S 11 RA 325/97

Berufskundekategorie
Stellungnahme
Land
Freistaat Bayern
Aktenzeichen
S 11 RA 325/97
Auskunftgeber
Landesarbeitsamt Bayern, Nürnberg
Anfrage
Ihrer Anfrage zufolge bitten Sie unter Bezugnahme auf meine berufskundliche Stellungnahme vom 04.02.2000 um ergänzende Stellungnahme zu den Ausführungen der Beklagten im Schriftsatz vom 09.06.2000.
Auskunft
Berufskundliche Stellungnahme

Die Beklagte gibt in ihrem Schreiben vom 09.06.2000 an, dass für den Kläger durchaus eine Tätigkeit als Auftragssachbearbeiter, technischer Auftragssachbearbeiter sowie Sachbearbeiter für den Bereich Technik (Elektroinstallation) in Betracht käme. Eine Zwangshaltung an Bildschirmen entstehe nicht, da es sich um eine gehobene Sachbearbeitertätigkeit und nicht um die bloße Eingabe von Daten im Sinne einer Datentypistin handele.

Auch bei einer "gehobenen" Sachbearbeitertätigkeit erfolgt die Erledigung der Aufgaben zunehmend am Bildschirm. Aus berufskundlicher Sicht können Zwangshaltungen bei Bildschirmarbeiten nicht ausgeschlossen werden, wie bereits in meiner Stellungnahme vom 04.02.2000 angegeben. Daher führte ich auch bei der Beschreibung der kaufmännisch-technischen Tätigkeiten im Elektrogroßhandel aus, dass sich das Arbeiten an der Tastatur nicht immer auf ein Drittel der Arbeitszeit beschränken lässt.

Allgemein ist aus berufskundlicher Sicht zum Einsatz der EDV folgendes auszuführen:

Die Aufgaben und Tätigkeitsabläufe waren ohne den Einsatz von EDV so gestaltet, dass Arbeitsmaterialien und Arbeitsgegenstände sowie Informationen noch nicht zentral am Schreibtisch zur Verfügung standen und somit mehr Abwechslung in der Arbeitshaltung erforderten bzw. ermöglichten (z.B. Ordner in Schränken, in Registratur, in Zentralarchiven und Informationsbeschaffung bei Kollegen anderer Organisationseinheiten etc.). Durch die komplexen Arbeits- und Informationsmöglichkeiten am Computer (sehr leistungsfähige Hard- und Softwaregenerationen, Vernetzung und Integration) besteht immer weniger Gelegenheit, einen Haltungswechsel zu vollziehen.

An dieser Stelle möchte ich nochmals anmerken, dass u.a. wesentliche körperliche Eignungsvoraussetzungen insbesondere funktionstüchtige Arme, Hände und Finger mit ausreichender Hand- und Fingergeschicklichkeit sind. Nach dem Gutachten von Dr. ^Zirngibl^ vom 22.10.98 ist der Kläger nur noch in der Lage, Arbeiten zu verrichten, die nicht die volle Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand erfordern. In der mündlichen Verhandlung vom 22.10.98 gab Dr. ^Zirngibl^ an, dass der Kläger nur noch Tätigkeiten ausüben kann, wo sich die manuelle Bedienung auf weniger als die Hälfte der Arbeitszeit beschränkt, etwa in der Größenordnung von einem Drittel.

Die Beklagte gibt in ihrem Schriftsatz vom 09.06.2000 an, dass von meiner Seite auch bestätigt wird, dass es eine nennenswerte Anzahl von Arbeitsplätzen für diese Tätigkeit gibt. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweise ich auf meine Ausführungen auf Seite 3, letzter Absatz, in meiner berufskundlichen Stellungnahme vom 04.02.2000.

