S 56 RJ 1052/98

Berufskundekategorie
Stellungnahme
Land
Freistaat Bayern
Aktenzeichen
S 56 RJ 1052/98
Auskunftgeber
Landesarbeitsamt Bayern, Nürnberg
Anfrage
Die bei der Rentenantragstellung 46jährige Klägerin hat von 1965 - 1969 den Beruf der Goldschmiedin erlernt und anschließend bis 1994 ausgeübt.

Nach dem wissenschaftlichen, neurologisch-psychiatrischen, sozialmedizinischen Gutachten von Dr. ^Frommelt^ vom 10.04.2000 stellt sich das Leistungsvermögen der Klägerin wie folgt dar:
- vollschichtig leichte Arbeiten
- in wechselnder Körperhaltung
- ohne schweres Heben und Tragen
- ohne monotone und sich wiederholende Bewegungen der Arme und Hände (die Hände sollten also nicht fortwährend belastet werden)

Auf Seite 21 seines Gutachtens gibt Dr. ^Frommelt^ außerdem an, dass die Klägerin durchaus im Stande ist andere Tätigkeiten ohne Anforderungen an die Hände und ständiges Stehen oder Arbeiten in Zwangshaltungen durchzuführen. Es sollte sich um einen ergonomisch geeigneten Arbeitsplatz handeln.
Auskunft
Berufskundliche Stellungnahme

Im Widerspruchsbescheid vom 24.06.1998 gab die Beklagte an, dass die Klägerin weiterhin in ihrem bisherigen Beruf als Goldschmiedin tätig sein kann. Im Schriftsatz vom 10.07.2000 nennt die Beklagte Tätigkeiten im Verkauf in Juwelier- und Schmuckgeschäften als zumutbare Verweisungsmöglichkeit.

Goldschmiedin

Goldschmiedinnen gestalten Schmuck und Geräte aus Gold. Sie formen das Metall um und bearbeiten es. Außerdem fertigen Goldschmiedinnen bewegliche Verbindungsteile an, wie z.B. Verschlüsse, Scharniere, Ohr- und Manschettenknopftechniken. Auch Umarbeiten, Reparieren und Restaurieren von Gold- und Silberwaren gehört zu ihren Aufgaben.

Goldschmiedinnen arbeiten zum größten Teil eigenständig in handwerklichen, seltener in industriellen Betrieben der Goldwaren- und -schmuckherstellung. Einzelfertigung und Reparatur dominieren im Handwerk, Kleinserienfertigung in der Industrie. Charakteristisch ist feinhandwerkliche Arbeit mit künstlerisch-gestaltenden Anteilen unter Verwendung von Werkzeugen und Kleinmaschinen.

Eine Goldschmiedin verrichtet leichte bis mittelschwere, häufig feinmotorisch anspruchsvolle Arbeiten. Sitzen überwiegt deutlich und wird in der Regel nur durch kürzeres Gehen und Stehen unterbrochen. Zwangshaltungen im Rücken-, Nacken- und Schulterbereich sind erfahrungsgemäß nicht zu vermeiden. Auch Staubentwicklung, Geruchsbelästigung und Hautbelastung ist möglich. Die Augen werden durch konzentrierte Naharbeit (z.T. mit Lupe oder Lupenbrille) angestrengt. Auch die psychische Beanspruchung durch das geforderte Maß an Konzentration, Sorgfalt, Genauigkeit, Geduld und Ausdauer ist groß. Physische Voraussetzungen sind üblicherweise vor allem ein gutes Nahseh-, Farbunterscheidungs- und räumliches Sehvermögen sowie frei bewegliche und feinmanuell geschickte Finger und Hände. Mit Nacken-, Rücken- und Kreuzschmerzen muss bei der Berufsausübung erfahrungsgemäß gerechnet werden, auch anhaltende Augenbeschwerden können ausgelöst werden. U.a. bei Behinderungen der oberen Extremitäten (einschl. der Finger) sowie der Wirbelsäule wird von Nichteignung ausgegangen. Die Klägerin ist aus berufskundlicher Sicht den Anforderungen und Belastungen des erlernten und ausschließlich ausgeübten Berufes nicht mehr in ausreichendem Maße gewachsen.

