Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 3 AS 4081/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 AS 584/09 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Heilbronn vom 22.12.2008 dahingehend abgeändert, dass die vorläufige Verpflichtung zur monatlichen Zahlung von 351,00 EUR an die Beschwerdeführerin längstens für den Zeitraum bis zum 31.10.2009 gilt.
2. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
3. Die Beschwerdeführerin hat die außergerichtlichen Kosten der Beschwerdegegnerin auch im Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung der Regelleistung nach § 20 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes im Streit.
Die 1983 geborene Beschwerdegegnerin (Bg.) reiste am 21.01.2004 in die Bundesrepublik ein, um - nach eigener Aussage - "einen Mann zu finden". In der Folgezeit sagte sie als Zeugin in einem Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandels aus.
Die Bg. wurde am 23.08.2006 auf Veranlassung der Polizei in einer geheimen Schutzunterkunft eines Trägers der Wohlfahrtspflege aufgenommen. Die Unterkunft ist dort kostenlos, doch werden der Bg. keine sonstigen Mittel zur Sicherung ihres Lebensunterhalts gewährt. Im selben Monat wurde die Bg. ohne zeitliche Beschränkung in das Zeugenschutzprogramm des Landeskriminalamtes (LKA) aufgenommen. Die Stadt H. erteilte der Bg. eine Bescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz / EU, wonach der Aufenthalt und die Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik (zuletzt bis zum 07.02.2010) gestattet wurden.
Die Bg. beantragte bei der Beschwerdeführerin (Bf.) für die Zeit ab dem 01.03.2008 Leistungen nach dem SGB II. Die Bf. lehnte dies mit Bescheid vom 17.03.2008 mit der Begründung ab, die Bg. sei zur Arbeitsaufnahme eingereist, weswegen ihr nach "§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II" Leistungen nicht gewährt werden könnten. Der Widerspruch hiergegen wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17.04.2008 zurückgewiesen.
Die Bg. hat mit Schriftsatz vom 23.04.2008 beim Sozialgericht Heilbronn (SG) Klage erhoben (S 3 AS 1316/08) und gleichzeitig die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt (S 3 AS 1278/08 ER).
Nachdem die Bf. die Regelleistung nach dem SGB II zunächst vorläufig weiter erbracht hatte, lehnte sie die Weiterbewilligung mit Bescheid vom 27.11.2008 erneut mit gleicher Begründung wie zuvor ab.
Die Bg. hat daraufhin beim SG erneut einstweiligen Rechtsschutz beantragt (S 3 AS 4081/08 ER). Die Bg. hat vorgetragen, dass sie nicht nach Litauen zurückkehren wolle und ihren Lebensmittelpunkt in der Stadt H. dauerhaft eingerichtet habe. Es treffe außerdem nicht zu, dass sie zur Arbeitssuche in die Bundesrepublik eingereist sei. Schließlich sei sie auch ohne zeitliche Begrenzung in das Zeugenschutzprogramm des Landes Baden-Württemberg aufgenommen worden.
Die Bf. argumentierte hiergegen, dass es eine Freizügigkeit zugunsten der Bg. aufgrund des Zeugenschutzes nicht gebe. Diese sei lediglich aufgrund der Arbeitssuche möglich, weswegen der Bg. auch die entsprechende Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz / EU ausgestellt worden sei. Zweifel an der Europarechtskonformität des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II seien nicht begründet.
Mit Beschluss vom 22.12.2008 hat das SG die Bf. vorläufig verpflichtet, der Bg. bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache monatlich je 351,00 EUR zu zahlen. Der Ausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II begegne erheblichen Bedenken, da er der Freizügigkeit von Arbeitnehmern nach Art. 18 Abs. 1 des EG-Vertrags (EGV) und dem Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EGV widerspreche (unter Berufung auf LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.07.2008 - L 7 AS 3031/08 ER-B -). Hinreichende Rechtfertigungsgründe seien insoweit nicht ersichtlich; zudem erscheine der Leistungsausschluss auch nicht verhältnismäßig zum Erreichen des angestrebten Zwecks. Unabhängig hiervon sei auch der Tatbestand des Leistungsausschlusses nicht erfüllt. Aus den beigezogenen Akten der Stadt. H. (Ausländerbehörde) ergebe sich, dass die Bg. die Freizügigkeitsbescheinigung nicht zur Arbeitsaufnahme, sondern wegen ihrer Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm erhalten habe.
