L 9 AL 143/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 AL 251/97
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AL 143/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 7 AL 83/09 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der Beginn der Handlungsfrist des § 45 Abs.4 Satz 2 SGB X für die rückwirkende Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes kann nicht durch Ermittlungen verzögert werden, die keinen Einfluss auf die Entscheidung haben.
2. Zum Vertrauensschutz bei fortgesetzter Leistungsbewilligung.
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 17. Dezember 2002 und der Bescheid der Beklagten vom 30. September 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 1997 aufgehoben.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig sind die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe vom 29. Juni 1993 bis 25. Mai 1996 und die Rückforderung der Leistungen in Höhe von 39.056,90 DM sowie 11.024,73 DM Krankenversicherungsbeiträge in Euro.

Der 1960 geborene Kläger war von 1978 bis 1987 als Metallarbeiter bei der Firma S. AG, danach als Sägewerker, Monteur, Metallwerker, Maschinenschlosser, Lagerarbeiter und Gerbereiarbeiter, unterbrochen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit, tätig. Vor seiner Arbeitlosmeldung am 29. Juni 1993 übte er vom 1. Februar 1991 bis 27. Juni 1993 eine Tätigkeit als Former aus. Ab 29. Juni 1993 erhielt er Arbeitslosengeld.

Auf seinen Antrag vom 1. Juli 1994 bewilligte die Beklagte ihm ab 9. Juli 1994 Arbeitslosenhilfe in Höhe von wöchentlich 257,40 DM. Vom 23. Januar 1995 bis 31. März 1995 bezog er Unterhaltsgeld und anschließend wieder Arbeitslosenhilfe.

Am 20. Juli 1994 vermerkte die Beklagte, dass der Kläger von einem Bediensteten des Arbeitsamts öfters im Lokal "L." in A-Stadt gesehen wurde, auch beim Straßenkehren, und dass der PKW des Klägers auffällige Werbeaufkleber des Lokals trug. Aufgrund der Verfügung vom 7. Oktober 1994 führte das Arbeitsamt S. in dem Lokal eine Außenprüfung durch. Die Mitarbeiter trafen dort am 24. Februar 1995 den Kläger an. Er gab an, er sei seit Ende Juli 1994 je nach Arbeitsanfall als Aushilfskraft tätig und es würden alle anfallenden Tätigkeiten von ihm verrichtet. Im Durchschnitt sei er an drei Tagen in der Woche, täglich ungefähr zwei bis vier Stunden, tätig. Für die erbrachten Leistungen erhalte er kein Arbeitsentgelt, weil er die Arbeiten für seinen Cousin (E. K.) unentgeltlich verrichte. Er habe die Getränke frei, das Essen nehme er auf seine Kosten von zu Hause ein. Seit Ende Januar 1995 arbeite er jeden Tag von Dienstag bis Sonntag acht Stunden unentgeltlich bei freien Getränken.

Die weiteren Ermittlungen der Beklagten in der Gaststätte am 6., 7., 8. und 21. März 1995 ergaben, dass der Betreiber des Lokals E. K. sei, der in einem Beschäftigungsverhältnis bei der Firma G. und R. in R. stehe und dort in der Spätschicht von 15:30 Uhr bis 23:30 Uhr arbeite. Während der Öffnungszeiten am Mittag werde das Lokal von E. K. und erforderlichenfalls von dessen Cousin, dem Kläger, betrieben. Der Kläger halte sich dort seit Ende Juli 1994 mittags etwa eine Stunde, insgesamt täglich zwei bis vier Stunden auf. Seit 29. Januar 1995 arbeite er täglich jeweils von 16:15 Uhr bis zum Eintreffen des Betreibers um circa 24:00 Uhr. Er sei mit dem Ausschank von Getränken, Zubereiten von Speisen und Ausfahren von Pizzen beschäftigt. Er erhalte kein Entgelt, es handle sich um eine Mithilfe für die Familie.

