S 11 RA 325/97

Berufskundekategorie
Stellungnahme
Land
Freistaat Bayern
Aktenzeichen
S 11 RA 325/97
Auskunftgeber
Landesarbeitsamt Bayern, Nürnberg
Anfrage
Unter Bezugnahme auf meine berufskundlichen Stellungnahmen vom 04.02.2000 und 12.10.2000 bitten Sie um ergänzende Stellungnahme zu der berufskundlichen Stellungnahme der BfA Berlin vom 21.12.2000.

Die Beklagte führt in ihrer Stellungnahme aus, dass nach der Einschätzung des beratungsärztlichen Dienstes der Kläger noch leichtere Arbeiten im Wechsel von Gehen und Stehen, überwiegend im Sitzen, ohne schweres Heben und Tragen, Bücken und Zwangshaltungen verrichten kann. Die volle Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand sollte nicht erforderlich sein. Kognitive Einschränkungen bestehen nicht. Die gesundheitlichen Einschränkungen machen es nicht erforderlich, dass die Arbeitgeber besondere Zugeständnisse hinsichtlich der Arbeitsplatzgestaltung machen müssten.
Auskunft
Berufskundliche Stellungnahme

In meiner Stellungnahme vom 11.02.2000 wurde nicht ausgeführt, dass die Arbeitgeber besondere Zugeständnisse nur hinsichtlich der Arbeitsplatzgestaltung machen müssten, sondern besondere Zugeständnisse wie z.B. der Restleistungsfähigkeit angepasster Zuschnitt der Aufgaben, Verzicht auf Flexibilität oder Vielseitigkeit, Änderungen am Arbeitsplatz, Herabsetzung des Arbeitstempos bzw. des erwartenden Produktivitätsgrades erforderlich sind. Weiter führte ich in meiner Stellungnahme aus, dass entsprechende Arbeitsplätze Außenstehenden daher unter den üblichen Bedingungen des Arbeitslebens in der Regel nicht bzw. nicht direkt zugänglich sind und es sich vielmehr nicht selten um vergönnungsweise Beschäftigung aufgrund sozialer Verpflichtungen handelt oder die Arbeitsplätze im Einzelfall durch besondere Vermittlungsbemühungen und Vermittlungshilfen, z.B. nicht selten erhebliche finanzielle Leistungen erschlossen wurden.

Ob es genügt, um den Kläger zumutbar zu verweisen, wenn bestehende Leistungsminderungen durch Leistungen an den Arbeitgeber z.B. vom Rentenversicherungsträger oder der Bundesanstalt für Arbeit ausgeglichen werden, kann von mir nicht beurteilt werden.

Insbesondere möchte ich nochmals auf meine Ausführungen zum Einsatz der EDV und zu den wesentlichen körperlichen Eignungsvoraussetzungen, die an einen "gehobenen" Sachbearbeiter gestellt werden, in meiner Stellungnahme vom 12.10.2000 verweisen.

Weiter führt die Beklagte in ihrer Stellungnahme vom 21.12.2000 u.a. aus, dass ein Elektromeister, der als Projektleiter auf Baustellen tätig war, Prozesskenntnisse - hinsichtlich Tätigkeiten in einer Schaltwarte - besitzen und über technische Zusammenhänge komplex informiert sein muss. Insoweit sei auch hier nicht von einer längeren als dreimonatigen Einarbeitungszeit auszugehen. Da der Kläger als Projektleiter für den Bau neuer Anlagen verantwortlich war, musste er immer auf dem neuesten Stand der Technik sein. Der Kläger hat auch zuletzt sachbearbeitenden Tätigkeiten ausgeübt, nach eigenen Auskünften seit 1995.

Für die Tätigkeiten in einer Schaltwarte sind anlagenspezifische Kenntnisse und Erfahrungen ebenso wie einschlägige Prozesskenntnisse erforderlich. Die Aufgaben in einer Schaltwarte bestehen darin, Prozesse in Gang zu setzen, deren Ablauf zu überwachen und beim Auftreten von Störungen deren Ursache zu erkennen und durch geeignete Maßnahmen zu beheben. Dazu kann der in der Schaltwarte tätige Mitarbeiter von der Schaltzentrale aus verschiedenste Parameter wie Stoffmenge, Druck, Temperatur oder Mischverhältnis verändern. Teilweise geschieht dies auch noch durch das Betätigen von Schiebern und Schaltern in der Anlage selbst, wozu die Schaltzentrale verlassen werden muss. In vielen Fällen z.B. bei diskontinuierlich ablaufenden Vorgängen ist ein ständiges Handeln erforderlich, etwa in Stahlwerken, wo bei jeder Charge dem Roheisen entsprechend dem Auftrag andere Zuschläge zugefügt werden müssen.