Am 22.01.2004 hat die Bf. beim SG Beschwerde eingelegt, wozu sie auf ihren bisherigen Vortrag beruft. Auch die Ausländerbehörde sei davon ausgegangen, dass die Bg. eine Arbeit aufnehmen werde; der Aufenthaltsbewilligung habe diese Annahme auch zwingend zugrunde gelegen, weil die Bewilligung sonst nicht hätte ausgesprochen werden dürfen. Damit sei der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfüllt.
Auf Anfrage des Berichterstatters hat die zuständige Ausländerbehörde ihre aktuellen Aktenvorgänge vorgelegt. Das LKA hat am 23.04.2009 mitgeteilt, dass die Bg. sich weiterhin in dem Zeugenschutzprogramm befinde, weil die Gefährdungslage von Zeugen häufig auch noch Jahre nach Abschluss des entsprechenden Strafverfahrens bestehen bleibe. Das Verbleiben im Zeugenschutzprogramm beruhe auf einer aktuellen und individuellen Analyse der Gefährdungslage der Bg. Die Zeugenschutzdienststelle sei nach ihren Verfahrensvorschriften gehalten, Schutzpersonen sobald als möglich an staatliche Kostenträger heranzuführen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten, die Akten des SG sowie die Akten des Landessozialgerichts Bezug genommen.
II. Die nach § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige, insbesondere auch fristgerecht eingelegte Beschwerde ist unbegründet.
Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag 1. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen, 2. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen, 3. in den Fällen des § 86 a Abs. 3 die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise wiederherstellen.
Soweit ein Fall des Abs. 1 der Vorschrift nicht vorliegt, kann das Gericht der Hauptsache nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Abs. 2 Satz 2 der Vorschrift sieht vor, dass einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig sind, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Zu Recht hat das SG das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes bejaht. Vorliegend kommt nur der Erlass einer einstweiligen Anordnung als Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Betracht. Eine Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG setzt einen Anordnungsanspruch (die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) und einen Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO -). Der Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn bei der im Verfahren gebotenen summarischen Prüfung ein Erfolg in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist, wobei auch wegen der mit der einstweiligen Regelung verbundenen Vorwegnahme der Hauptsache ein strenger Maßstab anzulegen ist (Bundesverwaltungsgericht, Buchholz 310 § 123 Nr. 15). Denn grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz – GG -), ist von diesem Grundsatz aber eine Abweichung dann geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wieder gutzumachende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 , 74 m.w.N.).
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der seit dem 01.01.2008 geltenden Fassung erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig sind, hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Hilfebedürftige). Diese Voraussetzungen werden von der Bg. unstreitig erfüllt.
Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II für Ausländer und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts ist nicht einschlägig, weil die Bg. bereits im Jahr 2004 in die Bundesrepublik eingereist ist.
Auch der weitere Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen, greift vorliegend nicht.
Offenbleiben kann, ob entsprechend den Ausführungen des SG Zweifel an der Europarechtskonformität des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bestehen. Ebenso ist nicht entscheidungserheblich, ob die Bg. zur Arbeitssuche oder aus einem anderen Grund in die Bundesrepublik eingereist ist. Das SG hat nämlich zutreffend darauf hingewiesen, dass bereits das Tatbestandsmerkmal des geltend gemachten Leistungsausschlusses "deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt" vorliegend nicht erfüllt ist. Zwar ist formal das Aufenthaltsrecht der Bg. an eine Freizügigkeitsberechtigung nach EU-Recht geknüpft worden, doch ist der maßgebliche Zweck des Verbleibs der Bg. in der Bundesrepublik, dass die Bg. faktisch nicht die Möglichkeit hat, in ihre Heimat zurückzukehren, ohne Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt zu sein. Demnach gingen die Initiativen für die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis bzw. deren Verlängerung ausschließlich von der Polizei und der Staatsanwaltschaft aus, nicht jedoch von der Bg. selbst (Bl. 70 der Akte der Ausländerbehörde).
