L 11 KR 5107/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 2 KR 2869/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 5107/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 6. Oktober 2008 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist, ob der Kläger in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) pflichtversichert ist.

Der am 29. August 1938 geborene Kläger war nach der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit am 4. Mai 1953 bis zum Zeitpunkt seines Antrags auf Gewährung von Altersrente wegen Arbeitslosigkeit am 11. Mai 1998 überwiegend gesetzlich krankenversichert. Kein Krankenversicherungsschutz bestand jedoch in der Zeit vom 1. Januar 1978 bis 31. Mai 1988. Der Kläger war damals nicht erwerbstätig und wurde von seinem Vater finanziell unterhalten. Seit 1. September 1998 bezieht der Kläger eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung.

Mit Bescheid vom 18. Mai 1998 stellte die Beklagte fest, dass eine Versicherung in der KVdR nicht möglich ist, weil die erforderlichen Vorversicherungszeiten nicht erfüllt sind. Der Kläger legte hiergegen keinen Widerspruch ein. Seit 27. August 1998 ist der Kläger bei der Beklagten freiwillig krankenversichert.

Im Oktober 2006 wandte sich der Kläger an Rechtsanwalt S. und erteilte diesem am 30. Oktober 2006 schriftlich Vollmacht, ihn in Sachen "A. F. gegen A. wegen Pflichtversicherung statt freiwilliger Versicherung" zu vertreten. Die Vollmacht bevollmächtigte ausdrücklich auch dazu, "Rechtsmittel einzulegen, zurückzunehmen oder auf sie zu verzichten, den Rechtsstreit oder außergerichtliche Verhandlungen durch Vergleich, Verzicht oder Anerkenntnis zu erledigen" (AS 19 der Akte des Sozialgerichts).

Im November 2006 beantragte der Kläger bei der Beklagten über Rechtsanwalt S. die Klärung der Frage, warum er nicht in der KVdR versichert sei. Diese erläuterte mit Schreiben vom 8. November 2006, dass die notwendigen Vorversicherungszeiten fehlen. Rechtsanwalt S. bat mit Schreiben vom 15. November 2006 dies im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Vorschrift des § 5 Abs. 1 Nr. 11 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) zu überprüfen. Die Beklagte erläuterte daraufhin ihre Position mit Schreiben vom 16. November 2006 nochmals, worauf Rechtsanwalt S. mit Schreiben vom 12. Dezember 2006 um einen rechtsmittelfähigen Bescheid bat. Nachdem die Beklagte mit Schreiben vom 13. Dezember 2006 auf den Bescheid vom 18. Mai 1998 hingewiesen hatte, bat Rechtsanwalt S. mit Schreiben vom 20. Dezember 2006, diesen Bescheid nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu überprüfen und hierüber durch rechtsmittelfähigen Bescheid zu entscheiden.

Die Beklagte teilte daraufhin Rechtsanwalt S. mit Schreiben vom 16. Januar 2007 mit, man sehe es nicht als erforderlich an, einen neuen rechtsmittelfähigen Bescheid zu erlassen und selbstverständlich stehe dem Kläger jederzeit das Recht der Überprüfung der Grundlagen für die Ablehnung der Krankenversicherung der Rentner/Pflegeversicherung zu. Allerdings könne aus den genannten Gründen kein neuer rechtsmittelfähiger Bescheid erteilt werden. Das Schreiben enthält keine Rechtsmittelbelehrung.

Rechtsanwalt S. teilte daraufhin mit Schreiben vom 22. Januar 2007 mit, er benötige einen rechtsmittelfähigen Bescheid nach § 44 SGB X, um die Angelegenheit gerichtlich prüfen zu lassen. Wenn die Beklagte keinen rechtsmittelfähigen Bescheid erlassen wolle, solle sie dieses Schreiben als Widerspruch zu den Schreiben vom 16. Januar 2007 ansehen und dem Widerspruchsausschuss vorlegen. Mit Schreiben vom 30. Januar 2007 erbat die Beklagte noch eine Begründung des Widerspruchs. Rechtsanwalt S. bezog sich daraufhin mit Schreiben vom 1. Februar 2007 auf seinen bisherigen Sachvortrag. Nach einem Aktenvermerk der Beklagten fand daraufhin am 8. Februar 2007 ein Telefongespräch mit Rechtsanwalt S. statt. Dort erklärte Rechtsanwalt S., sich die Rechtssache nochmals anzuschauen, sich mit dem Kläger zu besprechen und ggfs. eine Widerspruchsbegründung nachzureichen bzw. den Widerspruch zurückzunehmen.