Zur Tätigkeit Nachkalkulator und Abrechner für Großprojekte fügte die Beklagte ihren Ausführungen einige Auszüge aus der "gabi" (Grundwerk ausbildungs- und berufskundlicher Informationen) bei. Bei der Berufsausübungsform eines Auftragssachbearbeiters wird in der "gabi" folgendes ausgeführt:

Als Zugangsberufe, -alternativen werden der Betriebsleiter (Elektroinstallation), der Werkstattleiter (Elektroinstallation), der Elektroinstallateurmeister oder der Vorarbeiter (Elektroinstallation) angegeben, die in (kleineren) Handwerksbetrieben ohne spezielle Abteilungen diese Tätigkeiten überwiegend übernehmen. In der "gabi" werden alle vorstellbaren Zugangsberufe, -alternativen aufgezeigt. Jedoch wird aus berufskundlicher Sicht und vermittlerischer Erfahrung in kleineren Betrieben die Kalkulation und Abrechnung, die auch der Kläger aufgrund seiner Meisterqualifikation innerhalb einer maximal dreimonatigen Einarbeitungszeit vollständig verrichten kann, vom Firmeninhaber, der in der Regel selbst Elektroinstallateurmeister ist, übernommen. Ein zusätzlich angestellter Elektroinstallationsmeister wird üblicherweise nicht beschäftigt.

In der "gabi" wird weiter ausgeführt, dass in (größeren) Betrieben mit speziellen kaufmännischen Abteilungen mit Einarbeitung/Zusatzbildung/Weiterbildung z.B. Betriebswirte des Handwerks mit fachlich entsprechendem "Vorberuf" (Elektro) einen Ansatz finden. Hinsichtlich der Einarbeitungszeit bzw. welche Zusatz- oder Weiterbildung erforderlich ist, sind in der "gabi" keine Ausführungen enthalten. Aus berufskundlicher Sicht und vermittlerischer Erfahrung benötigt der Kläger als Elektroinstallationsmeister - sofern er in größeren Betrieben einen Ansatz findet - einen längeren als dreimonatigen Einarbeitungszeitraum. Auch bei dieser Tätigkeit sind - wie bereits in meiner Stellungnahme vom 04.02.2000 ausgeführt - wesentliche körperliche Eignungsvoraussetzungen u.a. insbesondere funktionsfähige Arme, Hände und Finger mit ausreichender Hand- und Fingergeschicklichkeit.

Die Beklagte führt in ihrem Schriftsatz vom 09.06.2000 an, dass für den Kläger auch eine Tätigkeit als Maschinen- und Anlagenführer im Bereich der Energieversorgung und im Bauwesen, hier beispielsweise als Leitstandführer, Leitstandfahrer oder Leitstandwart in Betracht kommen. In dem von der Beklagten beigefügten Auszug aus der "gabi" werden diese Tätigkeiten als Beschäftigungsalternativen für einen Elektroinstallateur mit Einarbeitung/Zusatzbildung genannt.

Allgemein ist zu den in der "gabi" genannten Beschäftigungsalternativen anzumerken, dass es sich um eine nicht erschöpfende Zusammenstellung von Möglichkeiten, die im Einzelfall bei Vermittlungs-/ Umschulungs- u.ä. Bemühungen in enger Zusammenarbeit mit Betrieben, Bildungseinrichtungen und anderen Stellen initiativ geprüft werden sollen, handelt.

Zu den von der Beklagten genannten Tätigkeiten als Leitstandführer, Leitstandfahrer oder Leitstandwart ist aus berufskundlicher Sicht folgendes auszuführen:

Früher gab es dem Stand der Technik entsprechend nur kleinere, örtliche Leitstände, die z.B. von einem Schaltbrettwärter bedient wurden. Er hatte die angeschlossenen Instrumente abzulesen und die Maschinen sowie die Stoffströme durch Handregler, -schalter und -ventile zu "fahren" oder zu "steuern".

Bereits in den fünfziger Jahren begann die Entwicklung zu zentralen Leitwarten und gleichzeitig stiegen die Anforderungen an das Bedienungspersonal.