Am 3. April 1995 meldete sich der Kläger wieder arbeitslos und erhielt auf seine Anträge ab 1. April und 10. Juli 1995 Arbeitslosenhilfe. Nach den weiteren Ermittlungen der Beklagten am 26. Juli 1995 waren die Öffnungszeiten des Lokals Dienstag bis Sonntag 16:00 bis 1:00 Uhr, Montag war Ruhetag. Bei der persönlichen Vorsprache des Klägers bei der Beklagten am 29. August 1995 bestätigte er seine Angaben, dass er in der Gastwirtschaft seines Cousins unentgeltlich aus familiären Gründen mithelfe.

Das Landratsamt S. führte am 27. März 1996 in dem Lokal eine Lebensmittelkontrolle durch und traf dort den Kläger und dessen Cousin E. K. an. Dieser gab an (bestätigt durch seine Unterschrift), er sei Erlaubnisinhaber der Gastwirtschaft, übe das Gewerbe jedoch nicht aus. Sein Cousin, der Kläger, betreibe das Lokal selbständig. Aus ausländerrechtlichen Gründen und wegen der fehlenden Berechtigung des Klägers zur selbstständigen Gewerbeausübung habe er das Gewerbe auf seinen Namen angemeldet und auch die gaststättenrechtliche Erlaubnis erhalten. Tatsächlich habe er mit dem Betrieb wegen seiner Berufstätigkeit nichts zu tun. Der Kläger teilte mit, er sei im Zeitpunkt der Kontrolle für die Wirtschaftsführung des Lokals verantwortlich gewesen. Die Verträge seien von seinem Cousin K. geschlossen und die Buchhaltung werde von diesem erledigt. Noch an diesem Tag wurde das Lokal aus lebensmittelhygienischen Gründen vorübergehend geschlossen und das Landratsamt S. zeigte den Kläger bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht A. wegen Verstoßes gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften an. Das Amtsgericht S. erließ am 8. August 1996 den rechtskräftig gewordenen Strafbefehl gegen den Kläger, mit dem er zu einer Geldstrafe von 2.400,00 DM verurteilt wurde.

Am 27. März 1996 führte die Beklagte weitere Ermittlungen durch, wobei sie wieder feststellte, dass E. K. in einem Beschäftigungsverhältnis stehe und die Gastwirtschaft nicht selbständig betreibe. Verantwortlich für den Betrieb sei der Kläger.

Die Beklagte hörte am 27. Juni 1996 den Kläger zur beabsichtigten Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe vom 29. Juni 1993 mit Unterbrechungen bis 25. Mai 1996 an und stellte eine Rückforderung der Leistungen in Aussicht. Nach Angaben von E. K. betreibe der Kläger das Lokal selbstständig, dies habe auch der Kläger am 1. April 1996 gegenüber dem Beamten des Landratsamts zugegeben. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers teilte hierzu mit, im Wesentlichen seien Bekannte und Verwandte des Gaststätteninhabers E. K. im Lokal anwesend, der Kläger sei meistens als Gast dort gewesen und habe nur in Ausnahmefällen mitgeholfen. Wegen der verwandtschaftlichen Beziehungen habe er zu keinem Zeitpunkt Entgelt dafür erhalten. Die Beklagte erstattete am 24. Juli 1996 Strafanzeige gegen den Kläger wegen Betrugs.

Sie hob mit Bescheid vom 30. September 1996 die Bewilligung von Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe in der Zeit vom 29. Juni 1993 bis 25. Mai 1996 auf und forderte von dem Kläger die Erstattung der Leistungen in Höhe von insgesamt 39.056,90 DM sowie der Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 11.024,73 DM. Der Kläger sei nach Angaben seines Cousins K. und nach seinen eigenen Angaben gegenüber den Beamten des Landratsamtes Betreiber des Lokals gewesen. Im Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung am 29. Juni 1993 sei Arbeitslosigkeit nicht mehr gegeben gewesen. Der Kläger habe hier und in den folgenden Anträgen auf Arbeitslosenhilfe seine selbstständige Erwerbstätigkeit nicht angegeben.

Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch vom 25. Oktober 1996 machte der Kläger geltend, Betreiber des Lokals sei seit 1993 E. K., er, der Kläger, sei nur Aushilfe gewesen. Im Aktenvermerk vom 8. Dezember 1996 vertrat ein Mitarbeiter des Arbeitsamts die Auffassung, die Frist für die rückwirkende Rücknahme der Leistungen von einem Jahr sei verstrichen, die Widerspruchstelle war hingegen der Ansicht, dass erst am 1. April 1996 durch den Außendienst des Landratsamtes S. der Beweis erbracht worden sei, dass die Anspruchsvoraussetzung Arbeitslosigkeit nicht vorliegen konnte. Die Handlungsfrist beginne zu laufen, wenn dem Arbeitsamt hinreichend sichere Informationen über alle, für eine zurückliegende Aufhebung berechtigende Tatsachen vorliegen und keine weiteren Ermittlungen mehr erforderlich sind. Diese Voraussetzungen seien erst am 1. April 1996 erfüllt gewesen. Die Beklagte hob spätere Bewilligungen von Arbeitslosengeld mit den Bescheiden vom 13. Mai 1997, 16. Dezember 1997 und 2. November 1998 auf.

Sie wies mit Widerspruchsbescheid vom 30. April 1997 den Widerspruch mit der gleichen Begründung wie im Ausgangsbescheid zurück. Der Kläger habe mehr als kurzzeitig (18 Stunden wöchentlich) in dem Lokal selbständig gearbeitet und die Tätigkeit nicht angezeigt. E. K. sei während dieser Zeit als Schichtarbeiter beschäftigt gewesen.

Der Kläger hat hiergegen am 2. Juni 1997 beim Sozialgericht Regensburg (SG) Klage erhoben. Er habe nicht selbständig in dem Lokal gearbeitet, Pächter und Erlaubnisinhaber sei E. K. gewesen. In dem Lokal habe dessen Familie gearbeitet, er, der Kläger, habe nur gelegentlich mitgeholfen. Das strafgerichtliche Verfahren gegen den Kläger ist am 24. Juni 1998 durch Beschluss des Amtsgerichts S. gegen Zahlung eines Geldbetrages von 1.000,00 DM vorläufig eingestellt worden.

Nach zwei Erörterungsterminen am 28. Mai 1998 und 19. Februar 1999 hat das SG in der mündlichen Verhandlung am 17. Dezember 2002 elf Zeugen, unter anderem Mitglieder der Familie K. und Mitarbeiter des Landratsamts S. vernommen. Außerdem hat das SG den Mitarbeiter der Beklagten K. als Zeugen gehört, der im Außendienst für die Betriebsprüfungen eingesetzt wurde. Bei der Kontrolle der Firma im Jahr 1995 habe der Kläger angegeben, als Aushilfskraft im Lokal tätig zu sein. Er habe dort in der Woche an drei Tagen für zwei bis drei Stunden und seit Januar 1995 täglich mit Ausnahme des Ruhetags Montag acht Stunden gearbeitet. Er habe alle anfallenden Arbeiten erledigt und hierfür nur freie Getränke erhalten. Bei der weiteren Kontrolle am 21. März 1995 sei der Zeuge E. K. in Anwesenheit des Klägers als Dolmetscher vernommen worden. In den Mittagsstunden habe E. K. das Lokal selbst betrieben und der Kläger habe hier erforderlichenfalls ausgeholfen. Seit 29. Januar 1995 (mit Ausnahme des Ruhetags) arbeite der Kläger täglich acht Stunden, d.h. von 16:15 Uhr bis zum Eintreffen von E. K. gegen 24:00 Uhr.