Aus Wortlaut, Sinn und Zweck der Regelung ergibt sich, dass der Ausschlusstatbestand nicht greift, wenn auch andere Gründe für den rechtmäßigen Aufenthalt in der Bundesrepublik vorliegen (Peters in Estelmann, SGB II, Stand 12/08, § 7 Rdnr. 10; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 7 Rdnr. 16). Selbst wenn man auf die vorliegend formell gewählte Begründung des Aufenthaltsstatus nach EU-Recht abstellen würde, könnte dies allenfalls dann zu einem Leistungsausschluss führen, wenn die Alternative einer Erwerbstätigkeit im Herkunftsland jedenfalls theoretisch möglich wäre. Die Bg. kann aber bereits deswegen nicht auf diese Alternative verwiesen werden, weil sie sich in diesem Fall nach den Feststellungen des LKA in Lebensgefahr begeben würde. Da vorliegend Leistungen zur Existenzsicherung geltend gemacht werden und andere Einkunftsquellen oder Anspruchsgrundlagen der Bg. nicht ersichtlich sind, ist auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden.
Allerdings war der Tenor der stattgebenden Entscheidung des SG dahingehend zu korrigieren, dass entsprechend der Regelung in § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II die Dauer der Gewährung auf einen Zeitraum von sechs Monaten für die Zukunft zu begrenzen war; ein dahingehender Antrag der Bf. ist als "Minus" in ihrem Antrag auf Aufhebung des angegriffenen Beschlusses des SG enthalten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung. Bei der Entscheidung wurde berücksichtigt, dass die Bf. bei gleichbleibenden Verhältnissen auch über den 31.10.2009 hinaus zur vorläufigen Leistungsgewährung verpflichtet sein dürfte.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
2. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
3. Die Beschwerdeführerin hat die außergerichtlichen Kosten der Beschwerdegegnerin auch im Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung der Regelleistung nach § 20 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes im Streit.
Die 1983 geborene Beschwerdegegnerin (Bg.) reiste am 21.01.2004 in die Bundesrepublik ein, um - nach eigener Aussage - "einen Mann zu finden". In der Folgezeit sagte sie als Zeugin in einem Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandels aus.
Die Bg. wurde am 23.08.2006 auf Veranlassung der Polizei in einer geheimen Schutzunterkunft eines Trägers der Wohlfahrtspflege aufgenommen. Die Unterkunft ist dort kostenlos, doch werden der Bg. keine sonstigen Mittel zur Sicherung ihres Lebensunterhalts gewährt. Im selben Monat wurde die Bg. ohne zeitliche Beschränkung in das Zeugenschutzprogramm des Landeskriminalamtes (LKA) aufgenommen. Die Stadt H. erteilte der Bg. eine Bescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz / EU, wonach der Aufenthalt und die Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik (zuletzt bis zum 07.02.2010) gestattet wurden.
Die Bg. beantragte bei der Beschwerdeführerin (Bf.) für die Zeit ab dem 01.03.2008 Leistungen nach dem SGB II. Die Bf. lehnte dies mit Bescheid vom 17.03.2008 mit der Begründung ab, die Bg. sei zur Arbeitsaufnahme eingereist, weswegen ihr nach "§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II" Leistungen nicht gewährt werden könnten. Der Widerspruch hiergegen wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17.04.2008 zurückgewiesen.
Die Bg. hat mit Schriftsatz vom 23.04.2008 beim Sozialgericht Heilbronn (SG) Klage erhoben (S 3 AS 1316/08) und gleichzeitig die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beantragt (S 3 AS 1278/08 ER).