Tätigkeiten im Verkauf in Juwelier- und Schmuckgeschäften

Die Beklagte verweist die Klägerin im Schriftsatz vom 10.07.2000 auf Tätigkeiten in diesem Bereich. In Ihrer Anfrage geben Sie an, dass Ihres Erachtens dabei zu beachten ist, dass der medizinische Sachverständige bei der Klägerin an den Fingern der rechten Hand sensible Ausfälle festgestellt hat.

Üblicherweise wird für Tätigkeiten im Verkauf in Juwelier- und Schmuckgeschäften eine abgeschlossene Ausbildung als Kaufmann/frau im Einzelhandel - Fachbereich Uhren, Schmuck, Juwelen, Gold- und Silberwaren (3jährige Ausbildung) vorausgesetzt. Neben warenkundlichem Wissen (Marktüberblick, Sortimentskenntnisse, Funktionsweise, Eigenschaften der Produkte) sind auch kaufmännische und verkaufstechnische Kenntnisse und Fertigkeiten erforderlich. Ein Ansatz einer Goldschmiedin ist aufgrund der verwertbaren Kenntnisse denkbar.

Tätigkeitsschwerpunkt von Verkäufern von Uhren, Schmuck, Gold- u. Silberwaren ist das Zeigen bzw. Vorlegen von Uhren, Schmuck, Edelsteinen, Juwelen oder Gold- und Silberwaren. Sie weisen auf Besonderheiten der Herstellung, Verarbeitung oder Stilrichtung hin und beraten Kunden und Kundinnen über Verwendungszweck oder Kombinationsmöglichkeiten der Ware.

Vorausgesetzt wird Zuverlässigkeit (Umgang mit Geld und Schmuck), Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit (wechselnde Kunden und Kundenwünsche), Kontaktbereitschaft und -fähigkeit (Umgang mit Kunden, Außendienstmitarbeitern und Lieferanten) gepflegtes äußeres Erscheinungsbild, gute Umgangsformen und sicheres Auftreten.

Für eine Tätigkeit im Verkauf wird u.a. Funktionstüchtigkeit der Wirbelsäule, Arme und Beine, Fähigkeit zu beidhändigem Arbeiten, Hand- und Fingergeschicklichkeit vorausgesetzt.

In guten Fachgeschäften ist bei ausführlicher Kundenberatung zum Teil zeitweise Sitzen möglich, Gehen und Stehen überwiegt aber sehr stark. In Schmuckabteilungen von Kaufhäusern o.ä. ist erfahrungsgemäß (nahezu) keine Gelegenheit zum Sitzen gegeben. Die Leistungseinschränkungen der Klägerin können bei Tätigkeiten im Verkauf in Juwelier- und Schmuckgeschäften nicht ständig und in vollem Umfang berücksichtigt werden.

Aus berufskundlicher Sicht ist in diesem Bereich keine geeignete berufliche Alternative erkennbar.

Gedacht werden könnte noch an eine Tätigkeit als Pförtnerin. Eine Pförtnertätigkeit kann Aufgaben aus den Bereichen Personalkontrolle und Ausweiswesen, Besucherempfang, Schlüsselverwahrung bzw. Verwaltung von Schließanlagen und Überwachung des Kfz- und Warenverkehrs sowie sonstige Aufgaben in verschiedenen Kombinationen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten beinhalten. Nicht selten handelt es sich um Arbeitsplätze, die die Rücksichtnahme auf diverse Leistungseinschränkungen gestatten, so dass sie auch für leistungsgeminderte Arbeitskräfte in Frage kommen. Sie sind zwar häufig der innerbetrieblichen Besetzung durch langjährige, leistungsgewandelte Beschäftige vorbehalten, in nennenswertem Umfang aber auch Außenstehenden zugänglich. Meist genügt Belastbarkeit für leichte Arbeiten. Weitaus überwiegend ist Schichtarbeit (zumindest Früh- und Nachmittagsschicht, zum Teil rund um die Uhr, auch am Wochenende, u.U. mit auf 12 Stunden verlängerter Arbeitszeit) anzutreffen. Sogar Zeitdruck ist - im Wechsel mit Zeiten relativ monotoner Tätigkeit - möglich (z.B. hoher Besucherandrang; Arbeitsbeginn, - ende, Schichtwechsel); auch andere Stressbelastungen (z.B. Gefahrensituationen, ggf. Auseinandersetzungen mit Besuchern oder Mitarbeitern o.ä.) sind nicht völlig zu vermeiden. Vorausgesetzt wird üblicherweise Kontaktfähigkeit, Höflichkeit, Merkfähigkeit, Flexibilität, sicheres Auftreten oder sogar Durchsetzungskraft und die Fähigkeit zu situationsgerechtem und schnellem Handeln bei außergewöhnlichen Vorfällen, wozu auch ein gewisses Maß an neurovegetativer und psychischer Belastbarkeit erforderlich ist. Überwiegend handelt es sich um Alleinarbeit, so dass auf die ständige Anwesenheit und Aufmerksamkeit nicht verzichtet werden kann.