Das SG hat mit Urteil vom 17. Dezember 2002 die Klage abgewiesen. Die Aufhebung der Leistungsbewilligung und die Rückforderung bestünden zu Recht; der Kläger sei seit Juni 1993 in dem Lokal selbständig erwerbstätig gewesen. Arbeitslosigkeit habe nicht vorgelegen. Der Kläger sei während des gesamten streitbefangenen Zeitraums Inhaber des Lokals gewesen, sein Cousin K. habe die Rolle eines Strohmanns gespielt. Dies ergebe sich aus den Angaben des Klägers, der Gaststättenkontrollen, der Zeugeneinvernahme und dem Strafbefehl gegen den Kläger vom 8. August 2006 als Betreiber des Lokals. Bei einem Zeitaufwand von fünf bis sechs Stunden an sechs Tagen sei die wöchentliche Grenze von 18 Stunden überschritten. Vertrauensschutz stehe dem Kläger nicht zu. Von diesem Sachverhalt habe die Beklagte bereits Ende 1994 beziehungsweise Anfang 1995 Kenntnis erlangt, habe aber keine sicheren Erkenntnisse über das Bestehen von Rücknahmegründen gewinnen können. Die Tatsachen über die Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit als Betreiber der fraglichen Gaststätte seien der Beklagten schon im Juni 1993 erstmals bekannt geworden. Die Handlungsfrist für die Rücknahme beginne aber erst aufgrund der Mitteilung des Landratsamts S. vom 16. April 1996 und habe am 16. April 1997 geendet.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger am 25. April 2003 Berufung eingelegt und die Versäumung der Handlungsfrist von einem Jahr gerügt. Bereits bei der Außenprüfung im Februar 1995 habe er seine Arbeitszeiten sowie den Bezug der Arbeitslosenhilfe mitgeteilt. Damit habe die Beklagte nicht erst am 19. April 1996 Kenntnis des entscheidungserheblichen Sachverhalts erlangt. Der Kläger, der über unzureichende Deutschkenntnisse verfüge, und die Fragen bei den Kontrollen missverstanden habe, habe in diesem Lokal hin und wieder gearbeitet, jedoch nie mehr als 18 Stunden wöchentlich. Er sei nicht im nennenswerten Umfang selbständig tätig, sondern auch als Gast dort gewesen.

Im Erörterungstermin vom 30. November 2006 ist eine Zeugeneinvernahme von zwei Söhnen von E. K. erfolgt. Beide haben ausgesagt, dass der Kläger in dem Lokal mitgeholfen, aber auch seine Freizeit dort verbracht habe. Betreiberin des Lokals sei ihre Mutter gewesen.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 25. März 2003 sowie den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 30. September 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 1997 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden die Akten der Beklagten und des SG sowie Teile der Akten der Staatsanwaltschaft beim Landgericht A ... Auf den Inhalt der beigezogenen Akten und die Sitzungsniederschrift wird im Übrigen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Berufung ist begründet.

Das angefochtene Urteil und der Bescheid vom 30. September 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides 30. April 1997 waren aufzuheben, weil die Voraussetzungen für die Rücknahme der Bewilligung des Arbeitslosengeldes bzw. der Arbeitslosenhilfe im Zeitraum vom 29. Juni 1993 bis 25. Mai 1996 nicht erfüllt sind. Denn die Beklagte hat die Handlungsfrist des § 45 Abs.4 Satz 4 Sozialgesetzbuch X (SGB X) für die rückwirkende Rücknahme nicht eingehalten; außerdem ist dem Kläger aufgrund der fortgesetzten Leistungsbewilligung Vertrauensschutz zuzugestehen. Die späteren Aufhebungen der Arbeitslosenhilfe mit den Bescheiden vom 13. Mai 1997, 16. Dezember 1997 und 2. November 1998 sind nicht Streitgegenstand.

