L 10 AL 660/97

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 15 Ar 796/95
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 10 AL 660/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 28. Januar 1997 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Arbeitslosengeldes (Alg) im Streit. Dabei geht es um die Frage, welche Arbeitszeit bei der Bemessung des dem Kläger zustehenden Alg zugrunde zu legen ist.

Der im Jahre 1935 geborene Kläger, Mitglied der Industriegewerkschaft Medien (IG Medien), war vom 1. April 1957 bis zum 3. Februar 1995 bei der Druck- und Verlagsgesellschaft mbH in D. (Arbeitgeber) bzw. an den letzten drei Tagen beim Konkursverwalter dieses Unternehmens beschäftigt. Am 3. Februar 1995 meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitslos und beantragte Alg. Der Arbeitsbescheinigung vom 1. März 1995 ist zu entnehmen, dass der Kläger im Zeitraum vom 1. August 1994 bis zum 31. Januar 1995 Bruttoarbeitsentgelte zwischen 4.124,93 DM und 4.512,59 DM an 21 bis 23 Arbeitstagen bzw. 147 bis 161 Stunden pro Monat erzielte. Das Formular wies unter Ziff. 9 "wöchentliche Arbeitszeit" eine tarifliche regelmäßige Arbeitszeit von 37 Stunden aus; mit dem Arbeitnehmer sei für den Zeitraum vom 1. März 1994 bis zum 31. März 1995 hiervon abweichend eine wöchentliche Arbeitszeit von lediglich 35 Stunden vereinbart worden. Auf der Grundlage dieser Angaben bewilligte die Beklagte sodann mit Bescheid vom 27. März 1995 Alg nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 980,00 DM in der Leistungsgruppe A, netto somit 346,20 DM ab 4. Februar 1995. Dabei legte die Beklagte eine wöchentliche Arbeitszeit von 35 Stunden zugrunde.

Der Kläger widersprach am 10. April 1995 mit der Begründung, die von der Beklagten zugrunde gelegte Wochenarbeitszeit entspreche nicht der tariflich regelmäßigen Arbeitszeit von 37 Stunden. Diese reduzierte Arbeitszeit sei vielmehr zur Vermeidung von Kündigungen und zur Konsolidierung der Druck- und Verlagsgesellschaft mbH im Rahmen einer Betriebsvereinbarung vom 15. Februar 1994 festgesetzt worden; es habe sich insoweit um eine befristete Maßnahme zur Sicherung der Arbeitsplätze gehandelt. Eine Ablichtung dieser Betriebsvereinbarung fügte der Kläger bei. Mit Bescheid vom 28. April 1995 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Begründend führte sie dabei u.a. aus, § 112 Abs. 4 Nr. 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sehe vor, dass die vereinbarte Arbeitszeit anstelle der tariflich bestimmten zugrunde zu legen sei, wenn diese Vereinbarung nicht nur vorübergehend getroffen worden sei. Dies sei in der Regel aber in einem Zeitraum von drei Monaten anzunehmen, so dass die aufgrund der Betriebsvereinbarung geltende Arbeitszeit hier zu berücksichtigen sei.

Mit am 23. Mai 1995 beim Sozialgericht Darmstadt (SG) erhobener Klage verfolgte der Kläger sein Begehren mit dem Vortrag weiter, die Betriebsvereinbarung verstoße gegen höherrangiges Tarifrecht und sei deswegen rechtswidrig.

Vom SG wurde der Kläger persönlich gehört; auf die Niederschrift wird Bezug genommen. Mit Urteil vom 28. Januar 1997 gab das SG der Klage statt. Die Kammer war der Auffassung, eine im Rahmen des § 112 Abs. 4 Nr. 3 AFG zu berücksichtigende vereinbarte geringere Arbeitszeit als die tariflich vorgesehene habe nicht vorgelegen. Die Betriebsvereinbarung vom 15. Februar 1994 sei nämlich zumindest im Hinblick auf die Regelung der wöchentlichen regelmäßigen Arbeitszeit als nichtig anzusehen, weil sie gegen § 87 Abs. 1 Betriebsverfassungsgesetz bzw. § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz in Verbindung mit den Arbeitszeitregelungen des Manteltarifvertrags verstoße. Nach diesen Vorschriften sei den Tarifvertragsparteien die Gestaltung der Arbeitsbedingungen vorrangig zu ermöglichen. Bei Vollzeitbeschäftigten sei eine Verkürzung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit gemäß § 3 Buchstabe a MTV nur erlaubt, wenn die Kindererziehung oder die Pflege erkrankter Familienangehöriger dies erfordere. Dieser Fall liege jedoch nicht vor. Sowohl der Kläger als auch der Arbeitgeber seien im übrigen tarifgebunden gewesen. Das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 Tarifvertragsgesetz (TVG) greife vorliegend nicht ein, weil bei Anlegung eines objektiv-hypothetischen Maßstabs die Regelung in der Betriebsvereinbarung zumindest nicht als günstiger anzusehen sei. Sollte es tatsächlich darüber hinaus zu einer Einzelvereinbarung zwischen dem Arbeitgeber und dem Kläger gekommen sein, so wäre auch diese aufgrund des nur durch das Günstigkeitsprinzip eingeschränkten Tarifvorranges gemäß § 4 Abs. 3 Tarifvertragsgesetz ebenfalls nichtig. Auf die Entscheidungsgründe im einzelnen wird ergänzend Bezug genommen.