Um Prozesse steuern zu können, benötigt der in einer Schaltwarte tätige Mitarbeiter tiefgehende Anlagen-, Aufgaben- und Prozesskenntnisse. Z.B. sind in einem Kohlekraftwerk zur Stromerzeugung Prozesse von der Vorbereitung der Kohle zur Verfeuerung über die Verbrennung, Dampferzeugung, Verdichtung, Kühlung bis hin zur Stromabgabe und Abgaskontrolle zu überwachen. Daneben sind Prozesse hinsichtlich Entschwefelung und entstehender Neben- und Abfallprodukte etc. (z.B. Gips) zu steuern. Sobald in diesem kontinuierlich ablaufenden Prozess Parameter unzulässig abweichen (z.B. ein Temperaturwert fällt oder steigt überdurchschnittlich an, im Leistungssystem kommt es zu einem Druckabfall, der Schwefeldioxidgehalt im Rauchgas überschreitet den zulässigen Wert), muss der in einer Schaltwarte tätige Mitarbeiter die Ursache der Störung umgehend erkennen, um die richtigen Maßnahmen zur Beseitigung ergreifen zu können. Zur Vermeidung gefährlicher Anlagenzustände können Noteingriffe z.B. Notfahren der Anlage (Prozesssicherung) erforderlich werden. Diese reaktionsschnelle Analyse setzt ein hohes Maß an Erfahrung, genaue Kenntnisse des Prozessablaufes, ein hohes Maß an Entscheidungsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein voraus.

Nach Rücksprache mit einem Großkraftwerk ist der Ansatz eines Elektroinstallationsmeisters im sog. Leitstand des Kraftwerkes möglich. Nach einer ca. 1 1/4jährigen Anlernung am Kessel muss die Kesselwärterprüfung abgelegt werden. Nach weiteren 1 - 2 Jahren Anlernung an Turbinenanlagen und allen anderen Hilfs- und Nebenanlagen ist ein ca. 4-5 monatiger Lehrgang an einer Kraftwerkschule, der mit einer Prüfung abschließt, zu absolvieren. Erst danach ist ein Ansatz im Leitstand möglich bzw. verfügt der Mitarbeiter über die Berechtigung, im Leitstand zu "fahren".

Nach Rücksprache mit einem großen Energieunternehmen werden dort für eine Tätigkeit in einer Schaltwarte bzw. Netzleitstelle in der Regel keine Elektroinstallationsmeister, sondern Industriemeister Elektrotechnik angesetzt. Um in der sog. Netzleitstelle "fahrfähig" zu sein, ist ein Einarbeitungszeitraum von 6 Monaten bis zu einem Jahr erforderlich. Bis zur vollständigen Einarbeitung sind ca. 2 Jahre erforderlich. Die Einarbeitung erfolgt durch langjährige, erfahrene Mitarbeiter der Netzleitstelle. Bisher existieren für Strom, Gas, Wasser, Fernwärme eigenständige Netzleitstellen. Künftig sollen diese jedoch zu sog. Verbundleitstellen zusammengefasst werden. Dadurch werden sich die Einarbeitungszeiten für einen neueingestellten Mitarbeiter in einer Netzleitstelle verlängern.

Vor seinem Arbeitsunfall war der Kläger als Projektleiter in einem Elektro-Unternehmen (Bl. 204 Beklagtenakte) tätig. Wie bereits in meiner Stellungnahme vom 11.02.2000 angegeben, bestanden die Aufgaben des Klägers in der Projektabwicklung, Projektüberwachung vor Ort, Anleitung der Mitarbeiter und aktive Mitarbeit auf Baustellen. Er wurde als Elektromeister entlohnt.

Allgemein ist ein Projektleiter (Elektroinstallation) in einem Installationsbetrieb für folgenden Aufgaben zuständig:
- Auftragsdurchführung
- Vorbereitung und Einrichtung von Baustellen
- Verantwortliches Betreuen einzelner Projekte, Baustellen
- Abstimmen mit Bauherren, Architekten und Beratung
- Materiallagerverwaltung
- Planung, Steuerung und Überwachung des Arbeitskräfteeinsatzes
- Planung, Steuerung und Überwachung des Maschinen-, Geräte-, Fahrzeugeinsatzes
- Führen von Leistungsverzeichnissen und Leistungsbeschreibungen
- Aufmaß und Bewertung der ausgeführten Arbeiten (ggf. einschließlich Fakturieren)
- Einfacher Schriftverkehr
- Kundenberatung (einschließlich Besprechungen mit Architekten und Bauherren)

Auf Baustellen werden von einem Projektleiter (Elektroinstallation) folgende Arbeiten geplant, gesteuert und überwacht:
- Verlegung von Erdkabeln für Hausanschlüsse
- Herstellen von Installationskanälen
- Verlegen von Leerrohren und Leitungen
- Errichten elektrischer Anschlüsse, Anschließen von Verbrauchern im Starkstrom-/Schwachstrombereich

Der Kläger verfügt aufgrund seines beruflichen Werdeganges nicht über die in einer Schaltwarte erforderlichen Aufgaben- und Prozesskenntnisse. Um diese Kenntnisse zu erwerben, benötigt der Kläger weit mehr als drei Monate Einarbeitungszeit.
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