Die Beklagte hat bei der rückwirkenden Rücknahme der Bewilligung des Arbeitslosengeldes bzw. der Arbeitslosenhilfe im streitigen Zeitraum die Handlungsfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X nicht eingehalten. Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt) und rechtswidrig ist, auch nach seiner Unanfechtbarkeit nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. § 45 Abs. 2 SGB X regelt den Vertrauensschutz, der fehlt, wenn (Nr. 1) der Begünstigte den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, (Nr. 2) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder (Nr. 3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Bei fehlendem Vertrauensschutz war nach der im Zeitpunkt der angefochtenen Bescheide geltenden Regelung des § 152 Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, d.h. abweichend von der Regelung § 45 Abs. 1 SGB X lag die Rücknahme also nicht im Ermessen der Beklagten.

Gemäß § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X wird im Fall des fehlenden Vertrauensschutzes, von dem die Beklagte ausgeht, der Verwaltungsakt für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Behörde muss dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Der Auffassung des Arbeitsamts S. (Widerspruchstelle) im Aktenvermerk vom 18. Dezember 1996, die Handlungsfrist gemäß § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X sei nicht gewahrt, ist zuzustimmen. Denn der Beklagten war bereits mehr als ein Jahr vor dem 30. September 1996, also dem Zeitpunkt des Erlasses des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides bekannt, dass der Kläger seit Ende Januar 1995 trotz Bezugs von Arbeitslosenhilfe in dem oben genannten Lokal tätig war und dass der Umfang dieser Tätigkeit Arbeitslosigkeit ausschloss, weil sie nicht mehr kurzzeitig war (§§ 101 Abs. 1, 102 Abs. 1 Abs. 2 Nr. 1 AFG).

Der Einjahreszeitraum des § 45 Abs. 2 SGB X beginnt mit der Kenntnis der Tatsachen, die die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Damit sind zunächst alle tatsächlichen Umstände gemeint, die nach Maßgabe von § 45 SGB X zur tatbestandlichen Prüfung der Aufhebbarkeit des begünstigenden Verwaltungsaktes erforderlich sind. Hierzu gehören alle Tatsachen, aus denen sich ergibt, dass der begünstigende Verwaltungsakt ohne Rechtsgrund erlassen worden, also rechtswidrig ist. Nach der ständigen höchstrichterlichen Rechsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) beginnt die Jahresfrist für die rückwirkende Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes nicht eher zu laufen, als der für die Entscheidung über die Aufhebung nach der Geschäftsverteilung des Leistungsträgers zuständigen Behörde die Tatsachen zur Bearbeitung vorliegen, aus denen sich die tatbestandlichen Voraussetzungen der Aufhebbarkeit des Verwaltungsaktes ergeben. Die einjährige Ausschlussfrist beginnt jedenfalls dann, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des zurückzunehmenden Verwaltungsaktes sowie die Tatsachen hinsichtlich der weiteren Rücknahmevoraussetzungen kannte (Urteil vom 9. Juni 1988, BSGE 63,224; Urteil vom 09.09.1986, BSGE 60, 239; Urteil vom 15. Februar 1990, BSGE 66, 204).

Der Begriff Kenntnis im Sinne des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X enthält subjektive und objektive Elemente. Die den Beginn der Jahresfrist bestimmende Kenntnis liegt dann vor, wenn mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt Kenntnis voraus, dass das bei der Behörde vorhandene Wissen den Erlass eines rechtmäßigen Aufhebungs- bzw. Rücknahmebescheides ermöglicht. Dies erfordert eine hinreichend sichere Information über alle, für die Aufhebung bedeutsamen Fakten. Die Kenntnis kann aber nicht von der individuellen Einstellung des zuständigen Sachbearbeiters abhängig gemacht werden. Vielmehr kommt es auf den Standpunkt der Behörde als solcher an. Anderenfalls könnte dem Ziel der Rechtssicherheit, das in § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X zum Ausdruck kommt, nicht Rechnung getragen werden (Urteil vom 25. Januar 1994, BSGE 74, 20; Urteil vom 8. Februar 1996, BSGE 77, 295).Von der Kenntnis ist der Fall zu unterscheiden, wenn die bei der Behörde vorliegenden Tatsachen zwar objektiv eine ausreichende Beurteilung erlauben, dies jedoch nicht erkannt wird.