Mit Schreiben vom 9. Februar 2007 wandte sich Rechtsanwalt S. an den Kläger und erläuterte, dass die Sache seiner Ansicht nach keine Erfolgsaussichten habe. Er bat den Kläger um Rückruf, damit die weitere Vorgehensweise besprochen werden könne. Der Kläger reagierte hierauf nicht. Mit Schreiben vom 15. März 2007 erinnerte Rechtsanwalt S. den Kläger an die Beantwortung des Schreibens und erklärte, er betrachte die Angelegenheit als erledigt, wenn er von dem Kläger nicht bis 30. März 2007 eine Rückantwort erhalte. Für diesen Fall werde er dann ohne weitere Vorankündigung den Widerspruch zurücknehmen. Der Kläger reagierte hierauf ebenfalls nicht.

Mit Schreiben vom 30. Juli 2007 erinnerte die Beklagte Rechtsanwalt S. an die Sache. Dieser teilte daraufhin mit Schreiben vom 3. August 2007 mit, dass der Widerspruch für erledigt betrachtet werden könne. Das Widerspruchsverfahren werde nicht mehr weiterverfolgt.

Am 22. Oktober 2007 hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht Konstanz (SG) mit dem Ziel, als Versicherter in der KVdR geführt zu werden, erhoben. Zur Begründung hat er auf sein geringes Einkommen und die Ungleichbehandlung mit Aussiedlern verwiesen. Rechtsanwalt S. habe den Widerspruch ohne sein Einverständnis und ohne seine Unterschrift zurückgezogen.

Rechtsanwalt S. hat auf Nachfrage des SG den Schriftwechsel mit der A. übermittelt.

Nach vorheriger Ankündigung hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 6. Oktober 2008 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klage sei unzulässig, denn der Bescheid der Beklagten vom 16. Januar 2007 sei durch die Rücknahme des Widerspruchs bestandskräftig geworden. Rechtsanwalt S. sei zur Rücknahme des Widerspruchs bevollmächtigt gewesen. Die Klage könne auch in der Sache keinen Erfolg haben, denn die Weigerung der Beklagten, unter Rücknahme des Bescheides vom 18. Mai 1998 die Versicherungspflicht des Klägers in der KVdR festzustellen, sei rechtlich nicht zu beanstanden. Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V seien versicherungspflichtig Personen, die die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllten und diese Rente beantragt hätten, wenn sie seit der erstmaligen Aufnahme eine Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrags mindestens 9/10 der zweiten Hälfte dieses Zeitraums Mitglied oder nach § 10 SGB V versichert gewesen seien. Diese Voraussetzungen erfülle der Kläger nicht. Die zweite Hälfte des Zeitraums seiner Erwerbstätigkeit erstrecke sich vom 8. November 1975 bis 11. Mai 1998. Diese Zeitspanne umfasse 22 Jahre, sechs Monate und vier Tage. 9/10 hiervon seien 20 Jahre, 3 Monate und 8 Tage. Der Kläger weise aber lediglich eine Versicherungszeit in der gesetzlichen Krankenversicherung in diesem Zeitraum von 9 Jahren, 11 Monaten und 25 Tagen auf. Das beruhe im Wesentlichen darauf, dass er vom 1. Januar 1978 bis 31. Mai 1988 nicht gesetzlich krankenversichert gewesen sei. Weil diese Zeitspanne wesentlich mehr als 1/10 des genannten Zeitraums umfasse, erfülle der Kläger die gesetzlichen Voraussetzungen nicht. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der Entscheidung des BVerfG vom 15. März 2000 (1 BvL 16/96). Denn diese habe lediglich den verfassungswidrigen Ausschluss von Zeiten freiwilliger Mitgliedschaft betroffen. Um eine solche Konstellation gehe es im Falle des Klägers nicht.

Der Kläger hat gegen den ihm am 13. Oktober 2008 zugestellten Gerichtsbescheid am 5. November 2008 Berufung eingelegt. Zur Begründung wiederholt und vertieft er seine früheren Ausführungen und weist erneut auf seine schlechte Einkommenslage hin.

Der Kläger beantragt (sachdienlich gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 6. Oktober 2008 und den Bescheid der Beklagten vom 16. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. April 2009 aufzuheben, die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 18. Mai 1998 zurückzunehmen und festzustellen, dass er ab 1. September 1998 in der Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner pflichtversichert ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für richtig.

Die vom Senat beigeladene (Beschluss vom 11. Februar 2009) Pflegekasse stellt keinen Antrag.

Der Berichterstatter des Senats hat den Sach- und Streitstand mit den Beteiligten am 11. Februar 2009 erörtert.

Die Beklagte hat nach einem entsprechenden Hinweis des Berichterstatters des Senats das Widerspruchsverfahren nachgeholt und den - in der Klageerhebung liegenden - Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 21. April 2009 zurückgewiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und auf die Akten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Sie ist zwar nicht unzulässig, aber unbegründet.