Frauen üben eine derartige Tätigkeit jedoch erfahrungsgemäß meist in der Funktion einer Empfangsdame aus. Kunden- oder Besucherempfang und
- Weiterleitung sowie Auskunft- erteilung sind jedoch auch hier oft nicht die einzigen Tätigkeitsinhalte, sondern es sind vielfach auch andere Arbeiten wie Telefonvermittlung, Ablage, Kartei-, Schreib- oder sonstige einfache Büroarbeiten mit zu verrichten, die zusätzlich zum Teil einschlägige Kenntnisse und Fertigkeiten (z.B. kaufmännische, Schreibmaschinen-, Textverarbeitungs-, EDV- oder aber auch Fremdsprachenkenntnisse) erfordern. Besonderes Augenmerk wird in der Regel außerdem auch auf das äußere Erscheinungsbild gerichtet.

Ein Einarbeitungszeitraum von maximal drei Monaten dürfte aufgrund des beruflichen Werdeganges der Klägerin für diese Tätigkeit nicht genügen.

Hinsichtlich der physischen und psychischen Belastungen sind erfahrungsgemäß nicht selten gewisse Unterschiede im Vergleich zur Pförtnertätigkeit festzustellen. Sitzen überwiegt meist deutlicher, auch Zwangshaltungen sind möglich, wenn z.B. häufiger oder länger Schreibmaschinenschreiben oder Arbeit am Computer verlangt wird. Dafür ist üblicherweise nicht oder in sehr viel geringerem Umfang mit Schichtarbeit, ungünstigen Umgebungseinflüssen, Gefahrensituationen u.ä. zu rechnen. Da die Klägerin jedoch nur Arbeiten in wechselnder Körperhaltung, ohne monotone und sich wiederholende Bewegungen der Arme und Hände (die Hände sollten also nicht fortwährend belastet werden) verrichten kann, ist auch in der Tätigkeit einer Empfangsdame keine gesundheitlich zumutbare Verweisungstätigkeit erkennbar.

Mitarbeiterin in der Poststelle von Behörden und Firmen

Als weitere berufsfremde Alternative wurde noch die Tätigkeit einer Mitarbeiterin in der Poststelle von Behörden und Firmen geprüft. Sofern die Post nicht zusätzlich vom Postamt geholt werden muss, sind die eingehenden Sendungen (z.B. Postsäcke, - körbe, -pakete) einschließlich der Hauspost (z.B. auch Akten) anzunehmen und zu öffnen. Der Inhalt muss entnommen, auf Vollständigkeit geprüft, großteils mit einem Eingangvermerk sowie - nach Feststellung des Empfängers - mit einem Weiterleitungsvermerk versehen und entsprechend sortiert werden. Die Verteilung im Haus wie auch das Einsammeln der Ausgangspost kann von den Mitarbeitern der Post miterledigt werden oder Boten übertragen sein. Üblicherweise ist jedoch die Ausgangspost zu sortieren, zu kuvertieren bzw. zu verpacken, korrekt zu frankieren und zur Abholung in Säcken, Körben o.ä. bereitzustellen oder ggf. auch selbst zum Postamt zu befördern. Verschiedentlich sind bei der Tätigkeit Maschinen (z.B. Brieföffnungs-, Kuvertier-, Frankiermaschinen) zu bedienen. Die Arbeiten erfordern in der Regel gelegentlich mittelschwere Belastbarkeit, vor allen Dingen im Hinblick auf die zu bewegenden Lasten. In diesem Zusammenhang wird auch Bücken verlangt. Ein Wechsel der Körperhaltung ist möglich, wobei Gehen sogar in beachtlichem Umfang, u.U. einschließlich Treppensteigen, anfällt, wenn die Post auch ausgetragen und eingesammelt wird. Die Tätigkeit einer Mitarbeiterin in einer Poststelle ist sowohl in der Wirtschaft als auch im öffentlichen Dienst keinesfalls grundsätzlich auf der Ebene der qualifizierten Anlerntätigkeiten angesiedelt, sondern nach Schwierigkeitsgrad gestaffelt ab der untersten Ebene der Angestelltenberufe zu finden, z.B.