Nachdem die Bf. die Regelleistung nach dem SGB II zunächst vorläufig weiter erbracht hatte, lehnte sie die Weiterbewilligung mit Bescheid vom 27.11.2008 erneut mit gleicher Begründung wie zuvor ab.
Die Bg. hat daraufhin beim SG erneut einstweiligen Rechtsschutz beantragt (S 3 AS 4081/08 ER). Die Bg. hat vorgetragen, dass sie nicht nach Litauen zurückkehren wolle und ihren Lebensmittelpunkt in der Stadt H. dauerhaft eingerichtet habe. Es treffe außerdem nicht zu, dass sie zur Arbeitssuche in die Bundesrepublik eingereist sei. Schließlich sei sie auch ohne zeitliche Begrenzung in das Zeugenschutzprogramm des Landes Baden-Württemberg aufgenommen worden.
Die Bf. argumentierte hiergegen, dass es eine Freizügigkeit zugunsten der Bg. aufgrund des Zeugenschutzes nicht gebe. Diese sei lediglich aufgrund der Arbeitssuche möglich, weswegen der Bg. auch die entsprechende Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz / EU ausgestellt worden sei. Zweifel an der Europarechtskonformität des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II seien nicht begründet.
Mit Beschluss vom 22.12.2008 hat das SG die Bf. vorläufig verpflichtet, der Bg. bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache monatlich je 351,00 EUR zu zahlen. Der Ausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II begegne erheblichen Bedenken, da er der Freizügigkeit von Arbeitnehmern nach Art. 18 Abs. 1 des EG-Vertrags (EGV) und dem Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EGV widerspreche (unter Berufung auf LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.07.2008 - L 7 AS 3031/08 ER-B -). Hinreichende Rechtfertigungsgründe seien insoweit nicht ersichtlich; zudem erscheine der Leistungsausschluss auch nicht verhältnismäßig zum Erreichen des angestrebten Zwecks. Unabhängig hiervon sei auch der Tatbestand des Leistungsausschlusses nicht erfüllt. Aus den beigezogenen Akten der Stadt. H. (Ausländerbehörde) ergebe sich, dass die Bg. die Freizügigkeitsbescheinigung nicht zur Arbeitsaufnahme, sondern wegen ihrer Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm erhalten habe.
Am 22.01.2004 hat die Bf. beim SG Beschwerde eingelegt, wozu sie auf ihren bisherigen Vortrag beruft. Auch die Ausländerbehörde sei davon ausgegangen, dass die Bg. eine Arbeit aufnehmen werde; der Aufenthaltsbewilligung habe diese Annahme auch zwingend zugrunde gelegen, weil die Bewilligung sonst nicht hätte ausgesprochen werden dürfen. Damit sei der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfüllt.
Auf Anfrage des Berichterstatters hat die zuständige Ausländerbehörde ihre aktuellen Aktenvorgänge vorgelegt. Das LKA hat am 23.04.2009 mitgeteilt, dass die Bg. sich weiterhin in dem Zeugenschutzprogramm befinde, weil die Gefährdungslage von Zeugen häufig auch noch Jahre nach Abschluss des entsprechenden Strafverfahrens bestehen bleibe. Das Verbleiben im Zeugenschutzprogramm beruhe auf einer aktuellen und individuellen Analyse der Gefährdungslage der Bg. Die Zeugenschutzdienststelle sei nach ihren Verfahrensvorschriften gehalten, Schutzpersonen sobald als möglich an staatliche Kostenträger heranzuführen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten, die Akten des SG sowie die Akten des Landessozialgerichts Bezug genommen.
II. Die nach § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige, insbesondere auch fristgerecht eingelegte Beschwerde ist unbegründet.
Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag 1. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen, 2. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen, 3. in den Fällen des § 86 a Abs. 3 die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise wiederherstellen.