Im Zusammenhang mit dem subjektiven Tatbestand des § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X (Vorsatz/grobe Fahrlässigkeit) können zwar die für die Aufhebbarkeit des Verwaltungsaktes erforderlichen Tatsachen regelmäßig erst nach Abschluss der gebotenen Ermittlungen zur Einsichtsfähigkeit vorliegen, wobei der Umfang der Ermittlungen im Ermessen der Behörde liegt (Schütze in von Wulffen, SGB X, 6. Auflage, § 45, Rn. 81 m.w.N.; Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 45 SGB X, Rn. 27, m.w.N.). Nach der Rechtsprechung (BSG SozR 3-1100 § 45 Nr. 2, Nr. 5) obliegt der Verwaltung die Entscheidung, auf welche sachgerechten Umstände sie für ihr Ermessen abstellen will. Es ist aber zu berücksichtigen, dass weitere Ermittlungen dann keinen neuen Fristbeginn auslösen, wenn deren Einfluss auf die Entscheidung nicht erkennbar ist (BSG vom 11. September 1991 DBlR 3840, SGB X/§ 45).

Der Beklagten war nach der Zeugenaussage ihres Mitarbeiters K., der die Außenprüfungen durchführte, bereits bei der Prüfung im Februar 1995, spätestens jedoch am 21. März 1995 bzw. am 26. Juli 1995 bekannt, dass der Kläger in dem genannten Lokal tätig war und nach seinen Angaben alle anfallenden Arbeiten erledigte. Der Kläger hatte damals angegeben, dass er früher an drei Tagen für zwei bis drei Stunden tätig war und seit Januar 1995 täglich acht Stunden mit Ausnahme des Ruhetages. Der Mitarbeiter der Beklagten im Außendienst hatte schon am 21. März 1995 durch den Pächter, dem Cousin des Klägers (K.), erfahren, dass dieser regelmäßig in der Spätschicht von 15:30 Uhr bis 23:30 Uhr beschäftigt war, und dass er, der Kläger, seit Juli 1994 in den Mittagsstunden bei Bedarf ausgeholfen hat und seit 29. Januar 1995 täglich (mit Ausnahme des Ruhetages) acht Stunden, d.h. von 16:15 Uhr bis zum Eintreffen von E. K. gegen 24:00 Uhr dort arbeitet.

Diese Feststellungen ergeben sich auch aus den Berichten über die Außenprüfungen im Februar und März 1995. Am 24. Februar 1995 hat der Prüfer (K.) im Beiblatt zum Erfassungsbogen vermerkt, dass der Kläger nach dessen Angaben als Empfänger von Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe seit Juli 1994 je nach Arbeitsanfall als Aushilfskraft im Lokal tätig ist und seit Januar 1995 täglich außer dem Ruhetag acht Stunden in dem Lokal arbeitet. Diesen Sachverhalt hat der Prüfer ein weiteres Mal in der Aktennotiz vom 3. März 1995 festgehalten. Gleichfalls hat er damals bei der Außenprüfung festgestellt, dass der Kläger Bestellungen entgegengenommen und ausgeführt hat. Am 21. März 1995 hat der Cousin des Klägers (K.) erklärt, der als Pächter des Lokals aufgetreten ist, dass der Kläger dort mit dem Ausschank von Getränken, Zubereiten von Speisen und Ausfahren von Pizzen beschäftigt ist, und zwar während der Öffnungszeiten des Lokals mit Ausnahme der Mittagszeiten, in denen K. selbst die Arbeiten übernommen hat. Bei Bedarf hat der Kläger aber auch zur Mittagszeit mitgearbeitet. Am 21. August 1995 und 1. September 1995 hat der Kläger bei einer Vorsprache bei der Beklagten diese Angaben bestätigt.