Gegen dieses ihr am 25. April 1997 zugestellte Urteil richtet sich die am 22. Mai 1997 eingelegte Berufung der Beklagten. Sie trägt vor, vorliegend sei entsprechend der Sonderregelung des § 112 Abs. 4 Nr. 3 AFG die vereinbarte Arbeitszeit der Bemessung zugrunde zu legen. Die Arbeitsvertragsparteien hätten in der Betriebsvereinbarung vom 15. Februar 1994 unter anderem vereinbart, dass im Gesamtbetrieb die 35 Stundenwoche unter Verzicht auf Lohnausgleich eingeführt werde; die einzelnen Arbeitsverträge sollten individuell durch Teilzeitregelungen ergänzt werden entsprechend dem als "Anlage A" bezeichneten Muster. Alle Beteiligten hätten sich auch rund ein Jahr lang hieran gehalten, so dass es sich auch nicht nur um eine vorübergehende Minderung der Arbeitszeit gehandelt habe. Hiervon hätten die Tarifvertragsparteien im übrigen Kenntnis gehabt, ohne gegen diese Praxis vorzugehen. Deshalb sei das auf der Basis von 35 Wochenstunden tarifwidrig abgerechnete Arbeitsentgelt wegen der individuellen arbeitsvertraglichen Teilzeitregelungen für die Bemessung des Alg maßgebend. Das Arbeitslosengeld solle als Lohnersatzleistung nämlich nach dem tatsächlichen Lohnniveau der Versicherten ausgerichtet werden.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 28. Januar 1997 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt vor, zumindest die Kenntnis des Arbeitgeberverbandes von der Betriebsvereinbarung sei zweifelhaft; zwar habe der Kläger eine Individualvereinbarung zur Herabsetzung seiner Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden ohne Lohnausgleich unterschrieben, jedoch sei diese Teilzeitvereinbarung gemäss § 134 BGB wegen Verstoßes gegen § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG nichtig.

Wegen des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte sowie statthafte Berufung ist zulässig und auch begründet. Die Höhe des dem Kläger zustehenden Anspruchs auf Alg ist von der Beklagten zutreffend festgesetzt worden. Sie richtet sich nach § 111 Abs. 1 und § 112 AFG, wie das SG zutreffend ausgeführt hat. Gemäß § 112 Abs. 3 AFG ist für die Berechnung des in der Woche durchschnittlich erzielten Arbeitsentgelts das im Bemessungszeitraum durchschnittlich in der Arbeitsstunde erzielte Arbeitsentgelt mit der Zahl der Arbeitsstunden zu vervielfachen, die sich als Durchschnitt der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit des Beschäftigungsverhältnisses im Bemessungszeitraum ergibt (Satz 1). Hiervon sieht Abs. 4 der Vorschrift Ausnahmen vor. Danach ist vorbehaltlich der Erfüllung der Voraussetzungen der Sondervorschrift des § 112 Abs. 4 Buchstabe a AFG als tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit zugrunde zu legen, wenn nicht nur vorübergehend weniger als die tariflichen oder üblichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitsstunden vereinbart waren. Die Sonderregelung des Abs. 4 a hat folgenden Wortlaut: "War die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit im Bemessungszeitraum aufgrund einer Teilzeitvereinbarung nicht nur vorübergehend auf weniger als 80 v.H. der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit gemindert, ist als tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit die längste regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit zugrunde zu legen, die für den Arbeitslosen während eines 6 Monate umfassenden zusammenhängenden Zeitraums galt, dessen letzter Tag am Tage der Entstehung des Anspruchs nicht länger als drei Jahre zurückliegt; der Durchschnitt der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitzeit der Beschäftigungsverhältnisse im Bemessungszeitraum darf nicht überschritten werden (Satz 1)."