Vor einer Feststellung der Versicherungspflicht des Klägers in der KVdR durch das Gericht bedarf es der Durchführung eines Verwaltungs- und eines Widerspruchsverfahrens. Gleiches gilt für die hier beanspruchte Überprüfung des Bescheides vom 18. Mai 1998 nach § 44 SGB X. Das Schreiben vom 16. Januar 2007 ist als Bescheid anzusehen, mit dem die Rücknahme des Bescheides vom 18. Mai 1998 und die Feststellung der Versicherungspflicht des Klägers in der KVdR abgelehnt wurde. Hiergegen legte der Kläger mit dem Schreiben von Rechtsanwalt S. vom 22. Januar 2007 Widerspruch ein. Dieser Widerspruch wurde anschließend mit Schreiben vom 3. August 2007 zurückgenommen. Die Rücknahme war auch wirksam, denn der Kläger wurde durch Rechtsanwalt S. als Bevollmächtigter vertreten. Die Rechtsanwalt S. erteilte Vollmacht ermächtigte zu allen das Verwaltungsverfahren betreffenden Verfahrenshandlungen (§ 13 Abs. 1 Satz 2 SGB X), nach ihrem Inhalt auch zur Rücknahme von Rechtsbehelfen. Zu den Rechtsbehelfen gehört der Widerspruch nach § 83 SGG. Die Vollmacht wurde zu keinem Zeitpunkt widerrufen. Ein solcher Widerruf der Vollmacht wäre der Beklagten gegenüber auch erst wirksam, wenn er ihr zugeht (§ 13 Abs. 1 Satz 4 SGB X).

Der Bescheid ist damit jedoch noch nicht bindend geworden. Ein Verwaltungsakt wird formell bestandskräftig, wenn er unanfechtbar geworden ist. Ist nach erklärter Rücknahme des Widerspruchs die Widerspruchsfrist noch nicht abgelaufen, kann - bis zur Missbrauchsgrenze - erneut Widerspruch erhoben werden (Schlegel in Hennig, SGG, § 83 Rdnr. 11).

In der vom Kläger am 22. Oktober 2007 erhobenen Klage liegt zugleich die Einlegung eines Widerspruchs (Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 78 Rdnr. 3b m.w.N.). Dieser Widerspruch war auch noch fristgemäß. Zwar ist die Klage nach § 87 Abs. 1 Satz 1 binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zu erheben. Hier gilt jedoch etwas anderes, denn der Bescheid vom 16. Januar 2007 enthält keine Rechtsmittelbelehrung. Fehlt es an einer Rechtsmittelbelehrung, so ist die Einlegung der Klage nach § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG zumindest innerhalb eines Jahres möglich.

Fehlt es an einem Vorverfahren, muss das Gericht dem Kläger die Möglichkeit geben, dieses nachzuholen. Das Verfahren ist entsprechend § 114 Abs. 2 SGG auszusetzen (Leitherer, a.a.O., § 78 Rdnr. 3a). Dies ist hier erfolgt - die Beklagte hat im Berufungsverfahren den Widerspruchsbescheid vom 21. April 2009 erlassen, der nach § 153 Abs. 1, § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens geworden ist.

Die somit zulässige Klage ist jedoch nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 18. Mai 1998 und Feststellung seiner Versicherungspflicht in der KVdR.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.

Der Bescheid vom 18. Mai 1998 ist jedoch rechtmäßig. Versicherungspflichtig sind nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V Personen, die die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllen und diese Rente beantragt haben, wenn sie seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrags mindestens neun Zehntel der zweiten Hälfte des Zeitraums Mitglied oder nach § 10 SGB V (sog. Familienversicherung) versichert waren.

Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Das SG hat dies in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zutreffend dargelegt. Der Senat sieht deshalb gem. § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung aus den - insoweit zutreffenden - Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.

Der Senat sieht keinen Anlass für verfassungsrechtliche Bedenken gegen die 9/10-Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V. Die Problematik der Beschränkung auf bloße Zeiten der Pflichtmitgliedschaft spielt hier keine Rolle; ihr hat der Gesetzgeber auch durch die Neufassung im Anschluss an die Entscheidung des BVerfG vom 15. März 2000, 1 BvL 16/96 u a, SozR 3-2500 § 5 Nr. 42, Rechnung getragen. Dass der Gesetzgeber grundsätzlich berechtigt ist, den Zugang zur KVdR davon abhängig zu machen, dass ein Rentner den überwiegenden Zeitraum seiner Erwerbstätigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung angehörte und mit seinen Beiträgen auch zu dem Solidarausgleich mit den tendenziell höhere Leistungen beanspruchenden Rentnern beigetragen hat, hat das BVerfG nicht in Zweifel gezogen. Der Senat sieht dies genauso.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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