Dass der Kläger im April und Juni 1995 wieder Arbeitslosenhilfe beantragt hat, lässt die Kenntnis der Beklagten bezüglich der für die rückwirkende Aufhebung erforderlichen Tatsachen nicht entfallen. Denn zum einen liegt der Aufhebungszeitraum im Wesentlichen vor diesen Anträgen auf Weiterbewilligung, zum anderen hat die Beklagte auch noch nach dem Antrag im Juli 1995 weiter ermittelt und hierbei im August 1995 wieder vom Kläger erfahren, dass er weiterhin in der Gastwirtschaft arbeitet.

Damit ist der Beklagten bereits seit Februar und März 1995 aufgrund der Angaben des Klägers und seines Cousins K. bekannt gewesen, dass der Kläger nicht mehr arbeitslos gewesen ist. Denn gemäß § 101 Abs. 1 S. 2 AFG ist nicht arbeitslos, wer eine Tätigkeit als mithelfender Familienangehöriger oder Selbständiger ausübt, die die Grenze des § 102 AFG überschreitet. Die Arbeitslosigkeit und damit der Anspruch auf Arbeitslosengeld entfallen also bei mithelfenden Familienangehörigen und Selbstständigen, wenn

die Mithilfe oder selbständige Tätigkeit die Grenze des § 102 AFG (weniger als 18 Stunden) überschreitet.

Es fehlt außerdem an der Grundvoraussetzung der rechtswidrigen Leistung für eine Rücknahme der Leistungsbewilligung für die Zeit vor dem 29. Januar 1995 zurück in die Vergangenheit bis zum Leistungsbeginn am 29. Juni 1993. Das Lokal "L." in A-Stadt war ein zentraler Treffpunkt und Aufenthaltsort der Familie und Freunde, in dem auch der Kläger sich von Anfang an häufig dort "aufhielt" und wegen seiner Deutschkenntnisse bei wichtigen Geschäftsvorgängen regelmäßig als mündlicher Ansprechpartner hinzugezogen wurde, sicher auch, wie in diesem Kreis üblich, anderweitig eingesprungen ist. Eine Erkenntnis über eine regelmäßige, d.h. berechenbare Tätigkeit (von wenigstens 18 Stunden wöchentlich) liegt aber erst für den Zeitraum ab 29. Januar 1995 aufgrund der eigenen Angaben des Klägers sowie seines Cousins E. K. im Februar und März 1995 vor.
Dabei stützen das Landratsamt und in der Folge auch die Beklagte und das SG ihre Annahme einer regelmäßigen über kurzzeitigen Tätigkeit des Klägers für das Lokal schon seit Leistungsbeginn ab 29. Juni 1993 im Wesentlichen auf Vermutungen. Weil E. K. weitgehend (wenn auch nicht freitags oder samstags) in Überschneidung mit den Öffnungszeiten des Lokals Schichtdienst bei der Firma G. und R. gehabt habe, habe er das Lokal nicht "selbständig führen" können. Daraus folgt nicht zwangsläufig, dass der Kläger der Erwerber und eigentliche Betreiber der Gaststätte gewesen sein müsse, der auch zu den Öffnungszeiten des Lokals in dieser Funktion ständig hätte anwesend gewesen sein müssen. Durch die lebensmittelrechtliche Kontrolle des Lokals L. am 27. März 1993, die Einvernahme des E. K. und des Klägers vor dem Landratsamt S. am 1. April 1996 und die in der Folge daraus gewonnenen Erkenntnisse in verschiedenen Verfahren ist keine für dieses Verfahren relevante neue Erkenntnis (gegenüber den Erkenntnissen von Februar und März 1995) über eine anspruchsschädliche Tätigkeit des Klägers hinzugekommen.