Zwar war vorliegend die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit im Bemessungszeitraum aufgrund einer Teilzeitvereinbarung gemindert, jedoch blieb diese mit rund 5 % unter der im Abs. 4 a genannten Grenze. So ergibt sich entsprechend der Berechnung der Beklagten im Schriftsatz vom 15. April 1998 ausgehend von einem festen Stundenlohn von 28,04 DM bei einer tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 37 Stunden für den Zeitraum vom 4. Februar 1992 bis 28. Februar 1994 auch nur ein Arbeitsentgelt von 1.037,48 DM (gerundet 1.040,00 DM) gegenüber einem wöchentlichen Arbeitsentgelt von 981,40 DM (gerundet 980,00 DM) bei 35 Stunden, was ein Minus von rd. 5,5 Prozent bedeutet. Damit ist, wie auch das SG zutreffend feststellte, allein die Geltung des § 112 Abs. 4 Nr. 3 AFG streitig. Entgegen der Auffassung des SG im angefochtenen Urteil kommt der Senat jedoch zu der Überzeugung, dass diese Norm vorliegend anzuwenden ist. Der Kläger hat vor seiner Arbeitslosmeldung über einen Zeitraum von 11 Monaten zu der reduzierten Stundenzahl gearbeitet. Dieser Zeitraum ist "nicht nur vorübergehend", sondern sogar deutlich länger als der gemäß § 112 Abs. 2 AFG zu berücksichtigende Bemessungszeitraum von 6 Monaten. Jedenfalls ist eine Arbeitszeitvereinbarung, die wie hier für 13 Monate maßgebend sein sollte, nach den Zwecken des § 112 Abs. 4 Nr. 3 AFG nicht nur vorübergehend vereinbart (so BSG SozR 3-4100, 112 Nr. 2; SozR 4100 § 112 Nr. 28). Die in der Betriebsvereinbarung vorgesehene individuelle Vereinbarung ist zwischen den Arbeitsvertragsparteien im Falle des Klägers auch geschlossen und in Vollzug gesetzt worden. Damit ist als "vereinbarte Arbeitszeit" im Sinne des § 112 Abs. 4 Nr. 3 AFG aber die tatsächlich geleistete und vergütete Arbeitszeit anzusehen, denn auszugehen ist von dem Inhalt des Arbeitsvertrages, den er durch seine spätere ein-vernehmliche Handhabung erhalten hat (so auch LSG Mainz vom 27. Juli 1993 - L 1 Ar 76/92 in E-LSG AR-038). Darauf, dass die Betriebsvereinbarung wegen der Tarifüblichkeit von Arbeitszeitregelungen vorliegend gegen §§ 87 Abs. 1, 77 Abs. 3 BetrVG verstieß, kann es nach Ansicht des erkennenden Senates schon deshalb nicht ankommen, weil jedenfalls Individualvereinbarungen geschlossen wurden, wozu die Beschäftigten ebenso wie der Kläger grundsätzlich nicht verpflichtet waren (für den umgekehrten Fall einer Arbeitszeitverlängerung vgl. BSG SozR 3-4100 § 69 Nr. 1). Wenn sie gleichwohl eine solche Vereinbarung schließen, dann kann darin mit Blick auf die Hoffnung der Erhaltung des Arbeitsplatzes und der objektiven Geeignetheit des gewählten Mittels zur Verfolgung dieses Zwecks durchaus davon ausgegangen werden, dass das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG eine solche Regelung trägt.

Im übrigen kommt es nach Auffassung des erkennenden Senats hierauf nicht an. Von je her sind nämlich in der Arbeitslosenversicherung die tatsächlichen Lohn- und Gehaltsverhältnisse im Bemessungszeitraum maßgebend gewesen, welche durch das Bruttoentgelt bestimmt werden, welches dem Arbeitnehmer nach Abzug der Lohnsteuer und der Sozialversicherungsbeiträge zur Verfügung gestellt wird. Hieran hat das AFG nichts geändert (vgl. Begründung zu § 101 Abs. 2-4 AFG-Entwurf, BT-Drucks. V/2291 S. 80 f). Auch in anderen Zusammenhängen, in denen es bei der Bemessung von Sozialleistungen auf die Höhe des Arbeitsentgelts ankommt, hat das BSG nur auf das abgerechnete und dem Bemessungszeitraum tatsächlich gezahlte Arbeitseinkommen abgestellt und nicht auf bloß errechnete Ansprüche (vgl. BSGE 52, 102 = SozR 2200 § 182 Nr. 75; SozR 2200 § 1241 Nr. 30). Dabei ist u.a. betont worden, eine Bemessung der lohnersetzenden Sozialleistungen nach errechneten Arbeitsentgeltansprüchen anstelle des effektiv erzielten Arbeitslohns würde der Unmittelbarkeit des Lohnersatzes nicht mehr Rechnung tragen; eine solche Systemänderung sei dem Gesetzgeber vorbehalten (BSG SozR 2200 § 182 Nr. 75). Das BSG hat dabei selbst für den Fall einer tarifwidrigen Lohnabrechnung das tatsächlich abgerechnete Arbeitsentgelt für die Bemessung des Arbeitslosengeldes als maßgebend auch dann angesehen, wenn die Geltendmachung der Tarifwidrigkeit durch den Arbeitslosen bis zur letzten Abrechnung vor dem Ausscheiden erfolglos geblieben ist, da andernfalls eine rasche Bestimmung des Bemessungsentgelts für das Arbeitsamt kaum möglich wäre (BSG SozR 3-4100 § 112 Nr. 10). Dem schließt sich der erkennende Senat an.

Schließlich kommt auch eine Bemessung des Alg gemäß § 112 Abs. 7 AFG nicht in Betracht, weil die dafür erforderliche unbillige Härte angesichts des letztlich um knapp 6 v.H. divergierenden Arbeitsentgelts vorliegend nicht gegeben ist (vgl. BSG, SozR 4100 § 112 Nr. 19; Nr. 44).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Die Revisionszulassung beruht auf § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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