- Bundesentgelttarifvertrag für die Chemische Industrie:
Entgeltgruppe E 1 = kurze Einweisung = Verteilen von Post,
E 2 = Berufspraxis von bis zu 13 Wochen = Sortieren und Verteilen von Post,
E 3 = Berufspraxis von 6 bis 15 Monaten = Postabfertigen;

- Gehaltstarifvertrag für die Angestellten des Speditions- und Transportgewerbes in Bayern:
Gehaltsgruppe 1 = Einweisung am Arbeitsplatz = Postabfertiger, Gehaltsgruppe 2 = Berufsausbildung = Postabfertiger

- BAT VerGr X = Hilfsleistung bei der Postabfertigung,
VerGr IXb = Postabfertigen,
VerGr VIII = schwierigere Tätigkeit (im Vergleich zu den vorgenannten).

Unabhängig davon verfügt der Kläger über keinerlei verwertbare Vorkenntnisse. Daher ist aus berufskundlicher Sicht davon auszugehen, dass sie die Ebene der qualifizierten Anlerntätigkeiten nicht im Rahmen einer maximal dreimonatigen Einarbeitung erreichen kann.

Telefonistin

Gedacht werden könnte noch an die Tätigkeit einer Telefonistin, die zwar von einer Ungelernten - wenn nicht andere Arbeiten mit erledigt werden müssen oder zur Auskunftserteilung umfangreiches Wissen erforderlich ist - in der Regel innerhalb von drei Monaten erlernbar ist, jedoch aufgrund ihrer Einstufung in verschiedenen Tarifverträgen mindestens der qualifiziert Ange-lerntenebene zuzuordnen ist. Die Tätigkeit einer Telefonistin ist körperlich leicht, wird aber ausschließlich im Sitzen, keinesfalls in wechselnder Körperhaltung ausgeübt. In der Regel erfolgt die Vermittlung der Gespräche per Tastatur und Bildschirm. Bildschirmarbeit wird u.U. in ausgeprägt statischer Haltung verrichtet. Zumindest eine Hand muss so geschickt und belastbar sein, dass die Verbindung schnell und korrekt hergestellt, ggf. Nachrichten notiert und z.T. Gebührenaufzeichnungen geführt bzw. Abrechnungen vorgenommen werden können. Neben Voraussetzungen wie Höflichkeit, Flexibilität, Merkfähigkeit, Sprachgewandtheit mit möglichst angenehmer Stimme etc. wird außerdem ein gewisses Maß an psychischer Belastbarkeit (u.a. für Arbeit unter Zeitdruck) erwartet. Aus berufskundlicher Sicht ist der Klägerin auch eine Telefonistinnentätigkeit aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen nicht mehr uneingeschränkt zumutbar.

Verweisungstätigkeiten auf der Ebene der Facharbeiterberufe oder qualifizierten Anlerntätigkeiten oder der tariflich entsprechend bewerteten Tätigkeiten, die die Klägerin mit ihrem Restleistungsvermögen noch verrichten könnte, in die sie sich in max. drei Monaten einarbeiten könnte und für die eine nennenswerte Zahl von auch Außenstehenden unter den üblichen Bedingungen des Arbeitslebens zugänglichen Arbeitsplätzen existiert, können aus berufskundlicher Sicht nicht benannt werden.
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