Soweit ein Fall des Abs. 1 der Vorschrift nicht vorliegt, kann das Gericht der Hauptsache nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Abs. 2 Satz 2 der Vorschrift sieht vor, dass einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig sind, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Zu Recht hat das SG das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes bejaht. Vorliegend kommt nur der Erlass einer einstweiligen Anordnung als Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Betracht. Eine Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG setzt einen Anordnungsanspruch (die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) und einen Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO -). Der Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn bei der im Verfahren gebotenen summarischen Prüfung ein Erfolg in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist, wobei auch wegen der mit der einstweiligen Regelung verbundenen Vorwegnahme der Hauptsache ein strenger Maßstab anzulegen ist (Bundesverwaltungsgericht, Buchholz 310 § 123 Nr. 15). Denn grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz – GG -), ist von diesem Grundsatz aber eine Abweichung dann geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wieder gutzumachende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 , 74 m.w.N.).
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der seit dem 01.01.2008 geltenden Fassung erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig sind, hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Hilfebedürftige). Diese Voraussetzungen werden von der Bg. unstreitig erfüllt.
Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II für Ausländer und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts ist nicht einschlägig, weil die Bg. bereits im Jahr 2004 in die Bundesrepublik eingereist ist.
Auch der weitere Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen, greift vorliegend nicht.
Offenbleiben kann, ob entsprechend den Ausführungen des SG Zweifel an der Europarechtskonformität des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bestehen. Ebenso ist nicht entscheidungserheblich, ob die Bg. zur Arbeitssuche oder aus einem anderen Grund in die Bundesrepublik eingereist ist. Das SG hat nämlich zutreffend darauf hingewiesen, dass bereits das Tatbestandsmerkmal des geltend gemachten Leistungsausschlusses "deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt" vorliegend nicht erfüllt ist. Zwar ist formal das Aufenthaltsrecht der Bg. an eine Freizügigkeitsberechtigung nach EU-Recht geknüpft worden, doch ist der maßgebliche Zweck des Verbleibs der Bg. in der Bundesrepublik, dass die Bg. faktisch nicht die Möglichkeit hat, in ihre Heimat zurückzukehren, ohne Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt zu sein. Demnach gingen die Initiativen für die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis bzw. deren Verlängerung ausschließlich von der Polizei und der Staatsanwaltschaft aus, nicht jedoch von der Bg. selbst (Bl. 70 der Akte der Ausländerbehörde).
Aus Wortlaut, Sinn und Zweck der Regelung ergibt sich, dass der Ausschlusstatbestand nicht greift, wenn auch andere Gründe für den rechtmäßigen Aufenthalt in der Bundesrepublik vorliegen (Peters in Estelmann, SGB II, Stand 12/08, § 7 Rdnr. 10; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 7 Rdnr. 16). Selbst wenn man auf die vorliegend formell gewählte Begründung des Aufenthaltsstatus nach EU-Recht abstellen würde, könnte dies allenfalls dann zu einem Leistungsausschluss führen, wenn die Alternative einer Erwerbstätigkeit im Herkunftsland jedenfalls theoretisch möglich wäre. Die Bg. kann aber bereits deswegen nicht auf diese Alternative verwiesen werden, weil sie sich in diesem Fall nach den Feststellungen des LKA in Lebensgefahr begeben würde. Da vorliegend Leistungen zur Existenzsicherung geltend gemacht werden und andere Einkunftsquellen oder Anspruchsgrundlagen der Bg. nicht ersichtlich sind, ist auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden.
Allerdings war der Tenor der stattgebenden Entscheidung des SG dahingehend zu korrigieren, dass entsprechend der Regelung in § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II die Dauer der Gewährung auf einen Zeitraum von sechs Monaten für die Zukunft zu begrenzen war; ein dahingehender Antrag der Bf. ist als "Minus" in ihrem Antrag auf Aufhebung des angegriffenen Beschlusses des SG enthalten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung. Bei der Entscheidung wurde berücksichtigt, dass die Bf. bei gleichbleibenden Verhältnissen auch über den 31.10.2009 hinaus zur vorläufigen Leistungsgewährung verpflichtet sein dürfte.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
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