Heute sind Leitwarten in aller Regel mit Datenverarbeitungsanlagen und den dazugehörenden Geräten wie Monitoren, Druckern und einer Vielzahl optischer und akustischer Anzeigegeräte ausgestattet.

Die Anzeigengeräte in diesen Warten zeichnen die Parameter der ablaufenden Prozesse automatisch auf und senden bei Störungen akustische und optische Signale aus. Man findet solche Warten überall dort, wo kontinuierliche und diskontinuierliche Prozesse ablaufen und dabei überwacht und gesteuert werden müssen. Es gibt zentrale Warten in Kraftwerken, Stahlwerken, Walzwerken, Kläranlagen, Müllverbrennungsanlagen, Heiz- und Fernheizwerken, Kokereien, Bergwerken, Brauereien, Mühlen und Chemischen Werken (die Aufzählung ist nicht vollständig). Die Berufsbezeichnung für die Tätigkeit in der Warte ist sehr unterschiedlich. Beispielhaft seien genannt: Bediener der ...Warte, Operateur, Schalttafel-, Schaltpultwärter, Leitstandführer, Anlagenfahrer.

Charakteristische Tätigkeiten in einer Schaltwarte sind z.B.
- Kontrollieren der Anzeigengeräte am Pult und an der Wand
- Überprüfen von Abläufen in der Anlage am Bildschirm
- ggf. Informationen mittels Tastatur auf den Bildschirm holen und auswerten
- ggf. durch Bedienen von Schaltern und Reglern in den Prozess eingreifen, um ihn in die gewünschte Richtung zu steuern
- Auswerten von Computerprotokollen, Führen von Kontroll- und Schichtbüchern, Durchführen von Kontrollgängen in der Anlage, ggf. Prozessregelung direkt in der Anlage
- Ausrüsten von Druckern und sonstigen Peripheriegeräten
- Gespräche mit Vorgesetzen und Kollegen über den Prozessverlauf führen.

Da häufig Gefahren für die Bevölkerung von den Anlagen ausgehen (z.B. Kernkraftwerke, chemische Fabriken) und große Vermögenswerte betroffen sind (Anlage selbst, Chargen), werden hohe Anforderungen an die persönlichen Mindestvoraussetzungen gestellt. Die Tätigkeit des Leitstandführers erfordert eine hohe Konzentrationsfähigkeit, Selbständigkeit, Verantwortungsbewusstsein, schnelles Reaktionsvermögen und nervliche Belastbarkeit. Sie wird überwiegend im Sitzen verrichtet. Sie kann auch mit der Durchführung von Kontrollgängen verbunden sein, die ins Freie aber auch in zugige und feuchte Räume führen können. Wartungsarbeiten sind dabei durchzuführen. Es können auch Reparaturarbeiten in kleinem Umfang, insbesondere während der Nachtschicht anfallen (größere Reparaturen werden von den Betriebswerkstätten meist während der Tagesschicht durchgeführt), bei denen mittelschwere körperliche Arbeit erforderlich wird. Wegen des kontinuierlichen Verlaufs der Prozesse ist in vielen Fällen Schichtarbeit sowie Arbeit an Sonn- und Feiertagen notwendig.

Der Kläger war im Laufe seines Berufslebens als Monteur und Elektromeister/Projektleiter tätig und verfügt über keinerlei verwertbare Vorkenntnisse in diesem Bereich. Um die erforderlichen Aufgaben- und Prozesskenntnisse zu erlangen, ist mindestens von einem Einarbeitungszeitraum von sechs Monaten auszugehen. In der Praxis hat es sich jedoch gezeigt, dass die vollständige Einarbeitung über Jahre hinziehen kann. Aus berufskundlicher Sicht ist, unabhängig vom Leistungsvermögen des Klägers, keine geeignete berufliche Alternative erkennbar.
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