den in den Akten befindlichen Schriftwechsel insgesamt verwiesen.

II.

Die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Altenburg vom 19. August 2008 ist nach §§ 172 Abs. 1, 173 SGG zulässig und begründet. Denn die angegriffene Entscheidung überschreitet zu Lasten der Beschwerdeführerin die Grenze, die das Rechtsstaatsprinzip der Anwendung von neu geschaffenen verfahrensrechtlichen Regelungen zieht.

Nach Maßgabe des durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I S. 444) neu eingefügten § 192 Abs. 4 SGG kann das Gericht der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden. Das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 ist am 1. April 2008 in Kraft getreten

Mangels einer ausdrücklichen Übergangsregelung im Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 sind die Grundsätze intertemporalen Prozessrechts als ungeschriebenes, normergänzendes Recht anzuwenden. In Ausprägung des verfassungsrechtlich durch Art. 2 Abs. 1 und 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) verbürgten Vertrauensschutzes steht es dem Gesetzgeber zwar grundsätzlich offen, Neuregelungen des Prozessrechts auch mit Wirkung auf laufende Verfahren vorzunehmen. Denn das Vertrauen in den Fortbestand verfahrensrechtlicher Regelungen ist von Verfassungs wegen weniger geschützt als das Vertrauen in die Aufrechterhaltung materieller Rechtspositionen; im Einzelfall aber können verfahrensrechtliche Regelungen ihrer Bedeutung und ihres Gewichts wegen in gleichem Maße schutzwürdig sein wie Positionen des materiellen Rechts (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 7. Juli 1992, Az. 2 BvR 1631/90, 2 BvR 1728/90). Denn auch Verfahrensordnungen können Vertrauenspositionen, zumal im Rahmen bereits anhängiger Verfahren oder gegebener Verfahrenslagen begründen. Im Bereich von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren können den Beteiligten durch Änderungen der Verfahrensordnungen mit Wirkung für bereits anhängige Verfahren wesentliche Positionen für die Wahrung ihrer Rechte verkürzt oder abgeschnitten werden (Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 22. März 1983, Az. 2 BvR 475/78); zudem können - wie vorliegend - Kostenrisiken neu begründet werden.

Vor diesem Hintergrund ist die Auferlegung von Kosten, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die sodann im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden, jedenfalls dann als wesentliche Veränderung einer bisher bestehenden verfahrensrechtlichen Lage zu bewerten, wenn im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verfahrensneuregelung - hier zum 1. April 2008 - das Verwaltungsverfahren bereits abgeschlossen war. Denn in diesen Fallgestaltungen ist es der Behörde rechtstatsächlich gar nicht eröffnet, ihr (abgeschlossenes) Verwaltungsverfahren einer Prüfung im Lichte des § 192 Abs. 4 SGG zu unterziehen. Dergestalt liegen die Verhältnisse auch im vorliegenden Rechtsstreit: Das Verwaltungsverfahren wurde durch Erlass des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 2006 abgeschlossen; die Klage vor dem Sozialgericht wurde sodann unter dem 12. Juni 2006 erhoben.

In dieser Sicht auf die Dinge sieht sich der Senat zudem durch die amtliche Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 11. Januar 2008 (BT-Drucks. 16/7716) bestätigt. Denn der Gesetzgeber hat der neu geschaffenen Bestimmung des § 192 Abs. 4 SGG - mangels eines Sanktionsapparates - ausdrücklich eine eher präventive Wirkung beigemessen. Nach der Intention des Gesetzgebers dient die Bestimmung vielmehr dazu, die Verwaltungen vor dem Hintergrund der möglichen Kostenfolge zu sorgfältiger Ermittlung anzuhalten und damit bei den Gerichten Entlastungseffekte zu erreichen (BT-Drucks. 16/7716, S. 23). Mit diesem gesetzgeberischen Ziel der qualitativen Steigerung der Sachaufklärung im Vorverfahren ist die Auferlegung von Kosten für bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung abgeschlossene Verwaltungsverfahren nicht in Einklang zu bringen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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