Es fehlen also ausreichende, zuverlässige Erkenntnisse, dass der Kläger im Zeitraum von der Arbeitslosmeldung am 29. Juni 1993 bis Ende Juli 1999 bis zu dem von ihm zugegebenen Zeitpunkt der Mithilfe im Lokal dort anspruchsschädlich gearbeitet hat, so dass insoweit nichts für die Rücknahme der Leistung spricht. Denn der Kläger, dessen Angaben für die Rücknahme der Leistungsbewilligung die wesentliche Erkenntnisquelle gewesen sind, hat über diesem Zeitraum nichts Verwertbares mitgeteilt. Im Ergebnis kommt es darauf nicht an. Auch wenn die Beklagte in freier Beweiswürdigung insoweit von einer anspruchsschädlichen Mitarbeit des Klägers ausgegangen ist, steht der Aufhebung der Leistungsbewilligung die Versäumung der Handlungsfrist entgegen (§ 45 Abs.2 Satz 2 SGB X).

Der Auffassung der Beklagten, dass der Beginn der Handlungsfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X erst am 1. April 1996 begonnen habe, weil damals erst durch den Außendienst des Landratsamts S. der Beweis erbracht worden sei, dass durch den Inhaber des Lokals E. K. der Kläger für die Führung des Lokals verantwortlich war, kann daher nicht gefolgt werden. Wer Inhaber der Konzession gewesen ist und aus welchen Gründen der Kläger sie nicht erhalten hat, ist für die Beurteilung der Frage der Tätigkeit des Klägers im Lokal "L." ebenso bedeutungslos, wie die lebensmittelrechtlichen Ermittlungen des Landratsamtes S ...

Dem Kläger steht überdies Vertrauensschutz zu, weil die Beklagte trotz Kenntnis seiner anspruchsschädlichen Arbeit aufgrund der Außenprüfung am 21.03.1995 die Leistung bis 25.05.1996 weitergezahlt hat. Auch wenn grundsätzlich Fehler auf Seiten der Behörde den Vertrauensschutz nicht stärken, wie sich aus der Existenz des § 45 SGB X ergibt, hat die ständige Rechtsprechung des BSG hiervon bei fortgesetzter Leistungsbewilligung, einem längeren Zeitraum zwischen Leistungsbewilligung und Korrektur und bei leicht vermeidbaren, groben Fehlern Ausnahmen zugelassen (BSG vom 21.06.2001, Die Beiträge Beilage 2002, 294 ff; BSG vom 05.11.1997, BSGE 81, 156, 161; BSG vom 14.11.1985, BSGE 59, 157, 164). Im vorliegenden Fall hat der Kläger, der seine Tätigkeit in dem Lokal mitgeteilt und offensichtlich nicht als anspruchsschädlich angesehen hat, Vertrauensschutz. Denn er war für die Beklagte die wesentliche Erkenntnisquelle bezüglich der Rücknahme der Leistungsbewilligung und hat der Beklagten bereits im Februar und März 1995 die entscheidungserheblichen Tatsachen seiner Arbeit für acht Stunden täglich "seit 29. Januar 1995" mitgeteilt, und im August 1995 bestätigt. Er durfte daher nach seinen Erfahrungen mit der Beklagten und der wiederholten Leistungsbewilligung davon ausgehen, dass ihm trotz seiner familienhaften Mitarbeit in dem Lokal die Leistung zusteht.

Aufgrund der hier nicht zulässigen Aufhebung der Leistungsbewilligung entfällt die Verpflichtung des Klägers zur Rückzahlung des Arbeitslosengeldes bzw. der Arbeitslosenhilfe sowie der gezahlten Krankenversicherungsbeiträge (§ 50 Abs. 1 SGB X, § 157 Abs. 3a AFG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1, 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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